Die Reise mit ungewissem Ziel
Auf filmerischer Suche nach den lateinamerikanischen Identitäten
Der junge Martín fühlt sich wie
am „Arsch der Welt“. Gestern wurde das Reiterstandbild des Revolutionshelden San Martín geraubt. Regelmäßig kracht eines der Porträts aus der historischen Heldengalerie von den morschen Wänden der Schulkorridore. Und auch der Kasernenhofton des Geschichtslehrers verbreitet bei den Jugendlichen den Muff von 500 Jahren. Das einzige, was hier auf Feuerland gedeiht, sind offenkundig Klaustrophobie und Fernweh. In dem argentinischen Film El viaje (Die Reise, 1991) von Fernando E. Solanas verlässt Martín fluchtartig den südlichen Zipfel Lateinamerikas, um seinen Vater zu finden. Dieser hatte schon vor Jahren, während der Diktatur, das Weite gesucht.
Der Beginn einer Reise quer durch den Kontinent: Durch das einst wohlhabende, von europäischen Einwanderern kolonisierte Argentinien, das mittlerweile im wörtlich Sinn von Korruption überflutet wird. Durch die peruanischen Anden, wo Machu Picchu und Cuzco von den präkolumbianischen Kulturen künden, während gegenwärtig die indigene Bevölkerung in Armut dahinvegetiert. Durch das Vielvölkergemisch Brasiliens, wo wie in einer durchgetickten Zeitmaschine Modernes und Archaisches nebeneinander existieren: die feudalistische Fronarbeit in den Amazonasminen und die futuristische Eruption der Hauptstadt Brasilia. Vorläufiger Endpunkt des Trips ist das mestizische Mexiko, Land der Mayapyramiden und der versteinerten Revolution.
Lateinamerika, 500 Jahre nach dem Beginn der Conquista: Der Film Die Reise wirft Schlaglichter auf einen Kontinent, der versucht, „den Gürtel enger zu schnallen“. Politikerdarsteller mit dem Charisma von Schießbudenfiguren ringen im Rahmen der „Organisation der auf Knien rutschenden Länder“ um den „Erhalt der Mittelmäßigkeit“. Wohl kaum ein Film könnte bildlicher die Unzufriedenheit mit der Gegenwart und die Suche nach einer lateinamerikanischen Identität ausdrücken als Solanas’ Roadmovie von 1991, das einen Schlingerkurs zwischen surrealem Symbolismus und beißender Satire fährt. Wohl kaum ein Film könnte auch besser die Schwierigkeit aufzeigen, aus der Vielfalt der Landschaften und ethnischen Mischungen, der historischen Mythen und banalen Fakten so etwas wie das Bild des Kontinentes herauszukristallisieren. Ist er die Summe seiner nationalen Teile, die oft durch willkürliche postkoloniale Grenzziehungen entstanden? Das wäre zu simpel.
Wenn es so etwas wie das Gesicht Lateinamerikas gibt, so materialisiert es sich in Die Reise in der Gestalt eines LKW-Fahrers mit dem symbolträchtigen Namen Americo Inconcluso – „unvollendetes Amerika“. Sohn eines Schwarzen aus der Karibik und einer Guatemaltekin, in Panama geboren und seit fünf Jahrzehnten auf den Straßen des Kontinentes unterwegs. Ein Geschichtenerzähler, immer in Bewegung, ein Träger des kollektiven Gedächtnisses.
Lateinamerika, die „große, unvollendete Nation“?
Zweieinhalb Jahrzehnte, bevor er Die Reise dreht, hat der junge Regisseur Solanas noch weitaus eindeutigere Antworten auf die Frage nach der Identität, nach Sinn und Zielrichtung geschichtlicher Prozesse gegeben. La hora de los hornos (Die Stunde der Feuer) von 1968 prangert nicht nur die kapitalistische Ausbeutung des Kontinentes an, sondern ist auch ein leidenschaftliches Plädoyer für eine gemeinsame kulturelle Identität. Immer wieder wird die „Balkanisierung des Kontinentes“ beklagt. Neben „Che Guevara und allen Patrioten, die im Kampf um ein freies Lateinamerika gefallen sind“ und denen der Film gewidmet ist, werden auch Simon Bolívar und San Martín, die beiden Befreiungskämpfer aus dem 19. Jahrhundert als Vorkämpfer für ein vereintes Lateinamerika zitiert. Mit äußerster Schärfe legen Solanas und sein Koregisseur Octavio Getino die Überheblichkeit nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der intellektuellen Eliten des Landes gegenüber dem Rest des Kontinentes bloß.
