Brasilien | Nummer 420 - Juni 2009

Die Rückkehr der Feudalherren

Im April wurde der Gouverneur des Bundesstaates Maranhão, Jackson Lago, seines Amtes enthoben

Nach dem Einschreiten des Obersten Wahlgerichtes regiert nun mit Roseana Sarney wieder ein Mitglied der lokalen Elite den Staat. KritikerInnen bezweifeln, dass das bisherige Vorgehen des Obersten Wahlrates dem Wählerwillen durchsetzt und fordern stattdessen Neuwahlen.

Sarah Lempp

Von den verschiedenen Fällen, in denen das brasilianische Oberste Wahltribunal (TSE) in letzter Zeit über Amtsenthebungen von GouverneurInnen zu entscheiden hatte, erregte einer besonderes nationales Interesse: am 16. April 2009 bestätigte das TSE die eigene Entscheidung vom 4. März, den Gouverneur des Bundesstaats Maranhão, Jackson Lago, seines Amtes zu entheben. An seiner Stelle erklärte der TSE die Gegenkandidatin Lagos bei den letzten Wahlen 2006, Roseana Sarney, zur Gouverneurin. Damit hat die nur kurze Phase ein Ende, in der das Machtmonopol der Familie Sarney in dem Bundesstaat gebrochen wurde. Die Familie hat durch ein dichtes Netz von Medien- und Parteikontakten seit über 40 Jahren starken Einfluss auf die Politik in Maranhão, weshalb die Mitglieder des Klans oft als „Feudalherren“ des Bundesstaats bezeichnet werden.
Maranhão, im Nordosten Brasiliens, ist einer der ärmsten Bundesstaaten des Landes. 43 Prozent der städtischen Haushalte verfügen mit 232,50 Reais (derzeit etwa 82 Euro) über ein Pro-Kopf-Einkommen von lediglich der Hälfte des Mindestlohnes von 465 Reais. Die Lebenserwartung der 6,2 Millionen EinwohnerInnen liegt durchschnittlich bei 67,6 Jahren, die zweitschlechteste im brasilianischen Vergleich. Die Kindersterblichkeit beträgt 39 pro 1000 Neugeborenen und liegt damit 60 Prozent über dem brasilianischen Durchschnitt.
Politisch und wirtschaftlich wird dieser sehr arme Bundesstaat seit über 40 Jahren von einer Gruppe um José Sarney geprägt (siehe Kasten). Erst 2006 hatte mit Jackson Lago ein Politiker die Wahlen gegen Roseana Sarney gewonnen, der nicht aus dem Klan stammte. Jackson Lago gehört der Demokratischen Arbeiterpartei Brasiliens PDT an. Sie wurde 1980, als die Militärdiktatur wieder Parteien zuließ, von Leonel Brizola gegründet. Brizola, der ehemalige Arbeitsminister unter der letzten demokratisch gewählten Regierung Brasiliens, wollte mit dieser Partei an den brasilianischen Linkspopulismus anknüpfen, der vom Militärputsch 1964 zerschlagen wurde. Historisch waren PDT und die Arbeiterpartei von Präsident Luís Inácio Lula da Silva verbündet, doch derzeit befindet sich die PDT in der Opposition.
Roseana Sarney ist die Tochter von José Sarney. Sie gehörte während der letzten Wahl 2006 der rechtsliberalen Partei Die Demokraten (DEM) an, ist heute aber Mitglied der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens PMDB. Beide Parteien werden von UnternehmerInnen dominiert, die die Parteien zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen.
Roseana Sarney war bereits von 1995 bis 2002 Gouverneurin von Maranhão. Schon 2002 war Lago gegen sie angetreten und hatte damals nur knapp verloren. 2006 gelang es ihm schließlich, als Kandidat eines breiten linken Bündnisses, der „Front zur Befreiung des Maranhão“, die Wahlen im zweiten Wahlgang für sich zu entscheiden.
Gegen Ende des Jahres 2007 strengte das Bündnis aus PolitikerInnen und Medienunternehmen Maranhão – Die Kraft des Volkes unter Führung von Roseana Sarney eine Klage gegen Jackson Lago und seinen Vizegouverneur Luis Carlos Porto an. Der Hauptvorwurf lautete, der damalige Gouverneur José Reinaldo Tavares habe öffentliche Gelder benutzt, um Lagos Wahlkampagne zu unterstützen. So soll er im Wahljahr über 1800 Abkommen unterzeichnet haben, durch die 156 Kommunen 805 Millionen Reais zugute kamen und soll öffentlich und explizit die Kandidaten Vidigal (im ersten Wahlgang) und Lago (im zweiten Wahlgang) unterstützt haben, was dem brasilianischen Wahlgesetz zuwiderliefe. Als vermeintliche Vergehen Lagos wurden irreguläre Spenden von cestas básicas, so genannten Grundsicherungskörben, die Grundnahrungsmittel für einen Monat enthalten und die an bedürftige Familien verteilt werden, sowie Erste-Hilfe-Sets an eine Gemeinde angeführt. Außerdem soll er öffentliche Gelder in Höhe von mehr als 700.000 Reais (etwa 250.000 Euro) an eine BewohnerInnen-Vereinigung überwiesen haben. Des Weiteren beschlagnahmte die Bundespolizei 17.000 Reais unklarer Herkunft und Bestimmung, von denen das Bündnis unter Roseana Sarney behauptet, es sei für Stimmenkauf gedacht gewesen. Die Liste der Vorwürfe enthält außerdem die Verteilung von Benzin und Baumaterialien. All dies zusammengenommen interpretierte das Oberste Wahlgericht als „Missbrauch wirtschaftlicher Macht“, durch den sich Lago unrechtmäßig Vorteile bei den Wahlen verschafft habe.
