Nachruf | Nummer 196 - September 1990

Die Sache mit der internationalen Solidarität

Nachruf auf eine abgereiste politisch Verfolgte

LN

Wir sind doch alle solidarisch, oder? Wir tun doch alles für die Menschen in der Dritten Welt! Haben wir nicht sogar eine Soli-gruppe gebildet, für das Land C? Treffen wir uns nicht regelmäßig im Rahmen der ayuda internacional (ai) und suchen Lösungen für die globalen Probleme? Wir haben da auch schon allerlei Vorschläge zu machen.
Und dann kommt da jemand daher, beschimpft uns, macht uns an und redet schlecht über uns!
Schließlich arbeiten wir ja auch noch in einem Beruf, sind nur ehrenamtlich solidarisch, haben ja auch noch ein Privatleben.
Wie kann man/frau dann von uns erwarten, daß wir unsere Zeit damit zubringen, auf diesem scheußlichen Flughafen zu warten, bis die politisch Verfolgte aus ‘unserem’ Land C endlich eintrifft, mit wer weiß wie vielen Stunden Verspätung? Wenn sie dann nicht alleine zurechtkommt, ist das ihr Problem, wenn sie es nicht schafft, ‘dann muß sie eben in C bleiben’. Woher sollten wir wissen, daß ihre Koffer nicht mitkamen und deswegen ein endloser Papierkrieg anfiel, auf deutsch natürlich?
Jeder weiß, wie schwer es ist, in Berlin eine Wohnung zu finden, aber deshalb kann uns noch lange keineR zumuten, monatelang eine für sie zu suchen oder sie gar mit ihren zwei Kindern bei uns aufzunehmen, das würde doch nur zu Konflikten führen. Auf der Straße stand sie mit ihren Kindern deswegen noch lange nicht, irgendwie hat irgendwer anders schon immer wieder was für sie aufgetan. Daß es furchtbar sein kann, alle zwei bis drei Wochen mit zwei Kindern in einer fremden Stadt umzuziehen, das war uns nicht so klar. Daß es dann auch schwierig wird, die Kinder einzuschulen, daran haben wir halt nicht gedacht, und es fiel uns auch nicht ein, was es für Kinder bedeuten kann, täglich von Reinickendorf, dann Moabit, dann Charlottenburg bis Kreuzberg und zurück zur Schule zu fahren. Aber es gibt ja Schülerkarten.
Natürlich haben wir uns um unseren Schützling gekümmert. Schließlich haben wir ihr ja den Flug aus C nach Berlin ermöglicht. Und gleich in der ersten Woche haben wir sie zu unserem Gruppentreffen eingeladen. Es war halt Pech, daß wir gerade was Wichtigeres zu besprechen hatten und ihr nur kurz guten Tag sagten und sie dann wieder wegschicken mußten.
Daß es mit dem von uns versprochenen Stipendium immer noch nicht geklappt hat, ist doch nicht unsere Schuld. Dafür haben ihr aber mehrere von uns kleinere Geldbeträge geliehen.
Und nun hören wir, daß sie wieder in ihr Land zurückgefahren ist, wo sie doch ihres Lebens nicht sicher sein kann.

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