Ähnlich wie andere lateinamerikanische Filmemacher aus dem Umfeld des „Neuen lateinamerikanischen“ Kinos propagieren Solanas und Getino in den Sechzigern eine pan-lateinamerikanische Perspektive, mischen natio-nalpopulistische Elemente mit linkem Internationalismus. Nationalhelden wie Martin Fierro werden ebenso zitiert wie Che Guevara, Martin Luther King oder der algerische Befreiungskämpfer Frantz Fanon. Identität als work in progress, als dynamischer Prozess. Die Haltung, die in Die Stunde der Feuer zum Ausdruck kommt, weist eine große Verwandtschaft zu dem auf, was der Brasilianer Glauber Rocha kurz zuvor als Konzept des „trikontinentalen Filmemachers“ beschrieben hat.
„Wir Argentinier stammen eigentlich alle von Schiffen, sind Kinder von Emigranten aus Europa“, meint die Regisseurin Jeanine Meerapfel, die seit Mitte der Sechziger in Deutschland lebt und immer wieder zu Dreharbeiten nach Argentinien zurückkehrt. „Ich lache immer, wenn man in Deutschland von Lateinamerika spricht und meint, das wäre alles gleich. Allein, wenn du dir Brasilien anschaust, mit starkem schwarzen Einschlag, oder unser Land – das sind ganz unterschiedliche Kulturen.“
Ähnlich wie Die Reise von Solanas handelt auch Amigomío, den Meerapfel 1993 bis 1995 mit Alcides Chiesa dreht, von einer Odyssee durch einen fremden Kontinent. Das erzwungene Verlassen der Heimat ist Auslöser zur Reflexion der eigenen Identität. Mit ein paar Koffern voller Erinnerungen, wenig Geld und ohne gültige Papiere müssen Carlos, Sohn deutscher Emigranten, und sein achtjähriger Sohn Amigomío vor der Militärdiktatur fliehen. Ihr Ziel: die ecuadorianische Hauptstadt Quito.
Dazwischen liegt ein Weg voller Schlaglöcher und Hindernisse: Klapprige, bunt bemalte Überlandbusse. Indios, die Quechua und Aymara sprechen. Undefinierbare Speisen, die am Wegesrand verkauft werden. Überall wird der blonde Carlos auf Englisch angequatscht, da man ihn für einen Touristen hält. Die Leute können sich nicht vorstellen, daß Amigomío, der seiner mestizischen Mutter ähnelt, tatsächlich der Sohn dieses Gringo ist.
In Tagträumen debattiert Carlos mit seinem Vater, der als junger Mann aus Deutschland floh. Er wirft ihm vor, ihn zu einem „internationalen Gringo“ gemacht zu haben, der nicht weiß, wo er hingehört und für was er kämpfen soll. Der Vater entgegnet ihm: „Ein Gringo ist der, der es sein will. Der Kampf für Gerechtigkeit existiert in der ganzen Welt. Aber du kannst eine Sache nicht verstehen, wenn du sie nicht liebst.“
Migranten zwischen Aufbruch und Sturz
Die Migration in die Städte ist eine Konstante im lateinamerikanischen Kino der Siebziger, Achtziger und Neunziger. Dabei ist die Art, wie dieser Prozess aufgegriffen wird, äußerst widersprüchlich und ambivalent. In Sanjinés Film La nación clandestina (Die geheime Nation, 1989) stürzt das Leben in La Paz den Aymara Sebastián Mamani in so tiefe Entfremdung , dass er beschließt, in sein Dorf in den Anden zurückzukehren. Niemand in der Stadt begreift die Entscheidung. Denn vor Jahren war Sebastián von seiner Gemeinschaft auf Lebenszeit verstoßen worden, weil er Geld unterschlagen hatte. Trotzdem macht er sich, eine rituelle Totenmaske auf den Rücken geschnallt, auf den Weg, um in den Zeremonien der Vorfahren den Tod und das innere Gleichgewicht zu finden.
