Argentinien | Nummer 341 - November 2002

“Die Regierung soll die Grundversorgung sichern, wir kümmern uns um die Kultur!“

Ein Interview mit der argentinischen Schriftstellerin Liliana Heker

Anne Fahß, Timo Berger

Welche Auswirkungen hat die Krise in Argentinien auf ihre persönliche Situation?

Sie ist über mich gekommen, sie bestimmt meinen ganzen Alltag. Mein Mann hat seine Arbeit verloren. Ich gehe nach draußen, sehe Menschen den Müll durchwühlen. Das hat es bisher, zumindest in Buenos Aires, nicht gegeben. Die Gewalt in den Straßen hat zugenommen. Die Arbeitslosigkeit ist inzwischen so hoch, dass sie das soziale Netz zerstört. Ich bin, wie viele andere, mit der Idee groß geworden in einem Land zu leben, in dem es immer genug zu Essen und Arbeit gibt. Heute haben viele Kinder nicht genug zu essen, um sich körperlich normal zu entwickeln. All das beeinflusst mich persönlich, ganz unabhängig davon, ob ich nun Autorin, Journalistin oder Schneiderin bin.

Und schlägt sich die aktuelle Situation in ihrer Arbeit nieder?

Ich bin der Überzeugung, dass sich Schriftsteller aus dem nähren, was um sie herum passiert. Allerdings kann die Literatur die Gegenwart kaum unmittelbar widerspiegeln. Wenn man jetzt beispielsweise über die Kochtopfdemonstrationen schreibt, kommt das Buch vielleicht erst in fünf Jahren raus. Manchmal ist es auch unmöglich, die Gegenwart direkt zu bearbeiten. In meinem Buch Das Ende der Geschichte habe ich über die letzte Diktatur in Argentinien geschrieben. Während jener Zeit hätte ich diesen Roman allerdings nie schreiben können. Ich hätte keine Form gefunden, das zu erzählen, was in diesem Moment mein Leben beherrschte: den Schrecken der Militärdiktatur. Dennoch war es mir ein tiefes Bedürfnis darüber zu schreiben. Lange Jahre verbrachte ich mit Nachforschungen. Und erst 1994 fand ich einen Weg dem Ganzen eine Form zu geben. Am 24. März 1996 schloss ich die Arbeiten ab, also genau zum 20. Jahrestag des Putsches. Ganz sicher ist es so, dass die Kreativität einem Menschen gerade in Momenten der Krise Halt geben kann. Auch heute gibt es immer mehr Menschen, die sich künstlerisch betätigen, zum Beispiel in den zahlreichen populären Veranstaltungen auf der Straße. Sie suchen neue Formen des Ausdrucks, die dem von oben diktierten Dahinsiechen etwas entgegensetzen. Man könnte vielleicht sagen, es entsteht so etwas wie eine Kultur von unten.

Ist das eine neue Entwicklung in Argentinien?

Nein, beispielsweise in den 60ern und 70ern gab es eine fruchtbare, unabhängige Kulturlandschaft. Mit Abelardo Castillo brachten wir mehrere Literaturzeitschriften heraus, in denen neue AutorInnen und neue Ideen veröffentlicht wurden. Sie finanzierten sich weitestgehend selbst und fanden großen Widerhall in der Bevölkerung. Ähnlich funktionierten auch die Kinoclubs, in denen neue Filme gezeigt wurden. Und das unabhängige Theater.

Und das lief alles ohne staatliche Zuschüsse?

Ja, das bedeutete, dass wir mit minimalen finanziellen Mitteln arbeiten mussten. Mit dem Verkauf einer Ausgabe finanzierten wir die nächste. Wenn das Geld nicht reichte, baten wir einen befreundeten Maler um ein Bild, das dann zu Gunsten der Zeitschrift versteigert wurde. Oder wir veranstalteten ein Kinofestival. Ähnlich sah es bei den unabhängigen Theatern aus. Sie waren als Kooperativen organisiert. Man machte alles – Schauspielen, Regie, Eintrittskarten verkaufen und den Boden fegen.

Was geschah mit dieser Bewegung unabhängigen Kulturschaffens während der Zeit der Diktatur?

