Deutschland | Dossier 21 - Das Gleiche in Grün | Mexiko

Die tote Erde wiederbeleben

Landwirt*innen kämpfen gegen die Abhängigkeit von künstlichen Energiespritzen durch fossilbasierte Dünger

In den vergangenen 60 Jahren ist die weltweit vorherrschende Lebensmittelindustrie süchtig nach künstlichen Energieinjektionen durch fossilbasierte Stickstoffdünger geworden. Doch der durch die Agrarindustrie eingeführte zusätzliche Energieverbrauch ist vermeidbar: Weltweit treiben Bäuer*innen eine Umstellung auf ökosystembasierte Düngemethoden voran. Dadurch kann der Energiebedarf für die Erzeugung von Nahrungsmitteln enorm reduziert werden. Durch den Verzicht auf fossilbasierte Technologien stellen nachhaltige Alternativen der Lebensmittelproduktion konkrete Praktiken der Transformation und Regeneration im Sinne einer breiten, konsequenten Energiewende dar, die über die Umstellung auf „grüne Energieproduktion“ hinausgeht. Diese Reportage begleitet Landwirte in Mexiko und Deutschland auf ihrem Weg, die Bevölkerung langfristig energieeffizienter mit Nahrung zu versorgen.

Von Gibran Mena Aguilar, Tecomaxtlahuaca/Breddin (Übersetzung: Tininiska Zanger Montoya)
Verwüstete Landschaften sind ein Resultat der Abhängigkeit künstlicher Dünger (Foto: Gibran Mana Aguilar)

Im Dorf säen die Menschen immer noch barfuß, in Kontakt mit dem Boden. Doch seit 40 Jahren regnen chemische Düngemittel auf die Erde herab. Sie sind bei direktem Hautkontakt giftig und haben auch die Erde, die sie berühren, trocken und steril gemacht. „Wenn dieses Land noch etwas hervorbringt, dann deshalb, weil es gezwungen wird“, sagt Lorena Solano García. Die Bäuerin sitzt auf einem Stück Land, das ihr nicht gehört: Sie hat den Grund und Boden in San Sebastián Tecomaxtlahuaca („Teco“), einem Indigenen ñuu savi-Dorf, für den Anbau gepachtet. Die Menschen hier sind Holzschnitzer*innen, Tänzer*innen, Produzent*innen und Konsument*innen von Zuckerrohrschnaps. Viele der 15.000 Einwohner*innen dieser Ortschaft in der Region Mixteca im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca leben, wie Lorena, von der Landwirtschaft. Als sie acht Jahre alt war, lernte sie zu säen, wie es in der Mixteca seit mindestens 3.500 Jahren gemacht wird: Vier Samen von weißem, rotem, gelbem oder blauem Mais und ein oder zwei von roten Bohnen. Mit den Füßen werden die Furchen mit Erde bedeckt. Nach vier langen Schritten wird erneut gesät, „damit die milpa (hier beschriebenes, traditionelles Landwirtschaftssystem, bestehend aus einer Polykultur, Anm. d. Red.) nicht zu einem Haufen zusammenwächst und dazwischen Kürbis gesät werden kann.“

Damit die Ernte wachsen und reichlich ausfallen konnte, war es in Lorena Solano Garcías Kindheit notwendig, gleich nach dem ersten Regen zu säen. Die Nachbar*innen wurden zu einem solidarischen Anbau eingeladen. Als Dank erhielten die helfenden Hände totopos (frittierte Maistortilla, Anm. d. Red.) und mole, eine Mischung aus Chilischoten mit Schokolade, Truthahn und Bier.

Lorena hat auch gelernt, wie man den Boden nahrhaft und feucht für die Pflanzen macht: Die Reste der Maispflanzen der letzten Ernte werden auf den Boden verteilt und zersetzen sich mit der Zeit, zusammen mit den Abfällen des Viehs, alles wird vermischt. Dann lässt man in Teco die Regenwürmer und Mikroorganismen ihre Arbeit machen: Sie fressen die organischen Stoffe und wandeln sie in Kalium, Stickstoff und andere Nährstoffe um. Käferlarven finden dadurch Nahrung im Boden und zersetzen diese, anstatt sich den Wurzeln des Maisstrauchs zuzuwenden – ein System natürlicher Pestizide und Dünger.

