Die schier unglaubliche Mobilisierung eines Volkes
LN: Wie erklärst Du die neu erwachten Hoffnungen auf Haiti?
Pierre Toussaint ROY: Auch wenn es seltsam klingt, der erste Grund sind die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sich durch die Gewalt gegen das Volk aufgestaut hatten.
Der zweite Grund ergibt sich daraus, daß die neue Regierung wirklich ein Ausdruck des Volkes ist. Es hat keine politische Partei gewonnen, an die das Volk sowieso nicht glaubt, sondern die Volksorganisationen haben ihren Kandidaten durchgesetzt. Inmitten der Hoffnungslosigkeit haben sich seit ein paar Jahren innerhalb der Kirche BäuerInnen-, Frauen- und Jugendgruppen gebildet. Die konservativen Kreise der katholischen Kirche haben den Armen ihre Strukturen zur Verfügung gestellt und kleine Entwicklungsprojekte gestartet. aber die Leute haben innerhalb dieser Strukturen ihre eigenen Organisationen geschaffen.
Die Volksorganisationen sind jetzt an die Macht gelangt, diese Regierung ist ein Produkt der Arbeit des Volkes. Zuerst waren sie gegen die Wahlen, weil es keine Alternative zu dem Kandidaten der USA gab. Doch als die Tontons Macoutes einen Kandidaten aufstellten, gingen sie auf die Suche nach einem aussichtsreichen Gegenkandidaten.
Aristide hatte schon einige Male abgelehnt. Als er diesmal zusagte, erfüllte er einen ausdrücklichen Wunsch des Volkes. In seiner Arbeit ist er mit dem Volk gegangen, hat mit dem Volk gekämpft und mit dem Volk gelitten. Deshalb stellt er eine Hoffnung dar. Auch wenn kaum Zeit war, um ein klares Regierungsprogramm auszuarbeiten, weil alles so schnell ging.
LN: In welcher Form hat das Volk Aristide unterstützt?
P.T.R.: Das läßt sich an drei Momenten der letzten Monate verdeutlichen, an den Wahlen, dem Putschversuch und der Amtsübergabe.
Haiti hat sechs Millionen EinwohnerInnen. Davon sind drei Millionen wahlberechtigt. Als die USA ihren Kandidaten, Marc Razin, einen ehemaligen stellvertretenden Direktor der Weltbank, aufstellten, erwartete man zwischen 30 und 40 Prozent Wahlbeteiligung. Als die Volksorganisationen Aristide als Kandidaten präsentierten, hatten sich 2 Millionen WählerInnen ins Wahlregister eingeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt blieb nur noch eine Woche bis zur verlangten eine Million Menschen, eingeschrieben zu werden, sodaß die Frist um eine Woche verlängert werden mußte. Es war also von vornherein klar, daß über ein Drittel der WählerInnen für Aristide stimmen würde. Und kein Kandidat konnte auf Wahlveranstaltungen nur ein Zehntel der Menschen zusammenbringen, die zu Aristide kamen.
Genauso spontan mobilisierte sich das Volk beim Putschversuch am 7. Januar. Dort war es deutlich: Ihr Kandidat hatte schon gewonnen und viele Hoffnungen geweckt.
Als die konservativen Kräfte mit dem Putsch versuchten, die Machtübernahme zu verhindern, gingen die Leute auf die Straße. Es war völlig erstaunlich: Ohne irgendeine Koordination reagierten die Leute in allen Landesteilen in gleicher Weise. Sie wissen genau, wer ihr Feind ist. Sie wissen genau, wer ein Tonton Macoute ist. Und so griffen sie sie sofort an. Sie zerstörten ihre Häuser, griffen sie auf und verbrannten sogar viele von ihnen.