Die Hyperinflation machte die Selbstfinanzierung dieser Projekte praktisch unmöglich. Dennoch gelang es uns trotz und gegen die Diktatur 1976 eine neue Zeitschrift, El ornitorrinco (das Schnabeltier), herauszubringen.Es gab auch andere kulturelle Entwicklungen, wie das teatro abierto (das offene Theater). Und es kam zu Reaktionen, wie der Bewegung der Mütter der Plaza de Mayo. Es war also auch möglich gegen Zensur, Tod und Terror schöpferisch tätig zu sein.

Wie sind die Bedingungen für das argentinische Kulturleben heute?

Die ökonomische Lage ist fatal, es gibt immer weniger Mittel. Eine Zeitschrift herauszugeben ist praktisch unmöglich.

Im Oktober 2001 gab es noch staatliche Unterstützung für kleine Verlage. Diese Subventionen fielen dann dem corralito (der Kontensperrung) zum Opfer.

Es ist schon außergewöhnlich, dass es überhaupt Subventionen gab. Bis auf einen Wettbewerb der nationalen Kunst- und Kulturstiftung, gibt es kaum staatliche Unterstützung. Einige kleine Verlage, zum Beispiel Adriana Hidalgo, haben es geschafft, der Krise bis jetzt zu trotzen. Es ist so wichtig für die Kulturlandschaft Argentiniens, dass sie weiter bestehen. Die großen Verlage wurden inzwischen alle von multinationalen Firmen übernommen, die keine jungen AutorenInnen veröffentlichen. Es gibt keine aufeinander aufbauende Kulturpolitik.

Wie sollte Kulturpolitik heute aussehen?

Ich vertraue nicht auf die Kulturpolitik der Regierung. Die Kulturförderung ist miserabel. Im Moment sehe ich die Aufgaben der Regierung ohnehin eher im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, etwa darin die Grundversorgung der Menschen zu sichern. Wir, die Kulturschaffenden, kümmern uns um die geeigneten Mittel und Ausdrucksformen. Es kommt darauf an, weiter zu schaffen. Heute spricht man nur von der Bedeutung des Marktes. Viele der Werke jedoch, welche die lateinamerikanische Literatur begründet haben, verkauften sich anfangs schlecht. Kleine Theater, kleine Kinosäle, kleine Verlage sind Teil des Kulturerbes Lateinamerikas, die weiter bestehen und Gewicht haben. Heute gibt es neue Zeitschriften im Internet, in denen junge SchriftstellerInnen publizieren. Es gibt Theateraufführungen, in denen die Leute ihre persönlichen aktuellen Probleme zum Ausdruck bringen und vermehrt Straßentheater. Was sich momentan verändert, ist die Art wie die Kultur die Menschen erreicht. Ich veranstalte zum Beispiel eine Literaturwerkstatt. Die Teilnehmerzahl nimmt ständig zu. Ich denke hier entwickelt sich eine starke Generation junger SchriftstellerInnen, wie es sie zuletzt in den sechziger Jahren gegeben hat.

Interview:
Anne Fahß und Timo Berger

KASTEN:
Zur Person

Die argentinische Journalistin und Schriftstellerin Liliana Heker wurde 1943 in Buenos Aires geboren. Bereits mit 17 Jahren arbeitete sie als Redakteurin für die Literaturzeitschrift „El grillo de papel“. Später wurde sie Chefredakteurin zweier weiterer Literaturzeitschriften, „El escarabajo de oro“ (1961-1974) und „El Ornitorrinco“ (1977-1986). Mit nur 23 Jahren veröffentlichte Liliana Heker 1966 ihren ersten Erzählband Los que vieron la zarza und erhielt dafür den Preis des kubanischen „Casa de las Américas“. Für ihren ersten Roman Zona de Clivaje erhielt sie 1987 den „Primer premio municipal“. Mit ihrem 1996 erschienenen Roman El fin de la historia, in welchem die Autorin verschiedene Stimmen und politische Positionen zu Wort kommen lässt, setzt sie sich mit dem Argentinien der siebziger Jahre auseinander. In ihrem bisher letzten Werk Las hermanas de Shakespeare beleuchtet sie in einer Sammlung von Essays kritisch die Situation von Schriftstellerinnen. Heute lebt und arbeitet Liliana Heker in Buenos Aires.

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