„Früher haben wir ohne chemische Düngemittel gesät, und die milpa war sehr ertragreich. In letzter Zeit gibt die Anbaufläche einfach nichts mehr her, wenn man sie nicht düngt“, sagt Abel Arnulfo Guzmán, ein 87-jähriger Bauer, der seit 80 Jahren in Tecomaxtlahuaca anbaut. Heute sind seine Sorgen, Lorena Solano Garcías und die anderer Bäuer*innen in Oaxaca dieselben: Das Land ist von den Chemikalien abhängig geworden, und damit auch die Landwirt*innen, die Schlange stehen, um das Produkt über staatliche Subventionsprogramme zu erhalten.

Fossile Energiespritzen statt Wechselwirkung der Arten

Die Abhängigkeit von chemischen Düngemitteln, insbesondere Stickstoffdünger, in Tecomaxtlahuaca ist keine Ausnahme und hat verheerende Auswirkungen. Der Anbau und Konsum von industriell gedüngten Pflanzen verursacht durch Krankheiten, Bodendegradation, Verlust der biologischen Vielfalt, Schadstoffemissionen und Wasserverschmutzung jährlich Kosten um die 12.7 Billionen US-Dollar , so ein Bericht der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen (FAO). Die Wurzel des Problems ist das Grundprinzip dieses Produkts: die Ersetzung des Prozesses des Energieaustauschs zwischen verschiedenen Arten in Ökosystemen durch eine künstliche Energiezufuhr.

Das Herzstück der von Völkern wie dem mixtekischen angewandten Anbautechniken, die das Zusammenspiel verschiedener Arten zur Erzeugung und Mobilisierung von Energie nutzen, sind mikrobielle Gemeinschaften und ein umfangreiches Netzwerk von Arten, wobei die Sonne die wichtigste Energiequelle darstellt. Doch in den 1980er Jahren kam in den Autos der Straßenhändler*innen von Oaxaca ein Produkt an, das alles veränderte: Nur mit einem Pulver würden die Bäuer*innen die Produktion auf dem Land vervielfachen, so das Versprechen. Und so war es auch, eine Zeit lang. Aber wenn die Sonne und der durch die Photosynthese angetriebene Austausch zwischen den Arten nicht mehr der Motor der Energie ist, woher kommt dann die Energie dieses Wundermittels?

Energieintensive Düngerproduktion

Die Antwort liegt in der Haber-Bosch-Reaktion aus Deutschland. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fixierte der preußisch-deutsche Chemiker und Nationalist Fritz Haber zum ersten Mal Stickstoff in einem Labor. Die Arbeit des sogenannten Vaters der chemischen Kriegsführung wurde von seinem Kollegen Carl Bosch, einem Mitarbeiter der Firma BASF, aufgegriffen. Jener setzte die Reaktion in industriellem Maßstab zur Herstellung von Düngemitteln und Sprengstoffen ein. Die Haber-Bosch-Reaktion wird aus fossilen Brennstoffen wie Erdgas gewonnen. Die Herstellung des finalen Produkts geht mit Erhitzungsprozessen von bis zu 1.000 Grad Celsius einher, bevor letztlich Stickstoffdünger in die Säcke gelangt, die die Landwirte erhalten. Die Düngemittelproduktion benötigt daher enorme Energiemengen: Sie beansprucht die Hälfte der gesamten Energie im agroindustriellen Prozess und drei Prozent des weltweiten Gesamtenergieverbrauchs. Dieser enorme Energieverbrauch wird allerdings in der Regel nicht in den Berechnungen der Energieausgaben der landwirtschaftlichen Unternehmen berücksichtigt, wie aus dem jüngsten UN-Dokument zur globalen Ernährung und Landwirtschaft hervorgeht.

