Mexiko | Nummer 406 - April 2008

Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie war

Die Bewegung von 1968 bedeutete eine Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Intelligenzija und Bevölkerung

Luis Hernández Navarro ist Kolumnist der mexikanischen Tageszeitung La Jornada. In seinem Essay vertritt er die These, dass eine der wichtigsten Konsequenzen der Bewegung von 1968 die Entstehung einer neuen Intelligenzija war, die auf die Masse der Bevölkerung zuging. Er beleuchtet die daraus entstandenen sozialen Bewegungen, von denen einige durch ihren soziopolitischen Charakter zum Teil bis in die Gegenwart hineinwirken.

Luis Hernández Navarro, Übersetzung Anke Rauffenbeul

Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie mal war. Das zeigen die Gedenkfeiern zum 40jährigen Jubiläum der Studierendenbewegung von 1968, da die Diskussion um Bedeutung und Reichweite der damaligen Kämpfe im Zentrum der aktuellen nationalen Debatte steht. Kollektives Gedächtnis und massive Popularisierung haben die Ereignisse von 1968 zu zentralen Bezugspunkten im politischen und kulturellen Diskurs gemacht, da sie einen Bruch im politischen System Mexikos erzeugt haben. Im Gegensatz zu früheren Bewegungen verursachte die Niederschlagung der Bewegung von 1968 eine starke Legitimitätskrise und begünstigte die Herausbildung neuer politischer Akteure.
Heute ist der Mythos um 1968 noch größer geworden: Als Kulminationspunkt des alten Systems und Initialzündung für eine neue Ordnung. 1968 ist eine Identität, eine Krisenerfahrung, die jenseits von Rationalität neue Aktionsformen und Werte erzeugte, die sowohl von einem Teil der neu entstandenen politischen Elite, als auch von einer Generation emotional geteilt werden.
Obwohl der offizielle Regierungsdiskurs über 1968 damals über alle Mittel verfügte, um sich durchzusetzen, ist er heute nach 40 Jahren überwunden. Er besitzt keine Glaubwürdigkeit mehr und die Verantwortlichen für Massaker und Unterdrückung werden moralisch verdammt.
Nichtsdestotrotz entging diesem jüngsten historischen Fieber einige der wichtigsten Konsequenzen der Bewegung: Das Entstehen einer neuen Intelligenzija (im Verständnis des russischen Schriftstellers P.D. Boborykin meint dieser Terminus die gebildete und progressive Schicht der Gesellschaft), die einen Weg zum Volk suchte und die Entstehung diverser sozialer Bewegungen. Wie lässt sich dies erklären?
Tatsächlich litt die sozialistische Bewegung in Mexiko bis 1968 chronisch an drei grundlegenden Krankheiten: ihre Entfremdung von der Bevölkerung, ihre Absorbierung im revolutionären Nationalismus des PRI-Systems und ihre Unfähigkeit, die nationale Realität zu erklären. Das Eindringen sozialistischen Gedankenguts in ArbeiterInnengewerkschaften und Bauernorganisationen war mit Ausnahme der Präsidentschaft Cárdenas (1934-1940) über Jahrzehnte marginal und oberflächlich. Wie der argentinische Theoretiker José Aricó aufzeigte, resultierte dies