Dass dieser Vorwurf ausgerechnet vom Bündnis unter Roseana Sarney erhoben wurde, birgt durchaus eine gewisse Ironie in sich. Schließlich gehört diese der Familie an, die große Teile der Medien in Maranhão besitzt, enge Verbindungen zu Unternehmern und GroßgrundbesitzerInnen unterhält und in verschiedenen Fällen der Korruption verdächtigt wird. Aktuell wird dem Patriarchen José Sarney vorgeworfen, als Senator vom Staat widerrechtlich 3.800 Reais (etwa 1,300 Euro) monatlich als Wohngeld empfangen zu haben, obwohl er bereits in einem staatlichen Apartment wohnt.
Jackson Lago bestritt die Korruptionsvorwürfe stets und sah sich als Opfer einer politischen Verfolgung. Er hob hervor, es fänden sich keinerlei konkrete Beweise dafür, dass die angeführten Abkommen vor der Wahl für Wahlzwecke genutzt worden seien. Außerdem sei er vor allem in den Wahlbezirken gewählt worden, wo es keinerlei Abkommen gegeben habe.
Tatsächlich gewann Roseana Sarney die Mehrheit der Stimmen in 101 der 156 Kommunen, die von den als rechtswidrig bezeichneten Zuweisungen profitierten. In vielen Kommunen, die keine Zuweisungen von Tavares‘ Regierung erhalten hatten, erlitt Roseana hingegen Niederlagen. Dies reichte dem TSE jedoch nicht als Nachweis dessen aus, dass Lago nicht von den Abkommen der Vorgängerregierung profitiert habe.
Unterstützung für Lago kam vor allem von diversen sozialen Bewegungen, die große Hoffnungen in seine Amtszeit gesetzt hatten. Sie kritisierten die Anklage von vornherein als politisches Manöver des Sarney-Clans. „Für uns ist das ein Putschversuch. Bei früheren Regierungen gab es schon so viele Probleme und nie wurde ein Verfahren zur Amtsenthebung eingeleitet“, zitiert die Wochenzeitung Brasil de Fato Creuzamar de Pinho, Mitglied der Basisorganisation Vereinigung für Sozialwohnungen in Maranhão.
Ein so genanntes Komitee zur Verteidigung der Demokratie wurde gegründet, dem unter anderen die Landlosenbewegung MST, die Vereinigung für Sozialwohnungen, Vereinigungen von LandarbeiterInnen, indigene Organisationen und StudentInnengruppen angehören. Die MST war eine der sozialen Bewegungen, die sich am deutlichsten hinter Lago stellten. Nach Ansicht der KoordinatorInnen der MST verbesserte sich unter Lago der Dialog zwischen der Regierung und den sozialen Bewegungen deutlich. „Die Latifundien sind die historische Basis Sarneys. Er subventionierte immer die großen Unternehmen und sicherte so seine 40-jährige Herrschaft“, erklärte Jonas Borges von MST. Die Demonstrationen, die im April in verschiedenen Städten Maranhãos stattfanden, richteten sich denn auch vor allem gegen José Sarney. „Er ist ein Sohn der Diktatur. Er hat Maranhão für 40 Jahre beherrscht und dennoch leidet der Bundesstaat weiterhin bittere Armut“, formulierte es ein Demonstrant.
Doch, wie Carlos Ayres Britto, der Präsident des TSE, in einem Interview mit der linksliberalen Wochenzeitschrift Carta Capital erläutert: „Auch im Bestreben eine Oligarchie zu stürzen, darf man das Maß nicht verlieren. Die Gruppe, die sich vorgenommen hat, den Sarney-Clan zu stürzen, hat es übertrieben.“ Er sieht es als erwiesen an, dass es im Zuge von Lagos Wahlkampagne zu Missbrauch von ökonomischer und politischer Macht gekommen sei. Dieser Ansicht schloss sich die Mehrheit der Mitglieder des TSE an. Nachdem der Prozess gegen Lago und seinen Vizegouverneur sich über Monate hingezogen hatte, entschied das TSE schließlich mit fünf zu zwei Stimmen, Lago seines Amtes zu entheben. Der Vorwurf des Stimmenkaufs, der im ersten Urteil noch enthalten war, wurde aber letztlich fallen gelassen.
Verschiedene linke Medien übten Kritik an dem Prozess und zweifelten die Gültigkeit der vorgelegten Beweise an. Alle Anschuldigungen lägen im Bereich der Vermutungen und es gebe keine konkreten Beweise dafür, dass Lago öffentliche Mittel für Wahlzwecke missbraucht habe. Auch sei die Unterstützung der Vorgängerregierung für Lago lange nicht so eindeutig und explizit gewesen, wie dies von den Richtern behauptet wurde. Lago selbst kritisierte, es seien nur eine begrenzte Zahl von Zeugen zugelassen und damit seine Möglichkeiten einer umfassenden Verteidigung beschnitten worden.
Lago war damit der zweite Gouverneur, der in diesem Jahr seines Amtes enthoben wurde. Im Februar hatte Cássio Cunha Lima seinen Posten als Gouverneur von Paraíba räumen müssen und in den nächsten Monaten könnte die Liste noch länger werden. Mögliche Kandidaten sind Ivo Cassol in Rondônia, Marcelo Miranda in Tocantins, José de Anchieta Junior in Roraima sowie Luís Henrique da Silveira in Santa Catarina.
Angesichts dieser großen Zahl von Amtsenthebungsverfahren gegen Gouverneure wird auch eine allgemeinere Kritik laut. Selbstverständlich müsse Wahlbetrug bestraft werden, schreibt etwa Carta Capital. Doch sei es viel sinnvoller, bei Zweifeln an der Gültigkeit einer Wahl Neuwahlen anzusetzen. Stattdessen den Zweitplatzierten zum neuen Gouverneur zu machen, ermuntere die Verlierer und führe zu dieser Flut an Prozessen. Das TSE habe sich zu einem „Schlachthof für Gouverneure“ entwickelt, dem Wählerwillen sei damit nicht geholfen.
Nachdem Jackson Lago nochmals Berufung gegen die Entscheidung des TSE eingelegt hatte, hat er mittlerweile alle Rechtsmittel ausgeschöpft. Nach Informationen der Tageszeitung Folha de São Paulo will er sich 2010 wieder zu Wahl stellen.