Es gibt Versionen, denen zufolge die Militärs ihre Unterstützung für die Tontons Macoutes zurückzogen, als sie sahen, daß die Menschen auf den Straßen zum Äußersten bereit waren. Denn anstatt die reignisse vor dem Fernseher zu verfolgen, griffen die Leute ein. Einige mit ihren Fäusten, andere mit Stöcken. Sie gingen auf die Straßen, blockierten sie mit brennenden Autoreifen und bauten Barrikaden, um die Tontons Macoutes an der Flucht zu hindern. Das Volk bewachte die Barrikaden, verfolgte die Macoutes und bewegte sich auf den Nationalpalast zu. Dort hatten sich die Putschisten verschanzt.
So wurde das gemacht. Und es wurde in Port-au-Prince, in Capo Haitien und an vielen Orten überall so gemacht. Die Leute haben in den letzten sechs Jahren seit dem Sturz der Diktatur darin Erfahrungen gesammelt.
Und vor dem Nationalpalast sammelten sich immer mehr Menschen. Offiziell und auch in den Zeitungen wird behauptet, daß die Militärs nicht am Putsch teilnahmen, daß das Militär nach einem Schußwechsel den Nationalpalast besetzte und die Tontons Macoutes festnahm. Aber die Version der Volksorganisationen ist eine andere.Als der Anführer der Putschisten sich zum Präsidenten erklärte, beschlossen die Leute, zu kämpfen. Die Militärs, die sich nach dieser Version sehr wohl am Putsch beteiligt hatten, verließen den Nationalpalast und zogen sich in ihr Hauptquartier zurück. Von dort aus sahen sie, daß die Menschen viele Tontons Macoputes verbrannt hatten und dabei waren, den Nationalpalast zu stürmen. Mit all ihren Waffen hätten sie nicht Tausende von Menschen aufhalten können, die von allen Seiten kamen. Deshalb beschlossen die Militärs, die Tontons Macoutes zu verhaften.
Die gleichen Menschen gingen auch bei der Amtsübernahme auf die Straße. Dadurch, daß sie schon Tage zuvor die Wohnviertel säuberten, die Straßen schmückten und die Mauern mit Bildern bemalten, zeigten sie ihren Willen und ihre Fähigkeit, sich an der Regierung zu beteiligen.
Und auch Aristide drückte dies bei seiner Rede vor dem Nationalpalast aus. Noch nie hat ein Präsident während einer offiziellen Zeremonie so geredet wie Aristide. Wie auf seinen Predigten fragte er etwas und die Leute antworteten. Zum Beispiel: “Viele Hände?”, und die Menge antwortete: “Erleichtern die Last!”.
Diese ganzen Mobilisationen sind eine Warnung an die konservativen Kräfte und auch an die USA. Sie sollen sehen, daß die Menschen mit ihrem Leben diese Volksregierung verteidigen werden.
LN: Die drei Hauptpunkte in Aristides Programm sind Gerechtigkeit, Transparenz und Partizipation. Auf welche Weise wird sich das Volk an der Regierung beteiligen?
P.T.R.: Dazu muß nur die Verfassung angewandt werden. Sie stammt von 1987 und wurde damals von fast 100% der HaitianerInnen befürwortet. Darin ist festgelegt, daß es außer dem nationalen Parlament mit zwei Kammern auch eine Nationalversammlung der Volksorganisationen geben soll. Sie setzt sich aus RepräsentantInnen der neun Provinzversammlungen zusammen. Diese wiederum werden aus den Kreisversammlungen gebildet. Die neue Regierung sieht vor, daß die Provinzversammlungen von den Gemeinde- und Stadtteilkomitees ausgehen sollen. Diese Komitees gibt es im ganzen Land und sind der vielfältige Ausdruck der Volksbewegung. So ist es im Regierungsprogramm festgelegt, das übrigens “Die Gelegenheit am Schopfe packen” heißt.
LN: Und wie gestaltet sich das Verhältnis zur Kirche?
P.T.R.: Es gibt wie fast überall in Lateinamerika den konservativen Teil der Kirche, dem die Kirche der Armen gegenübersteht, die die Theologie der Befreiung vertritt. In Haiti gibt es drei Bischöfe auf der Seite der Armen, einige Unentschiedene und drei völlig Konservative. Der schlimmste ist der Erzbischof von Port-au-Prince, Francois Ligondé. Und auch hier hat das Volk reagiert.
