Mexiko | Nummer 301/302 - Juli/August 1999

„Die Regierung der Indigenas sind die bewaffneten Gruppen“

nterview mit Hermelinda Tiburcio Calletano, Präsidentin einer autonomen Gemeinde in Guerrero/Mexiko, über Wahlbetrug, Guerilla und Autonomie von Frauen und Indigenas

Stefanie Kron, Berenice Hernandez

Wie kam es zur Autonomie-Erklärung der indigenen Bevölkerung von „Rancho Nuevo de Democracia“?

1995 besetzten einige Genossen den Gemeindesitz Tlacuache (Rancho Viejo) im Bundesstaat Guerrero. Sie forderten von der Regierung den Bau von Straßen, Gesundheitsposten, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Die Besetzung dauerte sieben Monate blieb aber erfolglos. Aus diesem Grund riefen die Genossen am 16. Dezember 1995 die „Unabhängigkeit einer autonomen, indigenen Gemeinde“ aus. Das Gebiet umfaßt 30 Dörfer und heißt heute „Rancho Nuevo de Democracia“. „Rancho“ nennen wir den Ort, weil es ein Gutshof ist; „Nuevo“, weil sich dort etwas Neues entwickeln soll, und „Democracia“, weil wir wollen, daß es eine demokratische Gemeinde ohne Kaziken (lokale Machthaber/Grundbesitzer) wird.

Wie ergeht es einer Frau, die Präsidentin einer autonomen Gemeinde ist?

Am Anfang glaubte ich nicht, daß sie mich wählen würden. Erstens, weil ich eine Frau bin und zweitens, weil es viele andere ältere Genossen mit mehr Erfahrung gibt. Ich bin erst 22 Jahre alt. Um die fehlende Erfahrung auszugleichen, ernannte ich einen Ältestenrat, bestehend aus Frauen und Männern. Probleme habe ich vor allem mit einigen meiner Genossen, weil es ihnen eigenartig vorkommt, daß eine Frau – noch dazu eine junge unverheiratete Frau ohne Kinder – daherkommt, die Dinge entscheidet und Versammlungen anführt. Ich antwortete ihnen, daß ich kam, um den Vorsitz der Gemeinde zu führen, weil sie offensichtlich dazu nicht fähig sind – ansonsten hätten sie ja wieder einen Mann zum Präsidenten gewählt. Es sind übrigens hauptsächlich Männer, die mich kritisieren. Die meisten Frauen hingegen unterstützen mich sehr. Im Grunde bin ich sehr zufrieden mit der Entwicklung der autonomen Gemeinde.

Was bedeutet Autonomie? Wie siehst du das Verhältnis zwischen indianischer Autonomie und der Autonomie von Frauen?

Die Autonomie, wie wir Indigenas sie uns vorstellen, existiert eigentlich nicht. Die mexikanische Regierung sagt: „Die Indigenas sind Separatisten, sie wollen sich vom mexikanischen Staat absondern.“ Aber das ist nicht unser Verständnis von Autonomie. In unseren Vorstellungen von Autonomie wollen wir die Macht zu eigenen Entscheidungen haben, unsere Autoritäten selbst und demokratisch ernennen, über unsere Naturvorkommen bestimmen und selbst entscheiden, wir wir arbeiten und uns politisch organisieren. Wir streben keinen unabhängigen Staat an.
Innerhalb der indigenen Gemeinschaften kommt es oft vor, daß indigenen Genossen, die einflußreiche Posten innehaben, beginnen, die indigenen Frauen noch stärker zu marginalisieren. Sie sagen: „Wenn du Frau bist, dann wasche meine Kleider und bringe mir das Wasser, weil das die indigenen Bräuche vorsehen.“ Die Männer wollen Autonomie, aber sie verstehen nicht, daß dazu auch die Autonomie der Frauen gehört. Es ist ein Kampf, den wir auch gegen die eigenen Genossen führen müssen, damit wir unseren Weg gemeinsam gehen können. Beim Kampf der Frauen geht es nicht um Gleichberechtigung, sondern um Gleichheit.

Wie nutzt du dein Präsidentinnenamt zur Umsetzung solcher Vorstellungen?

Alle wichtigen Entscheidungen werden über Abstimmungen in Vollversammlungen getroffen. Wir bereiten die Leute auf die Abstimmungen vor. Da viele nicht schreiben und lesen können, ersetzen wir die Texte für die Abstimmung durch Symbole, die wir vorher erklären. Früher haben die Frauen nicht an den Versammlungen teilgenommen. Als ich das Amt als Präsidentin von Rancho Nuevo übernahm, war die Einbindung von indigenen Frauen noch sehr schwierig. Doch dann begannen sie, sich zu organisieren. Zunächst einigten sie sich darauf, gemeinsam ein Kunsthandwerk-Projekt zu betreiben, das von einer Nichtregierungsorganisation unterstützt wird. So begannen die Frauen, zusammen zu arbeiten und sich auch darüber hinaus zu organisieren. Die Partizipation der Frauen ist außerdem häufig durch die eigenen Männer behindert, die der Auffassung sind, daß nur Männer Entscheidungen treffen können. Aber seit die Gemeinde autonom ist, sind die Mehrheit der Anwesenden in den Versammlungen Frauen.

Haben Frauen in der autonomen Gemeinde auch ökonomische Gleichheit?

