Brasilien | Nummer 405 - März 2008

Die Schatten der Operation Condor erreichen Brasilien

DAS AMNESTIEGESETZ ZUR MILITÄRDIKTATUR KÖNNTE WIEDER ZUR DISKUSSION STEHEN

João Goulart, der von 1961 bis zum Militärputsch 1964 Präsident Brasiliens war, soll im Dezember 1976 nicht wie bisher angenommen an Herzversagen gestorben, sondern im Rahmen der Operation Condor ermordet worden sein. Dies berichtet ein Ex-Agent der früheren uruguayischen Geheimdienstorganisation Grupo Gama. Die Justiz ermittelt nun. Währenddessen stellten Richter aus Italien und Spanien Haftbefehle und Auslieferungsanträge gegen 11 ehemalige Angehörige von brasilianischem Militär und Geheimdienst wegen des Verschwindenlassens italienischer und spanischer BürgerInnen im Rahmen der Operation Condor. Da die Verfassung die Auslieferung brasilianischer Staatsangehöriger verbietet, bliebe eine Anklage im Land die einzige Möglichkeit. Klagen gegen Militärs wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur fallen unter das seit 1979 geltende Amnestiegesetz – allerdings nur, wenn die Tat in den im Gesetz festgelegten Zeitraum verübt wurde. Die erste Klage in Brasilien gegen einen ehemaligen Folterer wurde Ende 2006 von Betroffenen und ihren Familienangehörigen in São Paulo eingeleitet. Obwohl die Tat strafrechtlich unter die Bestimmungen des Amnestiegesetzes fällt, ist sie nach Ansicht des Gerichts als Zivilklage zulässig. Es bewegt sich also was.

Christian Russau

Die Vermutung, der ehemalige brasilianische Präsident João Goulart sei im Dezember 1976 im argentinischen Exil ermordet worden, steht seit Jahren im Raum. Goularts Schwager, der ehemalige Gouverneur von Rio Grande do Sul und später von Rio de Janeiro, Leonel Brizola, hatte immer wieder die Mordthese betont. Auch Gerüchte um den bis heute nicht restlos geklärten Autounfall, bei dem Juscelino Kubitschek, Präsident Brasiliens von 1956 bis 1961, im Jahre 1976 ums Leben kam, sowie um das plötzliche Ableben des ersten zivilen Präsidenten nach der Militärdiktatur, Tancredo Neves, der in der Nacht vor seinem Amtsantritt am 15. März 1985 in eine Klinik eingeliefert wurde und knapp einen Monat später verstarb, haben immer wieder zu Spekulationen in der brasilianischen Öffentlichkeit geführt: Diese Todesfälle seien kein Zufall, sondern Mord gewesen. Dazu passt nun die Aussage des uruguayischen Ex-Agenten, Goulart sei vergiftet worden.
Ende 2007 hat Goularts Sohn, João Vicente Goulart, mit einem Kamerateam des brasilianischen Parlaments den in Brasilien zur Zeit wegen Raubes, Bandenbildung und illegalen Waffenbesitzes inhaftierten uruguayischen Ex-Agenten Mario Neira Barreiro interviewt. Dieser räumte ein, dass der Mord an Goulart von brasilianischen und uruguayischen Agenten im Rahmen der Operation Condor erfolgte. Unter diesem Namen verfolgten in den 1970er und 1980er Jahren die Geheimdienste von Argentinien, Chile, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay systematisch und in enger länderübergreifender Zusammenarbeit linke Oppositionelle vor allem in Südamerika, aber auch in anderen Kontinenten. Dies erfolgte zumindest unter Kenntnis der CIA. Dieser koordinierten Repression fielen mehrere Tausend Menschen in den südamerikanischen Staaten zum Opfer. Sie wurden inhaftiert, gefoltert, ermordet oder gelten seither als „verschwunden“.

Ein ehemaliger Geheimdienstagent redet über die „Operation Condor“.