Am 1. Januar hat Ligondé Aristides beschimpft. Einen Bolschewisten, Sozialisten, Diktator nannte er ihn. Sechs Tage später, beim Putschversuch, erinnerte sich das Volk sofort an diese Worte und bewertete sie im Nachhinein als Signal für die Vorbereitung des Putsches. Deshalb war der Bischof einer der ersten, der am siebten Januar angegriffen wurde.
Zuerst hieß es, er sei im Sitz der Bischofskonferenz. Die Leute gingen hin, plünderten und zerstörten den Sitz. Dann hieß es, Ligondé sei in seinem Haus. Als die Leute dort angelangten, war es schon von Polizisten besetzt, und so gelangten sie nicht hinein. Aber die Polizisten meinten, er halte sich in der alten Kathedrale versteckt. Also gingen die Manschen dorthin und brannten die alte Kathedrale nieder. Und so zog die Menge zu allen Orten, an denen sie den Bischof vermutete, durchsuchte und plünderte sie. Es heißt, daß Ligondé mittlerweile das Land verlassen hat.
Dies zeigt, daß die konservativen Teile der Kirche es nicht leicht haben werden. Außerdem ist die Mehrheit des Volkes innerhalb der Kirche organisiert. Das muß die Kirchenhierarchie akzeptieren. Ihre Beziehungen zur Regierung sind eine andere Sache, das läßt sich noch nicht voraussehen.
LN: Welche Hindernisse wird die Regierung zu bewältigen haben?
P.T.R.: Ein ist völlig klar, den USA geht diese Regierung gegen den Strich. Aber diese Regierung weiß, daß die USA großen Einfluß haben. Sie hat erklärt, daß sie zur Zusammenarbeit bereit ist, gegenseitigen Respekt immer vorausgesetzt. Doch die USA warten erst einmal ab, wie sich die Haitianische Regierung “benimmt”.
Das zweite Problem sind die Tontons Macoutes. Natürlich werden auch sie alles tun, um die Regierung zu stürzen. Aber durch den langen Kampf des Volkes sind sie geschwächt. Der beste Beweis dafür ist ihr gescheiterter Putschversuch vom siebten Januar. Außerdem sind dabei die Anführer der Tontons Macoutes verhaftet worden, und das Volk hat viele von ihnen umgebracht. Und die Regierung hat vom ersten Tag an Schritte gegen die terroristischen Banden unternommen; über einhundert Personen, die sich wegen Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, dürfen das Land nicht verlassen.
Doch das größte Problem ist die Wirtschaftslage. Es müssen Entwicklungsprogramme gestartet werden. Im Regierungsprogramm steht, daß die Mittel innerhalb Haitis ausgenutzt werden sollen. Doch für Haiti ist internationale Hilfe lebensnotwendig. Viele lateinamerikanische Länder, zum Beispiel die “Gruppe der Drei” (Mexiko, Venezuela, Kolumbien) haben angekündigt, wirtschaftliche, politische und soziale Beziehungen zu Haiti zu verstärken. Venezuela wird Öl liefern.
Doch trotzdem wird es viele Probleme geben. Die wirtschaftliche und soziale Situation in Haiti ist fürchterlich. Daher betone ich immer wieder, wie wichtig internationale Solidarität ist. In erster Linie muß es Solidarität von Volk zu Volk geben. Volksorganisationen, Institutionen und Personen, die für das Volk arbeiten, sollen direkten Kontakt zu den haitianischen Volksorganisationen aufnehmen und ihre Projekte unterstützen. Denn unzählige BäuerInnen-, Frauen- und StudentInnengruppen haben Entwicklungsprojekte.
Zweitens muß es auch Unterstützung von Regierung zu Regierung geben. Die Volksorganisationen und die Personen in allen Ländern sollten ihre Regierungen bitten und sie unter Druck setzen, damit sie die Regierung von Haiti unterstützen, aus dieser Misere herauszukommen.
Quellen: Sergio Ferrari, El Dia Latinoamericano 18.2.91