DIE SCHONZEIT IST VORBEI
Nach der Annullierung des Amnestiegesetzes hoffen die Opfer von Verbrechen während des Bürgerkrieges auf eine juristische Aufarbeitung
El Mozote Gedenkstätte für die Opfer des Massakers 1981 (Foto: Archbishop Romero Trust, Johan Bergström-Allen, CC BY 2.0)
„El Salvador stellt sich endlich seiner tragischen Vergangenheit“, kommentierte Erika Guevara Rosas, Direktorin von Amnesty International in Lateinamerika, die Aufhebung des Amnestiegesetzes. „Das Land wendet sich von einem Gesetz ab, das bisher nichts anderes bewirkt hat, als Kriminelle jahrzehntelang vor der Justiz entkommen zu lassen, die reihenweise gegen die Menschenrechte verstoßen haben.“
Über 75.000 Todesopfer ließ der Bürgerkrieg zwischen 1980 und 1992 zurück, in dem eine Koalition mehrerer bewaffneter revolutionärer Gruppierungen, die FMLN (Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí) und die zunächst von einer militärisch-zivilen Regierungsjunta geführten salvadorianischen Streitkräften sich bekämpften. Das Ende des Krieges ist nun 24 Jahre her. Und doch sitzt der Bürgerkrieg den Überlebenden und Angehörigen der Opfer bis heute tief in den Knochen. Kurz nach Beendigung des blutigen Konflikts hatte es noch so ausgesehen, als wäre der Regierung ernsthaft an einer fairen Aufarbeitung der Verbrechen gelegen. Im Rahmen des Friedensvertrags war 1992 auch eine Wahrheitskommission für die Ermittlung von schweren Gewaltdelikten ins Leben gerufen worden. Sie dokumentierte über 13.000 Fälle von Menschenrechtsverletzungen anhand von Berichten von Augenzeug*innen. Laut diesem Protokoll, das die Kommission im März 1993 präsentierte, wurden 85 Prozent der dokumentierten Kriegsverbrechen von den offiziellen Streit- und Sicherheitskräften sowie von rechten Todesschwadronen begangen. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Dokuments wurde daraufhin ein Amnestiegesetz von der 1989 in die Regierung gewählten rechtsgerichteten Partei ARENA (Republikanischen Nationalistischen Allianz) verabschiedet, um die im Dokument genannten Täter*innen zu schützen.
Dieses Amnestiegesetz erklärte der Oberste Gerichtshof El Salvadors im Juli dieses Jahres mit dem Hinweis auf das Recht des Schutzes der Grundrechte sowie das Recht einer umfassenden Entschädigung für die Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen für verfassungswidrig. Dies lässt nun zu, dass neue Untersuchungen hinsichtlich begangener Kriegsverbrechen eingeleitet und im gegebenen Fall vor Gericht gebracht werden können. In der Theorie kann nun auch wieder gegen die im Protokoll der Wahrheitskommission aufgeführten Täter*innen ermittelt werden.
Unter den dort genannten Täter*innen ist beispielsweise Oberst Guillermo Benavides. Am 16. November 1989 hatte er die Ermordung sechs spanischer Jesuitenpriester, einer Reinigungsfachfrau und ihrer Tochter durch Militärkräfte in der Zentralamerikanischen Universität El Salvadors (UCA) veranlasst, die international starkes Aufsehen erregt hatten. 1992 wurde Benavides für das Massaker zu 30 Jahren Haft verurteilt – dank des Amnestiegesetzes kam er jedoch schon ein Jahr später wieder frei. Seine Auslieferung nach Spanien wurde zwar vom Obersten Gerichtshof in diesem August abgelehnt, gleichzeitig stimmte aber die Mehrheit der Richter*innen dafür, dass nun wieder der Stand vor Umsetzung des Amnestiegesetzes gelte, Benavides also erneut inhaftiert werden müsse.