weniger aus einer schlechten Anwendung der Ideen von Marx, sondern vielmehr aus der Unfähigkeit des Philosophen selbst, die Realität Lateinamerikas zu begreifen. Diese Unfähigkeit wurde vom Marxismus der III. Internationalen zum Teil beibehalten. Außerdem hatten die Sozialisten in Mexiko Schwierigkeiten, sich auf selbstständige und kreative Weise in eine Gesellschaft und einen Staat einzubringen, die aus einer Volksrevolution hervorgegangen waren.
Die Bewegung von 1968 begann dies zu verändern. Tausende von Jugendlichen verließen die Universitäten und das Leben in Mexiko-Stadt, um auf dem Land, in Fabriken und in den Armenvierteln der Provinz politisch zu arbeiten. Ihre politische Kultur resultierte aus der Teilnahme an Studentenbrigaden, Vollversammlungen, Mobilisierungen auf der Straße, Auseinandersetzungen mit der Polizei und ihrem Argwohn gegenüber der kommerziellen Presse. Im Kampf für die sozialistische Revolution versuchten sie sich in die historischen und beginnenden Kämpfe der Bevölkerung zu integrieren und begannen ihre organisatorischen Auffassungen zu verändern. Ihre Gesellschaftsvision und politische Praxis der Vollversammlungen verschmolz – nicht ohne Zusammenstöße und Missverständnisse – mit den Traditionen und der Kultur der Massen.
Diese Integration erfolgte auch auf anderen Wegen. Von Seiten der katholischen Kirche, insbesondere durch die Jesuiten, fand ein Teil der Jugendlichen in der Bildungsarbeit und der Gründung von NGO eine Methode, sich mit der Bevölkerung zu verbinden. Andere blieben in den Universitäten und fanden in der Umformung und Ausweitung der Bildungsinstitutionen ihr Hauptterrain der politischen Aktion.
Obwohl sich dieser neue „Weg zum Volk“ theoretisch oftmals an einer handbuchartigen Vision des Marxismus orientierte – besonders stark war dabei der maoistische Einfluss – , entstand gleichzeitig eine wunderbare Neuinterpretation der nationalen Realität, inspiriert ebenso vom marxistischen Denken wie von einer stark von der Bewegung von 1968 beeinflussten Intellektualität. Viele der neuen theoretischen Beiträge zielten auf den absolut kapitalistischen Charakter der mexikanischen Wirtschaft und betonten die Notwendigkeit, dass die nächste Revolution sozialistisch sein müsse.
Aus dieser Vereinigung von Intelligenzija und Masse, der massiven Verbreitung von Elementen einer revolutionären Theorie, der Anwendung des Marxismus auf die mexikanische Realität und der permanenten Analyse der Umstände sollte eine neue Linke und eine neue Massenbewegung entstehen.
Die ersten Studierendenbrigaden, die sich zu vernetzen suchten, stießen auf einen sich eben formierenden gewerkschaftlichen Aufstand, getragen vor allem von den ElektrikerInnen und den ArbeiterInnen der Autoindustrie und der Eisenbahn. Ebenso trafen sie auf die traditionellen Kämpfe der Landbevölkerung, um Land und die breiten Mobilisierungen der marginalisierten Stadtbevölkerung, die für Wohnraum und Infrastruktur kämpften.