Im Gegensatz zu diesem „Kulturschock-Pessimismus“ gibt es seit etlichen Jahren auch verstärkt Filme über die Binnenmigration, die ein positives oder zumindest offenes Ende haben. So dreht Grupo Chaski in den Achtzigern in Peru Filme, die darauf abzielen, dem einheimischen Publikum positive Identifikationsfiguren zu geben. Anders als Sebastián ist Gregorio, der zwölfjährige Held des gleichnamigen Films von 1984, einer der zwar immer wieder kurz davor steht, „unter die Räder“ zu geraten, aber immer wieder die Kurve kriegt.
Dabei wird der kulturelle Sprung vom Andenhochland in die Hauptstadt Lima in allen seinen Schwierigkeiten ausgemalt: Zu Beginn des Films prophezeit Gregorios Großvater seinem Sohn Jacinto, daß er fern der Heimat kläglich scheitern werde: „Du wirst als Schuhputzer enden.“ In der Tat droht Gregorios Familie in der fremden Umgebung zu zerbrechen. Jacinto ertränkt sein Selbstmitleid in Alkohol.
Dagegen verkraftet seine Frau Juana die Situation besser – weil sie aufgeschlossener ist. Während Jacinto als einzigen Ausweg die Rückkehr in sein Dorf sieht, will Juana sich an den Landbesetzungen am Stadtrand von Lima beteiligen: „Land ist Land – auch wenn es kein Strom und Wasser hat.“ Für sie hat der Begriff der „Erde“, die von den Quechua als „Pachamama“, Mutter Erde verehrt wird, eine flexible und transzendente Bedeutung, ist nicht nur der heimatliche Acker, der geheiligte Ort der Vorfahren. Für sie ist Erde das, was Nahrung gibt und Zukunft verspricht.
Kulturelle Identitäten im „laufenden Mixer“
Das lateinamerikanische Kino der Jahrtausendwende ist vielfältiger, undogmatischer und unterhaltsamer geworden. Der Trend geht zu persönlichen Geschichten, die jedoch oft auf sehr subtile und lebendige Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren. Die Frage nach der Identität, dem eigenen Standort im Leben ist gerade in Lateinamerika, wo seit mehr als 500 Jahren so viele Kulturen gewaltsam kollidieren oder sich lustvoll vermischen, existentiell. Die mexikanische Regisseurin Dana Rothberg vergleicht die kulturelle Identität ihres Landes mit einem „laufenden Mixer“. Immer noch ist der Kontinent in Bewegung, gibt es viele GrenzgängerInnen zwischen den Kulturen. Das gilt nicht nur für die vielen, die während der Diktaturen ins Exil gingen. In den Achtziger und Neunzigern überqueren viele Latinos legal oder illegal die Grenzanlagen Richtung USA oder setzen sich in ein Flugzeug Richtung Europa. Darunter sind auch etliche FilmemacherInnen.
War es lange Zeit für das „Neue lateinamerikanische Kino“ essentiell, die Traditionen und Mentalitäten der unterdrückten Teile der Bevölkerung der Vergessenheit zu entreißen, richtet sich das Augenmerk seit etlichen Jahren eher auf die kulturellen Mischformen, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind. Gerade viele brasilianische Filme der Neunziger umkreisen mal provozierend und schonungslos, dann wieder ironisch und unterhaltsam die multiplen Identitäten des Landes. Auch in vielen gesellschaftskritischen Filmen zum Thema ist die Trauer um die Zerstörung bewährter Traditionen einem genaueren Blick auf das gewichen, was sich beispielsweise in den Städten an neuen Realitäten und sozialen Netzwerken entwickelt. Eines der treffendsten Beispiele ist die brasilianische Filmsatire Sábado (Samstag, 1994) von Ugo Giorgetti, in der sich eine unübersichtliche Schar illegaler BewohnerInnen aus dem Sertaõ und anderen Randzonen des Landes eines ehemals eleganten Hochhauses im Zentrum von Saõ Paulo bemächtigt hat.