Mario Neira Barreiro schilderte dem Sohn Goularts, wie die verbündeten Geheimdienste den im argentinischen Exil lebenden Goulart ermordeten. „Ich erinnere mich nicht genau, ob wir Isordil, Adelpan oder Nifodin benutzten. Es gelang uns,
eine Tablette unter jene aus Frankreich importierten Medikamente zu schmuggeln. Goulart durfte nur für 48 Stunden nicht untersucht werden, sonst wäre die Substanz bemerkt worden“, berichtete Mario Neira Barreiro dem Sohn des Präsidenten vor laufender Kamera. Goulart wurde ohne Autopsie beerdigt. Eine solche war von der Militärdikatur verhindert worden.
Der Ex-Agent berichtete weiter, dass Goulart schon länger im Rahmen der so genannten Operation Skorpion beschattet worden war. Den Sohn Goularts überzeugte Neira Barreiro unter anderem durch die Kenntnis der persönlichen Telefonnummer des Landsitzes der Familie Goulart. Und die brasilianische Zeitschrift ISTOÉ gewann Einblick in Berichte, die der brasilianische Geheimdienst Serviço Nacional de Informações do Brasil (SNI) im Jahre 1975 detailgenau über den 24-stündigen Tagesablauf Goularts auf seinem Landsitz in Argentinien angefertigt hatte. Die Familie Goulart hat nun Anzeige erstattet, und die Bundesstaatsanwaltschaft ermittelt.

Die Familie Goulart forderte auch die brasilianische Regierung auf, die geheimen Archive des „Centro de Informações do Exterior“ (Ciex) auf Informationen bezüglich Goularts Todes hin zu untersuchen und das Archiv zu öffnen. Wie die brasilianische Zeitung Correio Braziliense bereits im Juli 2007 berichtet hatte, fungierte das vom brasilianischen Außenministerium Itamaraty geleitete Ciex zwischen 1966 und 1985 als „Informationsagentur zur Überwachung der Gegner des Militärregimes im Ausland“ und führte Akten und an die 8.000 Berichte über potentielle brasilianische RegimegegnerInnen im Ausland. Die für die brasilianische Öffentlichkeit dabei besonders brisante Information ist, dass die im Archiv des Ciex zusammengetragenen Informationen über RegimegegnerInnen im Ausland von unzähligen brasilianischen DiplomatInnen kamen. Bisher, so der Correio Braziliense, galt das brasilianische Außenministerium in den Zeiten der Militärdiktatur immer als honoriger Ort, gleichsam als „moralische Hüterin der Demokratie“ in den so genannten „Bleiernen Jahren“ der Militärdiktatur.
Die letztes Jahr aufgetauchten Beweise aus dem Archiv des Ciex zeigen nun vielmehr die aktive Rolle, die das Außenministerium und unzählige DiplomatInnen der Zeit bei Identifizierung und Festnahme Oppositioneller im Ausland spielte. Viele der RegimegegnerInnen wurden gefoltert oder sind „verschwunden“. In viermonatiger akribischer Analyse der Dokumente kam der Correio Braziliense zu der Analyse, dass „es niemals eine sichere Zuflucht für Gegner des Putsches von 1964 im Ausland gab“. Die Zeitung schlußfolgert: „Die Regimegegner wurden bei jedem ihrer Schritte überwacht, jedes Wort, jede Aktion oder Reise im Ausland wurde beobachtet, überall in Lateinamerika, auch in Europa, in der Sowjetunion oder in Nordafrika.“ Von den 380 während der brasilianischen Militärdiktatur Ermordeten oder Verschwundenen finden sich 64 im Geheimarchiv der Ciex wieder. Das Identifizieren und Lokalisieren dieser 64 Personen ermöglichte, so der Bericht des Correio Braziliense, letztlich den anderen brasilianischen Geheimdiensten, RegimegegnerInnen zu lokalisieren und zu foltern und zu ermorden. Und der Sohn Goularts erhofft sich neue Erkenntnisse über seinen Vater – doch das Aussenministerium verweigert der Öffentlichkeit den Zugang zum Archiv.

Das Amnestiegesetz von 1979 verhindert nach wie vor die Anklage gegen brasilianische Militärs.

