Mexiko | Nummer 343 - Januar 2003

Die Toten von Ciudad Juárez

Eine Mordserie an Frauen aus den Armenvierteln wird von den Ermittlungsbehörden ignoriert

Seit 1993 spielt sich in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez eine nicht enden wollende Tragödie ab. Annähernd dreihundert tote und fünfhundert vermisste Frauen wurden bisher regisitriert. Desinteresse und schleppende Strafverfolgung behindern die Ermittlungen und es ist wahrscheinlich, dass die Morde mit Wissen oder sogar unter Komplizenschaft von Polizei und Behörden begangen werden. Die Angehörigen versuchen sich gegen die Ignoranz der bundesstaatlichen Regierung zu organisieren, um die Morde aufzuklären und dem Verbrechen ein Ende zu setzen.

Anders Schneider

Zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen am 25. November wurde in Mexiko zu Demonstrationen, Diskussionsrunden und kulturellen Veranstaltungen aufgerufen, um das Schicksal von 287 ermordeten und 500 vermissten Frauen in Ciudad Juárez publik zu machen. Seit 1993 reist die Kette der Gewalttaten nicht ab, jeder Fall ist für sich eine Tragödie: für die Angehörigen, die Freunde und für die mexikanische Gesellschaft. Es scheint, als stünde man vor einem düsteren Mysterium, doch was sich dort ereignet ist durchaus real.

Viele Hypothesen, keine Untersuchungen

Die aufgefundenen toten Frauen stammen alle aus marginalisierten Bevölkerungsschichten, waren in den meisten Fällen zwischen 10 und 22 Jahren alt, schlank und hatten dunkles langes Haar. Von manchen wurden nur noch Skelettreste in der die Stadt umgebenden Wüste aufgefunden, andere Körper fand man grausam geschändet. Vergewaltigt, erstochen, erwürgt und verstümmelt. Die Körper voller Bisswunden, Schädel und Gesicht zerschlagen, die Haare ausgerissen. Die Hypothesen über die Hintergründe der Tötungen sind zahlreich. Von Serienmord ist die Rede und von Verbindungen mit dem Drogenhandel. Vermutungen über Zusammenhänge mit dem Organhandel gibt es ebenfalls. Rituelle Zeichen auf den Körpern geben Grund zu der Annahme, dass Produzenten von sadistischen Videos, die in den USA verbreitet sind, mit den Morden zu tun haben.
An Vermutungen und Hypothesen mangelt es nicht in Ciudad Juárez, wohl aber an Ermittlungen der zuständigen Stellen. Es ist offensichtlich, dass sich die über so viele Jahre hinweg begangenen Morde nicht ohne das Wissen oder gar die Komplizenschaft von Polizei und Behörden ereignet haben können. Statt Untersuchungen einzuleiten, ziehen die staatlichen Autoritäten es jedoch weiterhin vor, die Opfer zu beschuldigen, indem sie den Frauen vorwerfen, dass sie aufreizende Kleidung trugen und dass sie Prostituierte gewesen seien. Die Familien der toten Frauen erfahren so doppeltes Leid.

Das Leben in Ciudad Juárez

Das Leben der jungen Frauen zählt wenig für die Behörden und die Aufklärung ihrer Morde drängt nicht. In vielen Fällen waren sie Arbeiterinnen in den maquiladoras, jenen Fertigungsstätten US-amerikanischer Firmen, die in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Grenzstadt wollte ein Beispiel für den Entwicklungserfolg Mexikos werden. Auch wenn in den maquiladoras zu Billiglöhnen gearbeitet wird, schienen die Aussichten auf einen Mindestverdienst für die meisten der heute toten oder verschwundenen Frauen besser als die Misere in den südlichen mexikanischen Bundesstaaten. Viele Frauen und Männer migrieren in die heutige Millionenstadt. Das Lebensniveau ist niedrig, es fehlt an Wasserversorgung und Abwassersystemen, die Gesundheitsversorgung ist mangelhaft. Durch die rasende industrielle Entwicklung haben sich hier dreizehn Industrieparks und über 360 maquiladoras angesiedelt, die ArbeiterInnen leben aber, so wie der größte Teil der Bevölkerung, in Armut. Für Frauen ist die Situation besonders prekär. Herausgerissen aus den traditionellen Familienstrukturen in ihren Herkunftsregionen verdienen sie in den maquiladoras häufig das einzige Einkommen für ihre Familien. Um die Anstellung nicht zu verlieren, gehen sie auf alle Forderungen der Firmen ein, die sie bevormunden und tyrannisieren. Eine Schwangerschaft beispielsweise hat die sofortige Entlassung zur Folge. Die Nachtschichten in den Fabriken setzen die Frauen besonderer Gefahr aus, da sie sich um drei Uhr morgens schutzlos in den Straßen von Ciudad Juárez bewegen müssen.