Während dieses Produktionssystem große Mengen an Energie verbraucht und fünf Prozent der weltweiten Kohlenstoffemissionen erzeugt, schwächt es gleichzeitig den Schutzschild des Ökosystems gegen die Klimakrise. Die Injektion fossiler Energie in den Boden erzeugt verheerende Schäden am ursprüngliche System der Nährstoffproduktion und -übertragung: Düngemittel zerstören die mikrobiellen Gemeinschaften, die für die Zersetzung organischer Stoffe und die Ernährung der Pflanzen verantwortlich sind. Sie versauern den Boden und verarmen letztlich den Nährstoffgehalt der mit diesen Chemikalien erzeugten Pflanzen.

Die in das System eingespeiste Energie, so das Ergebnis einer Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), steigert die Produktion bis zu einem bestimmten Punkt und senkt sie dann. Und sie verdammt künftige Generationen dazu, kein Land und keine Ernten zu haben. Die Energiekosten für Düngemittel und deren negative Konsequenzen werden von der Industrie bei den niedrigen Preisen für das von ihnen verkaufte Gemüse nicht berücksichtigt. Der Grund dafür, so der agrarökologische Landwirt Frank Wesemann, ist, dass die Industrie nicht dafür bezahlen muss – die Kosten für die verursachten Umwelt- und Gesundheitsschäden sind ausgelagert.

Eine Subventionierung von Krankheiten

Noch dazu subventionieren viele Regierungen weltweit die nicht nachhaltige, industrielle Lebensmittelproduktion auf Basis chemischer Dünger. Diese Subventionierung ist eine Subventio­nierung von Krankheiten. Dabei wird die Rechnung in Billionenhöhe langfristig auf die Verbraucher*innen und die Ökosysteme abgewälzt und von der verursachenden Industrie ferngehalten. Währenddessen erhalten Landwirt*innen, die die Böden ohne Düngemittel regenerieren, nichts im Gegenzug für ihre Leistungen für die Ökosysteme. „Politiker, die immer vom freien Markt sprechen, verteidigen gleichzeitig die Agrarindustrie und tun alles, um diese Kostenverzerrung mit Strukturen aufrechtzuerhalten, die sie aus den Unternehmen auslagern“, kritisiert Frank Wesemann.

Anbau onhe chemische Dünger Lorena, Frank und Abel verfolgen ähnliche Ziele an unterschiedlichen Orten der Welt (Fotos: Gibran Mana Aguilar)

„Kein Produktions-, sondern ein Verteilungsproblem“

Für ihn wie für die Bewohner*innen von Tecomaxtlahuaca ist die Erzählung von der Notwendigkeit chemischer Düngemittel Teil einer großen Täuschung. Während die Erde und die Bäuer*innen süchtig wurden, verschwanden die Lieferant*innen mit vollen Geldbörsen und ließen das dürre und ausgepresste Land zurück. Statt das natürliche Kreislaufsystem zu nutzen, führte die Agroindustrie zusätzliche Energiekosten für die Düngemittelproduktion ein. Auf beiden Seiten der Welt haben die Landwirt*innen die Nase voll und kämpfen darum, das Land zu rehabilitieren – ein Beitrag zur Energiewende, der darin besteht, den unnötigen Energieverbrauch durch Düngung zu stoppen, die Erde erneut mit Leben zu füllen und so das natürliche Energieaustauschsystem wiederherzustellen. Sie zeigen, wie Anbau energieeffizienter und regenerativ funktionieren kann. Seit 30 Jahren betreibt Frank Wesemann das solidarische Permakultur-Anbauprojekt Solawi Wald­garten in Deutschland, dem Geburtsland des chemischen Düngers, ohne das zu verwenden, was er als „Gift“ bezeichnet. „Wir haben kein Produktionsproblem, sondern in erster Linie ein Verteilungsproblem. Die einen werden krank, weil sie viel mehr als nötig und auch die am wenigsten nahrhaften Lebensmittel essen, die anderen, weil sie zu wenig essen. Dabei landen 30 Prozent dessen, was die industrielle Landwirtschaft produziert, direkt im Müll“, setzt er in einem Interview auf seinem Hof in Brandenburg dem Mythos entgegen, nur die Agrarindustrie könne die Bevölkerung ernähren. Mit zwölf Hektar Land versorgt er mehrere hundert Familien in seinem Dorf und in Berlin mit Gemüse. Wesemann hat es geschafft, einen kleinen Waldgarten (permakulturelle Anpflanzungsform auf Basis der gegen­seitigen Abhängigkeit verschiedener Pflanzen und anderer Organismen, Anm. d. Red.) anzupflanzen, der auf Grundlage eines solidarischen Systems mit Abnehmer*innen auf dem Land und in der Stadt verknüpft ist. Die Vision, die er verwirklicht hat, ist ein lebendiges Zeugnis dafür, dass eine Bepflanzung ohne Düngemittel möglich ist.

