Antigua & Barbuda | Gesundheit | Literatur | Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002

Die Unabwendbarkeit des frühen Todes

Jamaica Kincaids autobiographische Erzählung Mein Bruder

In ihrem Buch Mein Bruder erzählt Jamaica Kincaid von der Krankheit und dem Tod ihres jüngsten Bruders Devon, der mit 33 Jahren auf der Insel Antigua an Aids starb. Die nachträgliche Erinnerung an das Leiden des Bruders wird zu einer allgemeinen Suche nach Sinn. Gleichzeitig ist sie eine scharfe Beobachterin und beschreibt ihre Fassungslosigkeit angesichts des dortigen Gesundheitssystems und der Gesellschaf, welche Menschen, die mit dem HIV-Virus infiziert sind, keine Zukunft einräumt.

Marianne Dörmann

“Als ich meinen Bruder nach langer Zeit wiedersah, lag er in einem Bett des Holberton Hospitals, auf der Station Gweneth O‘Reilly, und es hieß, er würde an Aids sterben.“

Der Tod des Bruders

So beginnt Jamaica Kincaids autobiographische Erzählung über den Tod ihres jüngeren Bruders Devon, der mit 30 Jahren an Aids erkrankte und daran drei Jahre später starb. Als die Erzählerin von seiner Krankheit erfährt, besucht sie ihn sofort auf ihrer Heimatinsel Antigua und beendet den für sie als Selbstschutz wichtigen Rückzug von der Familie, den sie brauchte, um Abstand von der Familie und der Insel zu gewinnen. Sie bringt ihm das für ihn anfangs lebensrettende Medikament AZT, das es auf Antigua nicht gibt, und sorgt dafür, dass er von Fachärzten untersucht wird. Trotz dieser Geschäftigkeit lässt sie die Konfrontation mit seinem nahenden Tod in ein tiefes Loch fallen. Um nicht gänzlich zu versinken, beschäftigt sich die Erzählerin mit Erinnerungen und mit tiefer gehenden Fragen, die vor allem ihr Verhältnis zu dem Bruder und der Familie betreffen. Sie versucht herauszufinden was sie, die mit sechzehn die Insel verlassen hat, überhaupt mit ihm verbindet. Sie möchte seinem Leben, das sich zwischen Leben und Tod bewegt, auf ihre Art einen Sinn geben, indem sie darüber schreibt.
Es fällt ihr schwer, nach ihren Kategorien einen Sinn im Leben des Bruders zu finden. Die Läuterung angesichts des Todes bleibt bei ihrem Bruder aus. Mit völligem Unverständnis registriert sie sein Verhalten nach den ersten Zeichen von Genesung, als das AZT Wirkung zeigt. Er setzt sein vergangenes Leben wie gehabt fort, unselbständig und oberflächlich berauscht er sich weiterhin mit Drogen und lebt in den Tag hinein. Sie erfährt, dass er mit Frauen ungeschützt Geschlechtsverkehr hatte, woraufhin er ihr erklärt, dass er nicht länger als 14 Tage ohne Sex leben könne und außerdem bezweifele, den HIV-Virus weiterhin in sich zu tragen.
Dieses Unverständnis über das Verhalten ihres Bruders beginnt Kincaid im zweiten Teil des Buches zu ergründen: durch verschiedene Sichtweisen, die zwischen Distanz und Nähe pendeln, versucht sie sein, aber auch ihr Leben von allen Seiten zu beleuchten. Das führt sie dazu, tiefer nachzuspüren, sich einzugestehen, dass der anfängliche Anflug von Zärtlichkeit, in dem sie meinte ihn zu lieben, vorschnell war. Sie verließ die Insel, als der Bruder drei Jahre alt war, und kam erst nach einer Zeitspanne von 20 Jahren das erste mal zu Besuch.
Und dennoch ist sie dem Bruder nah, durch seinen bevorstehenden Tod, der ihr mehr zu schaffen macht als jemals zuvor ein Tod. Beide verbindet die selbe Mutter, mit der alle Kinder zeitweise nicht reden, weil sie ihnen keinen Freiraum lässt, und von der sich die Erzählerin erneut abgrenzen muss. Durch die Situation auf der Insel, die auch ihr Leben beeinflusst hätte, wäre sie dort geblieben und auch weiterhin beeinflusst hat, obwohl sie fortgegangen ist. Inzwischen trennt sie jedoch die Sprache: „Er sprach mit mir mit seinem vorgeschütztem englischen Akzent, machte sich lustig darüber, wie ich mittlerweile sprach, doch war es, glaube ich, nicht boshaft gemeint“.