“Ineffizient, inkompetent, gleichgültig, unsensibel und nachlässig”

Die Regierung des Bundesstaates Chihuahua tut kaum etwas um die Bedingungen in Ciudad Juárez zu verändern. Vom Sonderberichterstatter für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Dato’Param Coomaraswamy, wurden die Untersuchungen im Falle der toten Frauen von Ciudad Juárez als „ineffizient, inkompetent, gleichgültig, unsensibel und nachlässig” bezeichnet.
Die Chronologie der Ermittlungen bestätigt dieses Urteil. Im Jahr 1995 wurde der Ägypter Omar Latif Sharif unter dem Verdacht festgenommen, neunzig der Morde an Frauen aus Ciudad Juárez begangen zu haben. Nach seiner Festnahme wurden weitere Frauen vermisst und weitere Tote gefunden. 1996 kündigte die Polizei an, der Fall sei nun gelöst, man habe einen Bande festgenommen, deren Anführer angeblich jener Omar Latif Sharif gewesen war. Doch die Morde gingen weiter. Im März 1999 wurden dann Geständnisse von fünf LKW-Fahrern veröffentlicht. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass sie unter Folter zur Aussage gezwungen wurden. Später wurde einer ihrer Anwälte von der Polizei erschossen. Die Morde gingen weiter, auch in diesem Jahr.
1998 richtete die Landesstaatsanwaltschaft von Chihuahua eine Spezialabteilung ein, die sich mit der Aufklärung der Fälle beschäftigt. Die derzeitige Regierung unter Patricio Martínez von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) beteuert stetig, dass alle unter ihrer Administration begangenen Verbrechen aufgeklärt seien und gibt die Verantwortung an die vorherige Regierung von Francisco Barrio der Partei der Nationalen Aktion (PAN) ab.
Von verschiedenen Organisationen wurde der Bundesstaatsanwaltschaft bei ihren Untersuchungen Fahrlässigkeit nachgewiesen. Nur selten wird der genaue Fundort der toten Körper registriert. Die nötigen DNS-Proben zur Identifikation der Frauen werden nicht vorgenommen und in vielen Fällen wurde nicht einmal eine Akte angelegt.

Druck der internationalen Gemeinschaft

Während die Regierung in Chihuahua versucht, die Morde herunterzuspielen, steigt inzwischen innerhalb der internationalen Gemeinschaft die Besorgnis über die Vorgänge in Ciudad Juárez. Im September 2002 forderte das von der UNO eingesetzte „Komitee für die Beseitigung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen“ (CEDAW) die mexikanische Regierung auf, eine Empfehlung der Nationalen Menschenrechtskomission aus dem Jahr 1998 endlich umzusetzen. Darin wird unter anderem gefordert, dass Verfahren gegen bestimmte Beamte eröffnet werden sollen, die Unregelmäßigkeiten in den Ermittlungen zu verantworten haben. Keiner der insgesamt acht Punkte wurde bisher von den zuständigen Behörden umgesetzt. Auch Amnesty International hat sich des Falles angenommen und erklärte vor kurzem: „Die verschiedenen für die Untersuchungen zuständigen Organismen und Autoritäten können nicht weiterhin ihre Verantwortung leugnen und behaupten, sie wären in diesem Fall nicht zuständig. Die schreckliche Serie von Morden erfordert eine gemeinsame Antwort aller staatlichen und bundesstaatlichen Institutionen, die deutlich macht, dass die Morde nicht weiter toleriert werden.”
Die Angehörigen der Opfer engagieren sich in verschiedenen Organisationen, um das allgemeine Desinteresse zu durchbrechen und dafür zu sorgen, dass die Verbrechen endlich aufgeklärt werden, doch nur selten bekommen sie Gehör. Von der Regierung ignoriert, erhalten sie, wie im Falle der Organisation „Nuestras Hijas de Regreso a Casa, A.C.”, sogar Drohungen und Einschüchterungsversuche. Die Proteste der internationalen Gemeinschaft werden den Autoritäten ungemütlich und stellen für die Angehörigen eine wichtige Unterstützung dar. Die Bevölkerung von Ciudad Juárez wartet indes noch immer auf den Tag, an dem junge Frauen und Mädchen dort ohne Sorge leben können.
Anders Schneider

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