Das Hauptmerkmal dieser neuen sozialen Bewegungen ist ihr soziopolitischer Charakter.

Weder die Bewegung von 1968 noch die Studenten, die auf das Volk zugingen, „fabrizierten” das Aufflammen dieser Kämpfe. Diese entstanden jeweils aus endogenen Faktoren, die nicht durch die Agitation der neuen Akteure produziert werden konnten. Gleichwohl veränderte ihre Präsenz die herkömmliche Organisationskultur sowie die bestehenden Kämpfe in diesen Sektoren und erleichterte ihre regionale und nationale Projektion.
Die neuen OrganisatorInnen ideologisierten die Kämpfe, an denen sie teilnahmen. Hinter jedem Streik vermuteten sie revolutionäres Bewusstsein, obwohl die teilnehmenden ArbeiterInnen zumeist lediglich höhere Löhne einforderten. Hinter jedem sich organisierenden Stadtteil vermuteten sie eine sich formierende Gegenmacht zum Staat, obwohl die BewohnerInnen nur ein Dach, Strom und Wasser wollten. Doch trotz des eklatanten Auseinanderklaffens zwischen den anvisierten Zielen und den praktischen Resultaten ihrer Einmischung, schuf ihre Präsenz Organisationen und Bewegungen, die andernfalls so nie entstanden wären.
Das Hauptmerkmal dieser neuen sozialen Bewegungen, von denen viele bis heute überlebt haben, ist ihr soziopolitischer Charakter, der verantwortlich für die tragende Rolle war, den diese Bewegungen bei der Erosion des alten Korporatismus und dem Aufbau neuer sozialer Netzwerke spielten. Aus ihnen entwickelte sich sowohl ein Teil einer politischen Klasse mit Bezug zum Volk als auch die Massenbasis der neuen Projekte von Mitte-Links. Diese Bewegungen hielten das Erbe eines Teils des politisch-kulturellen Gemeinguts der Bewegung von 1968 lebendig: die Unabhängigkeit vom Staates, das Funktionieren basierend auf einer Versammlungsdemokratie, die föderalen Formen der Koordinierung und, die Forderungen der Massenaktionen als Hauptinstrumente des Kampfes.
Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass viele der damals entstandenen Massenbewegungen gescheitert sind. Oftmals blieben sie in Turbo-Ökonomismus, Gremienwirtschaft und dem Desinteresse an repräsentativer demokratischer Politik gefangen. Ihr Antiparlamentarismus erlitt Schiffbruch innerhalb eines parlamentarischen Demokratieverständnisses. Ihre autonome Politik löste sich im Umfeld von politischer Kooptation auf. Ihr Antikorporativismus verkam zu Klientelismus. Abgesehen von einigen Ausnahmen und ihrem anfänglichen Einsatz, konnte ihre politische Praxis nicht auf breiter Ebene Fuß fassen und hat sich dem parteipolitischen Wahlkampf untergeordnet.
Als die AktivistInnen der Bewegung von 1968 in der Geschichte erschienen und 40 Jahre zurück sahen – so wie wir es jetzt tun – , stießen sie auf die Hochphase der Konsolidierung der mexikanischen Revolution. Das Mexiko von 1928 war noch nicht das Mexiko der Agrarreformen, der Arbeiterbewegungen, der sozialen Bildung, der Verstaatlichung der Eisenbahn und der Enteignung der Erdölbetriebe gewesen.
Wenn eben diese AktivistInnen 40 Jahre in die Zukunft hätten sehen können, hätten sie als Resultat ihrer Kämpfe die Wiedergeburt und das Aufblühen des Cardenismus und Zapatismus vorgefunden. Sie hätten außerdem die Entstehung eines neuen Staatsbürgertums gesehen, welches direkt von dieser Bewegung ausgelöst wurde und sich aus dem geschichtlichen Verlangen speist, das die Aufklärung der Vorgänge von 1968 als einen zentralen Punkt begreift. Es ist die Vergangenheit, welche die Hoffnung beleuchtet, es ist die Zukunft, die die Wahrheit über die Vergangenheit fordert.
2008 steht das Vergessen der Erinnerung an 1968 gegenüber. Was bei dieser Auseinandersetzung auf dem Spiel steht, geht weiter als nur die eigentliche Aufklärung dessen, was in diesem Jahr passiert ist. In diesem Kampf stehen sich ebenfalls Straffreiheit und Gerechtigkeit entgegen, die Willkür gegenüber den Bürgerrechten und der Pragmatismus der Macht steht einer auf ethischen Werten basierenden Politik gegenüber.
Im Gegenzug fordern tausende die Erinnerung als Wunsch auf Gerechtigkeit. Sie machen aus Trauer und Wut eine Quelle der Würde. Sie fordern die Öffnung der Archive, um das Benennen, Abgrenzen und Neudeuten der damaligen Ereignisse und der Schuldigen zu ermöglichen. Sie weigern sich, Gemessenheit als Deckmäntelchen der Straffreiheit anzuerkennen.
Diejenigen, die sich bereits von 1968 verabschieden, irren sich. Mehr als nur ein Jubiläum, mehr als die Erinnerung und mehr als ein weiteres Gedenkdatum im Kalender, sind die 40 Jahre der Bewegung von 1968 immer noch ein Kampfschauplatz gegenüber dem Autoritarismus und eine Gelegenheit, ihren kulturellen Sieg zu feiern. Sie sind außerdem ein Fenster, um auf die Geschichte hinauszuschauen, die im Entstehen ist.
Weit entfernt davon, eine Trauerzeremonie oder das Andenken an eine Niederlage zu sein, ist das Gedenken an die Bewegung von 1968 Teil einer Generalprobe, um ein anderes Land zu schaffen. Es ist die Zukunft, welche die Erinnerung auffrischt. Die Vergangenheit ist nicht mehr, was sie einmal war.

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