In dieser Hinsicht ist noch nicht soviel erreicht worden. Für den Zugang zu Land sind ausschließlich die Ehemänner zuständig. Witwen übernehmen den Landbesitz des verstorbenen Ehemannes, aber für alleinstehende Mütter ist die Situation nach wie vor prekär. Land für Frauen zu fordern ist schwierig, da es ein Kampf gegen die indigenen Traditionen und Bräuche ist. Doch ebenso wie die moderne Technologie, werden sich auch die Bräuche der Indigenas weiter entwickeln.

Welche Auswirkungen hat euer Beispiel auf andere Gemeinden in der Region?

Die Erfahrungen unserer autonome Gemeinde haben einen Vorbildcharakter für die Umgebung. Außerdem hat die Idee der Autonomie an Bedeutung gewonnen, als die Zapatisten zu Jahresbeginn nach Guerrero kamen, um die Volksbefragung (Consulta) durchzuführen. Die Idee der Autonomie ist für viele Menschen etwas Konkretes, zum Anfassen geworden. Vertreter aus anderen Dörfern sind zu uns gekommen, um sich wegen ihrer eigenen Autonomie- Erklärung beraten zu lassen. Insgesamt bereiten etwa 18 weitere Gemeinden in Guerrero ihre Autonomie vor. Dies ist ein Prozeß, der inzwischen als reale Alternative zu den herrschenden Verhältnissen in Guerrero gesehen wird.

Wie ist die politische Situation nach der jüngsten Wahl?

Es gibt viele Hindernisse bei der Umsetzung unserer Autonomie. Zum Beispiel lehnen wir staatliche finanzielle Unterstützung ab. Wir finanzieren uns über eigene Arbeit und Kooperation mit anderen Gemeinden, haben aber mit gravierenden ökonomischen Problemen zu kämpfen. Da wir die einzige autonome Gemeinde in Guerrero sind, ist die staatliche Repression und Militarisierung in unserer Gegend besonders stark. Das Militär hat einen Stützpunkt am Eingang von Rancho Nuevo errichtet. Wir können uns nicht frei bewegen, sondern werden regelmäßig vom Militär kontrolliert und schikaniert, wenn wir den Ort verlassen oder betreten wollen.
Die neue Regierung stellt die Regierungspartei PRI, doch ihr Kandidat Rene Juarez Cisneros konnte nur durch einen offensichtlichen Wahlbetrug gewinnen. Da die derzeitigen Machthaber in Guerrero nicht rechtmäßig gewählt wurden, müssen sie vom Militär begleitet und geschützt werden. Inzwischen hat die Unterdrückung Andersdenkender zugenommen, sogar Militärhilfe aus anderen Bundesstaaten wurde angefordert, um den Amtsantritt zu schützen. Eigentlich gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Militär, Regierung oder Kaziken.

Wie denkst du über die Guerilla EPR?

Einige unserer Genossen sind im Gefängnis, sie werden beschuldigt, Mitglieder der EPR zu sein. Wir glauben, daß die Regierung nur auf solch einen Widerstand reagiert, Dialog und friedliche Proteste scheinen nichts zu bringen. Heute wissen wir: Wenn du keine Waffen trägst, wird das Militär dich einfach fertigmachen. Deshalb ist es besser, eine Waffe zur Selbstverteidigung zu tragen.
Für uns ist die Guerilla etwas ganz Natürliches, wir haben eine lange Geschichte mit bewaffneten Bewegungen. Obwohl die EPR als Guerilla nicht so anerkannt ist wie die EZLN in Chiapas, ist die Präsenz der Guerilleros für uns ganz normal. In Guerrero gibt es in jedem Dorf eine bewaffnete Gruppe. Nur die mexikanische Regierung hat Angst vor der Guerilla und verteufelt sie. Meiner Ansicht nach sind die bewaffneten Gruppen das Rückrat der Indigenas. Sie unterstehen nicht der mexikanischen Regierung, die Regierung der Indigenas sind die bewaffneten Gruppen.

Interview: Stefanie Kron und Berenice Hernandez

KASTEN:
Hermelinda Tiburcio Calletano ist Präsidentin von „Rancho Nuevo de Democracia“, der einzigen autonomen Gemeinde im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Autonome Gemeinden sind darüber hinaus nur in Chiapas seit dem Auftauchen der Befreiungsbewegung EZLN von indigenen Gemeinschaften ausgerufen worden.
Guerrero blickt auf eine lange Geschichte linker Befreiungs- Bewegungen zurück und gehört, neben Chiapas und Oaxaca, zu den ärmsten Bundesstaaten Mexikos mit dem höchsten indigenen Bevölkerungsanteil. Derzeit agiert dort vor allem die EPR (Revolutionäre Armee des Volkes). Ähnlich wie in Chiapas verschärfte die mexikanische PRI-Regierung in den vergangenen Jahren auch in Guerrereo die Repression gegen jedwede oppositionelle Organisierung, vor allem gegen die indigene Bevölkerung, und militarisierte die Region.
Seit einem massiven Wahlbetrug bei den Gouverneurswahlen Anfang 1999 ist die Situation besonders angespannt. PRD-Kandidat Salgado, der nach eigenen Angaben die Wahl gewann, sich jedoch dem PRI- Kandidaten Rene Juarez Cisneros knapp geschlagen geben mußte, rief die Bevölkerung zum friedlichen Protest auf. Die EPR erklärte, daß sie eine „bewaffnete Abstimmung und Entscheidung des Volkes“ über den zukünftigen Gouverneur von Guerrero unterstützen würde.

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