Ein weiterer symbolischer Fall, der schon von der Wahrheitskommission untersucht wurde, ist das Massaker an den Einwohner*innen des Dorfes El Mozote, im Osten El Salvadors. Atlacatl, das Elite-Bataillon der salvadorianischen Armee, ermordete dort etwa eintausend Männer, Frauen und Kinder innerhalb von drei Tagen. Erst im Jahr 2012 bat der damalige Präsident und erster Amtsträger der inzwischen zur Partei gewordenen FMLN, Mauricio Funes, während eines Besuchs in El Mozote um Vergebung und akzeptierte die Verantwortung des Staates für das Massaker. Die Befehlshaber des Atlacatl-Batallions standen aber nie vor Gericht.
Opfer von ähnlichen Verbrechen und deren Familien kämpfen seit 24 Jahren für eine juristische Verfolgung der Morde und Verbrechen. Die Aufhebung der Amnestie ist für sie ein großer Schritt nach vorne. Auch die ehemalige Guerilla FMLN forderte jahrelang die Aufhebung des Gesetzes, während die mutmaßlich selbst in viele Verbrechen verwickelten Partei ARENA dies ebenso lange Zeit strikt abgelehnt. Doch nachdem das Urteil das Amnestiegesetz nun aber tatsächlich aufgehoben und als verfassungswidrig erklärt hat, positionierten sich sowohl die eine als auch die andere Partei dagegen. So betrachtet die FMLN den Gerichtsentscheid als Drohung gegen das ehemalige Führungspersonal der Guerilla, deren Mitglieder jetzt in der Regierung, im Parlament und in der Führung der Partei sitzen. Der salvadorianische Verteidigungsminister hielt die Entscheidung gar für einen „politischen Fehler“. Präsident Salvador Sánchez Cerén – einer der ehemaligen Befehlshaber der Guerilla – hatte sich wiederum eigentlich in seiner politischen Karriere von Anfang an gegen Straflosigkeit positioniert. Zwei Tage nach dem Urteil erklärte er jedoch seine Sorge, dass diese Entscheidung gefährlich für die „fragile Koexistenz“ der ehemaligen und heutigen Konfliktparteien, insbesondere den FMLN- und ARENA-Anhänger*innen sein könnte. Die Regierung machte daher auch gleich den Vorschlag, ein neues „Gesetz für die nationale Versöhnung“ als Ersatz für das aufgehobene Amnestiegesetz durchzusetzen: Nach dem blutigen Konflikt sei Versöhnung der einzige Weg, um den Frieden aufrechtzuerhalten. Von ARENA gab es dafür prompt Beifall.
Ob Gerechtigkeit und Rechenschaft im Namen eines tatsächlich zerbrechlichen Friedens geopfert werden sollen, scheint vielen – besonders den Opfern – allerdings zweifelhaft. Straflosigkeit ist in ihren Augen keine Grundlage für eine neue Demokratie. Hinzu kommt, dass die Aufhebung des Amnestiegesetzes längst noch keine automatische Strafverfolgung bedeutet. Die Opfer oder die Generalstaatsanwaltschaft müssten die Verbrechen anzeigen, wenn ihnen an deren Bestrafung liegt.
Der Mut und die Bereitschaft der Überlebenden und deren Familien, für Gerechtigkeit zu kämpfen, scheinen unterdessen unerschütterlich. Sie haben schon vor Ende des Krieges begonnen, mit Menschenrechtsorganisationen zusammenzuarbeiten, um die Täter*innen vor Gericht zu bringen. Die Opfer des Sumpul Massakers, bei dem zu Beginn des Krieges über 300 auf der Flucht befindliche Frauen, Männer und Kinder von den salvadorianischen Streitkräften ermordet wurden, fordern seit 1980 die Untersuchung und Strafverfolgung des Verbrechens. Sie hatten bereits 2013 eine formelle Petition bei der Generalstaatsanwaltschaft eingereicht, die damals ignoriert wurde. Ähnliche Anträge könnten aber aufgrund der neuen Gesetzeslage zu einer juristischen Aufarbeitung führen.