Dennoch ist die Sehnsucht, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren, ein stets wiederkehrendes Filmmotiv, fungiert die Rückkehr in die alte Heimat als Wunschphantasie und inneres Refugium. Sie wird aber selten als tatsächliche Perspektive dargestellt. Auch Amigomío beschreibt einen generationenübergreifenden Zyklus von Flucht, Entwurzelung und Neuanfang. Als Carlos und Amigomío aus dem Exil in Quito nach Argentinien zurück können, läuft der mittlerweile zwölfjährige Junge schon längst mit einem ecuadorianischen Fußballtrikot durch die Gegend und will nicht mehr zu den „Scheißmilitärs“ zurück. Der einmal vollzogene biographische Bruch ist nicht nahtlos zu kitten. Falls Vater und Sohn sich zur Rückkehr nach Argentinien entscheiden, müssen sie es in dem Bewußtsein tun, dass nicht nur das Land nicht mehr dasselbe ist, welches sie verlassen haben, sondern dass auch sie selbst sich verändert haben.
In etlichen Filmen, die in der Gegenwart spielen, reisen die ProtagonistInnen auf der Suche nach ihrem Ursprung in ihr Dorf zurück. Die meisten kehren jedoch, ernüchtert und innerlich bestärkt zugleich, wieder in die Großstadt zurück. Walter Salles’ Central do Brasil (Central Station, 1998) beschreibt eine Suchbewegung, deren ursprünglich anvisiertes Ziel immer wieder Richtung Horizont entschwindet. Doch plötzlich taucht direkt vor der Nasenspitze ein neuer, dem alten verwandter Bezugspunkt auf. So findet der kleine Josué, welcher nach dem Tod seiner Mutter aus Rio de Janeiro abhaut, um seinen Vater zu suchen, unverhofft doch im fernen Nordosten ein neues Zuhause – zwar nicht bei seinem Erzeuger, der weiterhin verschollen bleibt, aber bei seinen Brüdern, von deren Existenz er vorher nichts wußte.
Bei vielen lateinamerikanischen Filmen, die das Thema kulturelle Identität umkreisen, sind unbekannte, früh verstorbene oder verschollene Väter – manchmal auch Mütter – als symbolische Fixsterne mit im Spiel. In Terra estrangeira (Fremdes Land, 1995) von Walter Salles und Daniela Thomas bricht der junge Protagonist nach dem Tod seiner Mutter aus São Paulo Richtung Baskenland auf, wo sein früh verstorbener Vater her stammt – und strandet unterwegs in Portugal. Walter Salles meint dazu: „Ich denke, dass die Frage der Suche nach dem Vater und die nach dem Land sehr eng mit Brasilien verbunden sind. Unser Land ist vergleichsweise spät kolonialisiert worden, nämlich im Jahre 1500. Was ist passiert? Der Kolonisator kam und ging. Der Vater kam, nahm alles, was er wollte, und ging wieder. Daher ist die Frage nach der Vaterschaft für das Land sehr wichtig. Bei genauerem Hinsehen sind in Terra Estrangeira und Central do Brasil die Väter gar nicht existent.“
Wohl in keinem anderen Kontinent mischen sich so sehr die Fragen nach der kulturellen Herkunft und der persönlichen Identität. In manchen Filmen ist der Bezug zwischen kulturellem und familiärem Verwaistsein sogar wörtlich zu nehmen. So heißt in dem kubanischen Film La vida es silbar (Das Leben, ein Pfeifen, 1998) von Fernando Pérez die Mutter des Protagonisten Elpídio, die vor Jahren in die USA abgehauen ist und ihr Kind auf der Insel zurück gelassen hat, ausgerechnet „Cuba“. Auch Elpídio begegnet auf seiner rastlosen Suche nach dem Glück allen möglichen Gestalten – nur nicht seiner leiblichen Mutter. Ein typisches Ende: Im Gegensatz zu sentimentalen Familienschnulzen à la Hollywood, wo sich zum Schluss Eltern und Kinder in den Armen liegen, bleibt uns ein derartiges Happy End in fast allen lateinamerikanischen Filmen zum Thema Identität versagt. Dafür finden sich andere Dinge – nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“. So meint der junge Argentinier Martín am Ende des Films El viaje : „Ich suche meinen Vater nicht mehr wie früher. Ich habe ihn auf seinen Wegen gefunden. Und ich habe begriffen, daß mir niemand helfen kann, das zu tun, was ich nicht für mich selbst tue.“
Bettina Bremme
Bettina Bremme: Movie-mientos: Der lateinamerikanische Film – Streiflichter von unterwegs. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2000