Die Aussagen des Ex-Agenten Mario Neira Barreiro bezüglich Goularts möglicher Ermordung im Rahmen der Operation Condor treffen zeitlich zusammen mit den jüngsten internationalen Haftbefehlen und Auslieferungsersuchen Italiens und Spaniens für insgesamt 146 ehemalige Angehörige von Militär und Geheimdiensten der Länder Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay, denen Ermordung, Folter und Verschwindenlassen italienischer respektive spanischer Staatsangehöriger zur Last gelegt wird.
Die per Interpol ausgestellten Haftbefehle berufen sich sowohl auf Aussagen von ZeugInnen als auch auf gewonnene Erkenntnisse aus den Ermittlungen zur Operation Condor. Vor allem das im Jahr 1992 in einer Polizeistation in Lambaré in Paraguay zufällig gefundene so genannten „Archiv des Terrors“ beinhaltet Tausende von dokumentierten Fällen der länderübergreifenden, staatlich koordinierten Repression gegen „die Subversiven“. Vor allem auf Basis dieses Funds und der seit dem Jahr 2000 in den USA teilweise freigegebenen Dokumente gelingt es, ein genaueres Bild der südamerikanischen Koordination der Repression zu rekonstruieren.
Unter den Personen, für die Italien und Spanien Haftbefehle und Auslieferungsersuche erlassen haben, befinden sich auch brasilianische Staatsangehörige. Die italienische Justiz erhob nach jahrelangen Recherchen nun im Dezember 2007 Anklage gegen 11 brasilianische ehemalige Angehörige von Militär und Geheimdiensten, gegen die im Januar dieses Jahres auch der spanische Richter Baltasar Garzón Haftbefehle und Anträge auf Auslieferung gestellt hat. Dieser war 1998 bekannt geworden durch seinen Haftbefehl und Auslieferungsantrag gegen den chilenischen Ex-Diktator Pinochet.

