Nummer 480 - Juni 2014 | Venezuela

„Die Regierung hätte bereits vor Jahren handeln müssen“

Interview mit dem Soziologen Edgardo Lander über die Krise in Venezuela

Venezuela durchlebt unruhige Zeiten, die durch Proteste der rechten Opposition und massive wirtschaftliche Probleme geprägt sind. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit dem venezolanischen Soziologen Edgardo Lander über die oppositionelle Studierendenbewegung, den zaghaften Dialog zwischen Regierung und Opposition und die Fallstricke des Erdölmodells.

Interview: Tobias Lambert

Die Proteste in Venezuela sind mittlerweile merklich abgeflaut, vereinzelt kommt es jedoch nach wie vor zu Gewalt. Welches Kalkül steckt hinter den anhaltenden Aktionen kleinerer Oppositionsgruppen?
Den Sektoren der Opposition, die am weitesten rechts stehen, geht es einerseits darum, innerhalb der Opposition die Hegemonie zu erreichen und andererseits um gewaltsame Konfrontation mit der Regierung. Auch wenn es nur eine Minderheit war, die Molotow-Cocktails geschmissen und Busse oder Gesundheitszentren angezündet hat: Das Ziel war offensichtlich eine Reaktion der Regierung zu provozieren, um diese international als autoritär darzustellen. Und die Regierung hat auf die Gewalt geantwortet, wie das für Regierungen üblich ist: mit Repression. Nicht in einem Ausmaß wie dies frühere Regierungen getan hätten, aber es gibt viele Berichte von Übergriffen. Wer im einzelnen für die Toten verantwortlich ist, ist schwer zu sagen. Es sind Menschen aus beiden politischen Lagern und auch Sicherheitskräfte ums Leben gekommen.

Während die Regierung die Protestierenden im Februar pauschal als Faschist_innen beschimpft hat, sprechen Oppositionelle von Studierenden, die für die Freiheit kämpfen. Wer sind eigentlich die Menschen, die auf die Straße gehen?
Die Protestierenden sind weder friedliche, unschuldige Studierende noch faschistische Banden. Die Welt ist nicht so einfach. Die Demonstrationen gingen vor allem von der Mittelschicht aus, mit einem deutlichen studentischen Anteil. Sie fanden überwiegend in Wohngegenden statt, in denen die Opposition regiert. Während es im Osten von Caracas beispielsweise gewalttätige Auseinandersetzungen gab, ging das Leben im Westen der Stadt völlig normal weiter, genauso wie in anderen ärmeren Vierteln im gesamten Land. Man muss wissen, dass die Studierenden an den traditionellen öffentlichen und den privaten Universitäten vorwiegend der Mittelschicht entstammen, während die unteren Schichten auf der neu gegründeten Bolivarianischen Universität studieren, die heute die Mehrheit der Studienplätze stellt.

Bereits 2007 traten oppositionelle Studierende im Vorfeld des Verfassungsreferendums massiv in Erscheinung. Was treibt die Bewegung an?
Für die Proteste der Studierenden gibt es Gründe. Zum einen haben wir eine Regierung, die in grundlegenden politischen Bereichen ineffizient ist. Venezuela hat heute in Lateinamerika die zweithöchste Mordrate nach Honduras. Die hohe Inflation und der Mangel an bestimmten Waren führen zu permanenter Unzufriedenheit. Und ein bedeutender Teil der venezolanischen Bevölkerung hat das chavistische Projekt immer als Bedrohung wahrgenommen. Hier verbindet sich bei jungen Menschen in der Mittelschicht ein traditioneller Antikommunismus mit dem verbreiteten Gefühl, in diesem Land keine Zukunft zu haben. Das Gefühl, dass das Land ihnen gehörte, es ihnen aber weggenommen wurde.

Unter Vermittlung der Union Südamerikanischer Staaten (Unasur) haben Regierung und der moderate Teil der Opposition im April einen politischen Dialog begonnen. Nach mehreren Treffen liegt dieser aber vorerst auf Eis. Haben diese Gespräche überhaupt noch Aussichten auf Erfolg?
Das Problem ist, dass beide Verhandlungspartner unter enormem Druck aus den eigenen Reihen stehen. Die radikalen Sektoren der Opposition versuchen den Dialog zu sabotieren. Die Regierung hingegen hat keinen finanziellen Spielraum mehr, um politische Initiativen zu ergreifen. Maduro mangelt es im Gegensatz zu seinem Vorgänger Chávez an Charisma, um den Chavismus insgesamt von diesem Dialog zu überzeugen. Viele sagen, warum verhandeln sie mit der Opposition und nicht mit der Bevölkerung? Am Tisch sitzen also zwei Verhandlungspartner, denen auf die eine oder andere Weise die Arme gebunden sind.

Der Erdölpreis ist momentan recht stabil, wieso ist der finanzielle Spielraum der Regierung so eng geworden?
Der venezolanische Staat ist überdehnt, was seine finanziellen Verpflichtungen angeht. Die Sozialpolitiken und die Verstaatlichungen werden stetig ausgeweitet und führen zu neuen Forderungen. Gleichzeitig braucht der Staat immense Summen, um in den Erdölsektor zu investieren. Die Schuldenquote Venezuelas ist nicht zu hoch, aber eine weitere Neuverschuldung nur zu sehr hohen Zinsen möglich. Das heißt nicht, dass Venezuela kein Erdöl mehr fördern kann oder die Wirtschaft zusammenbricht. Aber ich glaube, dass die Erdöllogik in der aktuellen Krise an ihr Ende gelangt. Die wichtigste und schwierigste Herausforderung für Venezuela ist die Frage, wie wir den Fallstricken des Erdölmodells entkommen können, das seit hundert Jahren in Venezuela vorherrscht.

