Militär | Nummer 200 - Februar 1991

Die Raketen und die Ethik

Sofía Montenegro

Es kann keinen Zweifel darüber geben, da? die SalvadorianerInnen das unabän­derliche Recht haben, sich gegen die kriminellen Bombardements des Heeres die­ses Landes zu verteidigen. Zweifellos auch, da? die FMLN das Recht hat, sich die Waffen zu beschaffen, die sie braucht. Unsere Solidarität mit dem salvadoriani­schen Volk ist nicht nur eine Pflicht, sondern ebenfalls ein Recht. Ich glaube, da? alle Revolutionäre […] in diesen Punkten übereinstimmen.
Aber aus meiner Sicht verwechseln in der Frage der Raketen einige Compañe­ros/as das Gerechte mit dem Legalen, denn es wurde aus der Prämisse argu­mentiert, da? der Zweck die Mittel heilige.
In den Diskussionen und Meinungsäu?erungen, die ich zu diesem Thema mitbe­kommen habe, hei?t es, da? dieses Abziehen der Raketen vom EPS moralisch korrekt sei, auch wenn es illegal ist, weil: a) die Sache gerecht ist, und b) es eine gemeinsame Aktion von eindeutig glaubwürdig revolutionären Persönlichkeiten ist. Die zusätzlichen Argumente beziehen sich grö?tenteils auf die Umstände, in denen sich sowohl FSLN als auch FMLN befinden, die doppelte Moral der Yan­kees, den bürgerlichen Charakter dieser Regierung, die Kriminalität der Cri­stiani-Regierung etc. Viele dieser Argumente sind vernünftig, auch gerecht, aber diese Logik hat paradoxerweise zu einer Verurteilung der Reaktion des EPS als ungerecht und unmoralisch geführt.
Betrachten wir das Geschehene an sich. War es angesichts der tiefgehenden brü­derlichen und solidarischen Verbindungen zur FMLN ethisch richtig, das EPS zu berauben? Ist es moralisch korrekt, da? ein Guerilla-Heer die Souveränität eines Nachbarlandes verletzt, die durch ein anderes revolutionäres Heer garantiert wird? Was ist mit dem politisch-moralischen Verantwortungsbewu?tsein der FMLN-Militantes gegenüber den Interessen der nicaraguanischen Revolution? Wo ist der gebotene Respekt gegenüber den Verantwortlichkeiten, Entscheidun­gen und allgemeinen Umständen der FSLN und des EPS?
Ich frage mich, was viele Compañeros/as wohl denken würden, wenn Mitglieder der FSLN nach Havanna gingen, um den revolutionären Streitkräften Kubas Waffen abzuziehen. Niemand würde auch nur daran denken, da? so etwas ge­schehen könnte! Alle Welt würde es für eine totale Respektlosigkeit und einen Mangel an Loyalität halten. Und: Alle Welt würde die absehbare kubanische Re­aktion auf so eine Geschichte verstehen. Warum also denken einige, da? so eine Aktion gegen das EPS legitim wäre?
Meiner Meinung nach spiegeln sich darin tiefe Zweifel der sandinistischen Mit­gliedschaft gegenüber der revolutionären Führung unter den neuen politischen Bedingungen nach der Wahlniederlage wieder. Diese Haltung mu? ein Denk­zettel für die Führung über die Notwendigkeit der Kommunikation, Transpa­renz, Information und Analyse sein, die die revolutionären Kräfte verlangen.
[…] Ein politisches, juristisches und ein Problem internationaler Beziehungen ist zu einer ideologischen Frage geworden, wo die Bewertung des Raubes der Waf­fen zum Hauptkriterium der Bewertung des politischen Engagements und der revolutionären Militanz wird, und wo die ?bereinstimmung mit den Prinzipien das Ma? für die Aktion einer Gruppe ist, die offen gegen das Gesetz und gegen die Interessen der Partei, der sie angehören, durch eine für die nicaraguanische und salvadorianische revolutionäre Bewegung kontraproduktive Aktion ver­stö?t. Man kann nicht die Prinzipien bemühen, wenn man gleichzeitig mit den normalen Umgangsformen zwischen revolutionären Organisationen bricht.
Der Volkswillen und die revolutionäre Aktion haben einen Rechtsstaat geschaf­fen, der von allen respektiert werden mu?, aber vor allem von den Revolutio­nären. Den Rechtsstaat nicht zu respektieren, ist Doppelmoral. Wir können nicht Doppelmoral der Revolutionäre rechtfertigen und die der Feinde verurteilen.
Die Prämisse, da? der Zweck die Mittel heilige, führt nur zum Relativismus und schlie?lich zur Konfusion. Schlimmer noch, sie führt zu dem, was wir alle be­fürchten: Zur Aufgabe der Prinzipien.

Sofía Montenegro in Barricada, 9.1.1991

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