Einer der von der italienischen Justiz Gesuchten ist Carlos Alberto Ponzi. Er leitete während des Jahres 1980 die lokale Sektion des brasilianischen Geheimdienstes Serviço Nacional de Informações (SNI) im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Ponzi selbst reagiert im Interview anscheinend gelassen: „Ich bin nicht beunruhigt wegen der italienischen Justiz. Wenn sie prozessieren wollen, sollen sie; wenn sie die Auslieferung erbitten, sollen sie darum bitten. Sollen sie machen, was sie wollen, mich interessiert das nicht.“
Derart gelassen kann er den Auslieferungsersuchen aus Italien nur entgegensehen, weil er die brasilianische Verfassung auf seiner Seite weiß, die die Auslieferung brasilianischer Staatsangehöriger ans Ausland strikt untersagt. In Brasilien selbst wurde bislang noch kein Angehöriger von Militär, Geheimdienst oder Polizei wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur angeklagt, weil das seit 1979 in Brasilien gültige Amnestiegesetz dies unterbindet. Doch kennt das Gesetz eine Einschränkung: Die allgemeine und umfassende Amnestie gilt nur für die Taten, die in dem im Gesetzestext festgelegten Zeitraum zwischen dem 2. September 1961 und dem 15. August 1979 begangen wurden. Im Falle der italienischen Haftbefehle und Auslieferungsersuchen geht es hingegen um den Fall zweier italienischer Staatsangehöriger, die im März und Juni 1980 verschwunden sind, nachdem brasilianische Geheimdienstangehörige und Militärs die italienischen Staatsbürger an der brasilianischen Grenze festnahmen und an den argentinischen Geheimdienst übergaben. Doch auch dies scheint brasilianische Militärs aus der Zeit der Militärdiktatur nicht zu schrecken. Der ehemalige Divisionsgeneral Agnaldo Del Nero Augusto kommentierte in einem Interview mit der Tageszeitung O Estado de São Paulo Anfang Januar dieses Jahres die Vorwürfe, brasilianische Militärs hätten aktiv an dieser Aktion der Operation Condor mitgewirkt: „Wir haben nicht gemordet. Wir haben sie festgenommen und übergeben. Das ist kein Verbrechen.“ Doch im Lichte der Anschuldigungen – Mord, Folter und Verschwindenlassen – wäre auch die Beihilfe dazu ein Straftatbestand. Zwar verjährt Mord in Brasilien, doch Folter und Verschwindenlassen nicht.
Und auch um das Amnestiegesetz wird eine neue Debatte geführt. Dabei geht es um eine Klage wegen einer Tat, die 1972–1973, also im eigentlich amnestierten Strafzeitraum, begangen wurde. Die Klage der fünf Mitglieder der Familie Teles gegen den Coronel Carlos Alberto Brilhante Ustra wurde im September 2006 von der 23. Zivilkammer São Paulo als Zivilklage angenommen. Ustra war Ende 1972 Chef des berüchtigten Folterzentrums DOI-CODI (Sonderkommando für Informationsoperationen – Zentrum für Untersuchungen der inneren Verteidigung) in São Paulo. Maria Amélia de Almeida Teles und ihr Mann César Augusto Teles waren im Dezember 1972 festgenommen und ins Folterzentrum DOI-CODI in der Rua Tutóia in São Paulo gebracht worden, wo sie laut ihrer Aussage von Ustra gefoltert wurden. Die Schwester Amélias und die beiden kleinen Kinder des Ehepaars, vier und fünf Jahre alt, wurden ebenfalls dorthin verbracht. Die Schwester, Criméia de Almeida, damals schwanger im siebten Monat, wurde gefoltert. Den Kindern wurden die Eltern gezeigt, die wegen der erlittenen Folter laut Aussage der Kinder nicht wiederzuerkennen waren, obschon sie wussten, dass es ihre Eltern waren, so die Aussage des Sohnes, Edson Teles. Der ebenfalls verhaftete Carlos Nicolau Danielli, damals führendes Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei von Brasilien, PC do B, wurde im DOI-CODI zu Tode gefoltert.
Der angeklagte Coronel Carlos Alberto Brilhante Ustra bestritt in Interviews die Vorwürfe und blieb der ersten Gerichtssitzung fern. Im Prozess steht Aussage gegen Aussage, jedoch ist ein jahrelang von einem Militär privat verwahrtes Dokument aufgetaucht, welches die Aussagen der Familie Teles stützt. Die im Dezember 2006 erhobene Anklage ist in Brasilien die erste gegen einen Militär wegen Menschenrechtsverbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur. Alle bisherigen zugelassenen diesbezüglichen Klagen richteten sich gegen den brasilianischen Staat. Selbst bei einem Schuldspruch verfolgt die Klage der Familie Teles gegen Ustra weder eine Entschädigung noch eine Bestrafung des Täters, weshalb die Klage – auch nach Ansicht des Gerichts – dem Amnestiegesetz nicht zuwiderläuft, da sie nicht strafrechtlicher, sondern zivilrechtlicher Natur ist. Die Klage gegen Ustra verfolgt die Absicht, von dem Gericht die Erklärung zu bekommen, dass Mitglieder der Familie Teles im DOI-CODI gefoltert wurden und der Coronel als „Folterer“ bezeichnet werden darf.
Nach Ansicht von Lúcio França, Mitglied der Menschenrechtskommission der Anwaltsvereinigung in São Paulo (Comissão de Direitos Humanos da OAB/SP – Ordem dos Advogados do Brasil) könnte jedoch ein Urteilsspruch, der Ustra als Folterer bezeichnet, weitere rechtliche Schritte nach sich ziehen. „Mit solch einem Urteil könnte er von der Staatsanwaltschaft auf die Anklagebank gesetzt werden. Die Staatsanwaltschaft könnte sich kaum weigern, ihn anzuklagen“, erklärt França.

Die Familie Teles kämpft vor Gericht um das Recht, den Folterer als Folterer
bezeichnen zu dürfen.

Auch die Klägerin Maria Amélia de Almeida Teles ist dieser Ansicht. „Wenn er durch die Justiz zum Folterer erklärt wird, dann hat der brasilianische Staat die Pflicht, von ihm alle diesbezüglichen Informationen zu bekommen. Zum Beispiel, wo die Ermordeten und Verschwundenen sind, die immer noch nicht gefunden wurden. Der Ausgang dieses besonderen Prozesses ist zwar vor allem moralischer Natur. Aber die Tatsache, dass er als Folterer verurteilt wird, wird Weiteres nach sich ziehen“, hofft Amélia. Eine Verurteilung Ustras durch die 23. Zivilkammer São Paulos wäre auch politisch sehr bedeutsam, da sie, wie die zum Teil heftigen Debatten in der Presse und die Aussagen diverser PolitikerInnen – sowie einiger Militärs – zum Thema belegen, ebenfalls in der Lage ist, die Diskussion um das bislang unangetastete Amnestiegesetz von 1979 wieder aufzufrischen.

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