Aber durch die Umverteilung der Erdöleinnahmen hat sich die Situation für die Mehrheit der Bevölkerung seit 1998 doch deutlich verbessert…
Ja, die Erdöleinnahmen konnten von einer Minderheit zur breiten Masse umgelenkt werden, die Sozialpolitiken ausgebaut, und die Ungleichheit verringert werden. Doch alle Versuche, in den vergangenen Jahren Logiken jenseits des Erdölmodells zu stärken, sind gescheitert.

Was meinen Sie konkret?
Zum Beispiel haben die Verstaatlichungen den Staat nicht gestärkt, sondern geschwächt. Denn ein großer Teil dieser verstaatlichten Unternehmen überlebt nur aufgrund von Subventionen. Hier gibt es also eine Tendenz, Sozialismus mit Etatismus gleichzusetzen. In Venezuela gleitet das manchmal ins karikaturenhafte ab, etwa wenn vor einem frisch verstaatlichten Unternehmen am folgenden Tag ein großes Banner mit dem Slogan „Sozialistisches Unternehmen“ prangt. Und wenn zwei Monate später nichts mehr produziert wird, bleibt das Banner einfach hängen.

Aber der bolivarianische Prozess in Venezuela lässt sich doch nicht auf Verstaatlichungen reduzieren. Wie steht es um den Ausbau politischer und ökonomischer Partizipation?
Es hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Versuche gegeben, postkapitalistische Strukturen zu schaffen, sei es durch Kooperativen oder kommunale Räte, wo es um eine soziale Ökonomie, eine Kontrolle von unten geht. Das Problem ist aber, dass jedes einzelne große Ziel, das sich der bolivarianische Transformationsprozess gesetzt hat, durch die Logik des Erdölstaates konterkariert wird. Solange die lokale, basisdemokratische Ebene von den Erdöleinnahmen abhängt, wird Politik von oben nach unten gemacht. Aufgrund der überbewerteten Währung ist keine wirtschaftliche Tätigkeit produktiv und es ist billiger Waren zu importieren. Vor ein paar Jahren wurden 280.000 Kooperativen gegründet, von denen heute keine Rede mehr ist. Obwohl der Staat immense Summen in die soziale Ökonomie steckt, kann diese sich also nicht entfalten.

Was müsste die aktuelle Regierung konkret tun, um der Erdöllogik zu entkommen?
Das Problem ist, das die Regierung bereits vor Jahren hätte handeln müssen. Und zwar aus einer Position der Stärke heraus. Nun müsste sie unangenehme Entscheidungen in einem Moment treffen, in dem die politische Konfrontation sehr hoch und die wirtschaftliche Lage sehr prekär ist. Das Benzin kostet in Kolumbien zum Beispiel 78 mal soviel wie in Venezuela. Wenn eine Person fünf Mal pro Woche 100 Meter nach Kolumbien reinfährt und ihre Tankfüllung dort weiterverkauft, verdient sie mehr als die große Mehrheit der Venezolaner. Diese Verzerrungen haben ihre Ursachen in den staatlichen Subventionen für Benzin und dem staatlich festgesetzten Wechselkurs. Eine Beendigung der Subventionen und eine drastische Währungsabwertung hätten aber einen dramatische Anpassungsprozess zur Folge. Daher sind solche Maßnahmen nur in Momenten möglich, in denen die politische Unterstützung und Geld für Kompensationszahlungen da sind.

In anderen Ländern der Region laufen kontroverse Debatten über das Entwicklungsmodell und Extraktivismus. In Venezuela scheint diese Debatte kaum eine Rolle zu spielen…
Es gibt ein Beispiel, das gut verdeutlicht, dass diese politische Debatte in Venezuela tatsächlich nicht stattfindet: Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 sind Hugo Chávez und Henrique Capriles mit zwei völlig unterschiedlichen Programmen gegeneinander angetreten. Es gab nur eine einzige Übereinstimmung. In beiden Programmen war das Ziel enthalten, die Erdölproduktion von drei auf sechs Millionen Barrel Erdöl pro Tag zu verdoppeln. Wir haben in Venezuela einen großen nationalen Erdölkonsens. Mit dieser Logik zu brechen ist notwendig, aber äußerst schwierig. Es würde bedeuten, dass wir unseren Lebensstil ändern müssten, der extrem und völlig übertrieben auf Konsum ausgerichtet ist.

Infokasten

Edgardo Lander hat in Harvard Soziologie studiert und arbeitet als Professor für Soziologie an der Zentralen Universität in Caracas (UCV). Er gilt als einer der profiliertesten linken Intellektuellen in Venezuela und als kritischer Unterstützer des bolivarianischen Prozesses. Seine Themen sind unter anderem Kritik des Eurozentrismus, soziale Bewegungen und Neoextraktivismus in Lateinamerika.

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