Zynische Gesundheitspolitik

Jamaica Kincaid spricht in ihrer Erzählung mit klaren Worten aus, wie sehr der Umgang mit der Krankheit Aids gesellschaftlich geprägt ist, und dass es auf Antigua keine Lobby für die Betroffenen und daher keine Medikamente gibt, die das Leiden lindern könnten. Man ist daran gewöhnt, das Patienten, die mit dem HIV-Virus infiziert sind, zwangsläufig an der Krankheit sterben. Diese Zwangsläufigkeit ergibt sich aus den begrenzten finanziellen Mitteln des Gesundheitssystem aber vor allem aus der Haltung, dass man die finanziellen Mittel besser da ausgeben solle, „wo sie Gutes tun, und nicht dort, wo das Ergebnis bekanntermaßen der Tod ist“. Die Patienten werden mit einer gewissen Verachtung behandelt, da die HIV-Positiven mit einem ausschweifenden Sexualleben in Verbindung gebracht werden, welches jedoch, solange nichts passiert, Lob und Anerkennung erfährt. Ehemals Bekannte und Freunde wenden sich ab und auch Aufklärungsarbeit und Selbsthilfegruppen führen kurzfristig nicht zu einem anderen Umgang mit der Krankheit, auch nicht bei den Betroffenen selbst.

Die Suche nach Wahrhaftigkeit

Die Autorin, aufgewachsen als Elaine Potter Richardson auf Antigua, ging mit 17 Jahren als Au Pair nach New York. Seit 1973 benutzt sie ihren Künstlernamen Jamaica Kincaid, unter dem sie ab Ende der 70er Jahre regelmäßig in der Zeitschrift „The New Yorker“ publizierte. Sie veröffentlichte seit Mitte der 80er mehrere Bücher mit oftmals autobiographischen Elementen und der Thematisierung des Konflikts zwischen Herkunfts- und Lebensort, was ihr bereits früh Auszeichnungen einbrachte und sie zur Vertreterin einer neuen karibischen Literatur machte.
Ähnlich wie in ihrem Roman Annie John, in dem die Dynamik zwischen Liebe und Streit mit der Mutterfigur metaphorisch gedeutet werden kann, zeichnet auch dieser neue Roman Mein Bruder trotz seines mit dem Tod ihres Bruderssehr persönlichen Hintergrund ein Bild großer Allgemeingültigkeit. Die Abhängigkeit des Bruders von der Mutter aufgrund seiner Krankheit, der Versuch, wirtschaftlich auf die Beine zu kommen, aber immer wieder in dem Vorhaben zu scheitern, ist oftmals so überzeichnet, dass es sich metaphorisch liest: Der Insel gelingt es nicht, Eigenes zu schaffen, viel zu stark war von jeher die Abhängigkeit von England, von den ehemaligen Kolonialherren.
Diese weit reichende Lesart, die Dynamik zwischen Nähe und Distanz und die Suche nach einer tieferen Wahrheit aufgrund der Grenzerfahrung, die sie durch die Krankheit und den Tod des Bruders macht, verleihen dem Buch Mein Bruder eine Tiefe, die es lesenswert macht. Der Autorin gelingt eine Auseinandersetzung mit der Krankheit und dem Tod, ohne pathetisch zu werden.
Die Sprache ist präzise und immer weiter wagt sie sich vor in kühne Beschreibungen und Erinnerungen, die nachhaltige Bilder hinterlassen. Schonungslos und plastisch beschreibt sie die Wunden, die der Bruder im Laufe seiner Krankheit bekommt, als versuche sie zu ergründen, warum ein junger Mensch so zugrunde gehen muss, dazu noch ohne große Hilfe von außen. „Mein Bruder starb. Ich war darauf vorbereitet, manchmal glaubte ich, es wäre gut, wenn er einfach sterben könnte“.

Jamaica Kincaid: Mein Bruder. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002. 172 Seiten, 8,90 Euro.

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