Zurück zu milpa und mole

Die Agrarindustrie hat Lorena Solano García aus der Mixteca die Möglichkeit genommen, ihre Bioprodukte zu verkaufen, weil sie mit den Kosten nicht mithalten konnte. Nach und nach musste sie alle ihre Tiere verkaufen. So ging ihr der ökologische Dünger für ihr Land aus. Sie sah sich dazu gezwungen, chemische Düngemittel zu verwenden. Aber in der letzten Zeit ändert das Dorf seine Gewohnheiten und pflanzt wieder ohne Chemikalien an. „Einige Nachbarn sagen mir immer noch, ich sei verrückt. Das dachte ich früher auch, wenn ich meine Onkel beim Maisanbau sah. Aber wir, die wir unser Land lieben, haben erkannt, dass unsere Großeltern Recht hatten“, sagt Armando Vazquez, ein Nachbar.

Seit fünf Jahren stellt Vazquez den Boden mit einer Mischung aus Maisstängeln, Hühner- und Ziegenmist wieder her. Außerdem legt er die Furchen in Kurven an, damit Wind und Regen bei Stürmen nicht die gesamte organische Substanz von der Oberfläche spülen. Er kehrt zur mixtekischen Art der Aussaat zurück. Allmählich beginnt das Verfahren, Wirkung zu zeigen. „Früher habe ich 10 oder 15 Kilo der Chemikalie zugegeben, heute ist ein Kilo zu viel, oft gebe ich nur ein halbes Kilo zu. Das Ziel ist, gar keine Chemikalien mehr zu benutzen“, sagt er.

Die Lehrerin Leticia Guzmán Cortés pflanzt ebenfalls Gemüse an, seit sie acht Jahre alt ist. Sie nimmt eine Rückkehr zum Wunder der mixtekischen Pflanzung wahr, und mit ihr kommen die mole, die Feste, die Geselligkeit zurück. All das, was in der Mixteca geblieben ist und was die Chemikalien zerstören wollten. „Bald werden wir ernten, wir werden mole essen, sagten wir in Vorfreude auf das Essen. Die Männer, die bei der Aussaat halfen, oder die Frauen, die uns beim Tragen der Lebensmittel halfen, brachten ihre Kinder mit. Wir versammelten uns alle dort, nah an den Flüssen, und gingen dann schwimmen. Alles war mit viel Liebe und Glück gesät“, erinnert sie sich. „Gut und gesund werden wir sein“, blickt auch Lorena Solano García mit Enthusiasmus darüber in die Zukunft, das tote Land wiederzubeleben und zu säen.

Gibran Mena Aguilar ist Datenjournalist*in mit Fokus auf den Themen Umweltgerechtigkeit, Landwirtschaft und Gender und hat unabhängige Journalist*innen in 11 Lateinamerikanischen Ländern zu diesen Themen ausgebildet. 


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