Kasten:
José Sarney – Der Patriarch
José Sarney war von 1966 bis 1971 Gouverneur von Maranhão, nachdem er sich der Allianz zur Nationalen Erneuerung ARENA, der Partei der Militärregierung, angeschlossen hatte. Er konzentrierte in dieser Zeit weitreichende politische und ökonomische Vorrechte auf sich, indem er das größte Medienkonglomerat der Region, das Sistema Mirante de Comunicação, aufbaute und wichtige bürokratische Posten des Bundesstaates mit Verbündeten besetzte.
Auch nach seiner Amtszeit als Gouverneur hatte er auf diese Weise weiterhin großen Einfluss auf die Politik in Maranhão. Mit seiner Medienmacht sorgte er dafür, dass stets Parteifreunde oder ehemalige Minister seiner Regierung seine Nachfolge im Regierungssitz Palácio dos Leões antraten.
Erleichtert wurde dieses Unterfangen auch dadurch, dass sein Mediennetzwerk Sistema Mirante zu Rede Globo, dem größten Medienunternehmen Lateinamerikas, gehört. So verfügt er in Maranhão über drei Fernsehsender, sechs Radiostationen sowie die Zeitung O Estado do Maranhão. Rund 90 Prozent der Medien des Bundesstaates befinden sich unter Kontrolle des Sistema Mirante.
1984, zum Ende der Militärdiktatur, hängte José Sarney sein Fähnchen in den Wind. Er trat in die Oppositionspartei der Militärdiktatur, der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens PMDB, ein und wurde 1985 zum Vizepräsidenten des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Tancredo Neves gewählt. Als dieser kurz vor seinem Amtsantritt verstarb, trat Sarney als Präsident der Republik an. Dies war nicht unumstritten, denn da weder Neves noch Sarney vor Neves‘ Tod offiziell vereidigt worden waren, hätten eigentlich neue Wahlen angesetzt werden müssen.
Als er 1990 im Amt des Präsidenten von Fernando Collor abgelöst wurde, verlagerte Sarney sein politisches Betätigungsfeld in den Bundesstaat Amapá, den er seither im Senat vertritt. Anfang Februar dieses Jahres wurde er zum Präsidenten des Senats gewählt. Es ist bereits das dritte Mal, dass er diesen einflussreichen Posten inne hat.
Seit einigen Jahren wird gegen verschiedene Mitglieder der Familie Sarney ermittelt aufgrund der finanziellen, administrativen und Wahl-Unregelmäßigkeiten, die sie über Jahrzehnte begangen haben sollen. Zum Beispiel läuft ein Verfahren gegen Sarneys Sohn Fernando wegen illegaler Finanzierung der Wahlkampagne Roseana Sarneys bei den Wahlen 2006 und auch gegen Roseana selbst wird ermittelt.

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