Mexiko | Nummer 608 - Februar 2025

DIE „VERGESSENEN“ REBELLIEREN WEITER

Umsetzung des sogenannten Tren Maya verschärft Sicherheitslage

Während die Kartellgewalt im Süden Mexikos eskaliert, treibt die neue Präsidentin Mexikos Claudia Sheinbaum die umstrittenen Megaprojekte des sogenannten Tren Maya und des Interozeanischen Korridors voran – beide sollen zeitnah nach Guatemala ausgeweitet werden.

Von Victor Hübotter
Baustelle Maya-Zug Der Kampf gegen Vorzeigeprojekte des sogennanten Fortschritts hat Tradition (Foto: Victor Hübotter)

„Wir werden den Tren Maya zu DER großen Tourismusattraktion der Welt machen“, verspricht Claudia Sheinbaum, die Präsidentin von Mexiko, Mitte Dezember 2024 zum Jahrestag der Einweihung des irreführenderweise Maya-Zug genannten Projekts und fügt hinzu: „Außerdem werden wir ihn zu einem Güterzug für den Warentransport transformieren.“ Erst drei Monate zuvor hatten die jährlich zunehmenden Tropenstürme weite Teile der neuen Zugstrecke im Süden des Bundesstaates Quintana Roo überschwemmt, das zuständige Militär erbat über 20 Millionen Pesos für die Instandsetzung. Andere Verbindungen sind auch über zwei Jahre nach dem geplanten Abschluss aller Bauarbeiten noch nicht in Betrieb. 2024 reisten nur 20 Prozent der angestrebten 3 Millionen Tourist*innen im Prestigeprojekt des Vorgängers der ersten weiblichen Präsidentin des Landes, Andrés Manuel López Obrador (AMLO).                                                                                                                              

Den sogenannten Tren Maya hatte AMLO stets als Fortschritt für die „vergessenen Gemeinden im Süden“ präsentiert, und auch Sheinbaum betonte nach ihrer Amtsübernahme, dass man den „Tren Maya nicht, wie einige behaupten, gegen, sondern mit und für die Gemeinden errichte.“ Im September 2024 verabschiedete sich AMLO mit der Einweihung einzelner Streckenabschnitte in der Nähe von Felipe Carillo Puerto aus dem Amt. Nicht von lokalen Maya-Gemeinden begleitet, sondern von Gouverneur*innen, Militärs und Unternehmensvertreter*innen, bestieg er den Zug zu seiner ganz persönlichen Abschiedsfahrt. Die Maya in Felipe Carillo Puerto protestierten am selben Tag mit einer eigenen Erklärung gegen den Zug, der ihren Namen trägt: „Unsere Völker haben sich stets um die Natur in diesen Gebieten gekümmert: die Wälder, das Wasser, den Wind, das Meer. Diese Orte sind heilig. Die Regierung Obrador behauptet unter dem Narrativ des ,Fortschritts’, dass sich nun eine Regierung endlich um den Südosten Mexikos ,gekümmert’ habe, dass wir uns jetzt ,entwickeln’ werden, dass wir mit dem Maya-Zug und dem Interozeanischen Korridor aus der Armut herauskommen. Aber wir protestieren, weil sie leider in Wahrheit ihre Augen darauf gerichtet haben, uns mit ihren Zügen, Gaspipelines, Hotels, Immobilienprojekten und Industrieparks auszuplündern und zu zerstören.“                                                        

Tatsächlich erweist sich der Zug selbst nicht als das alleinige Problem: Begleitet von neuen Autobahnen, Häfen und Flughäfen ist er angebunden an den Interozeanischen Korridor in der Landenge (Isthmus) von Tehuantepec, der schmalsten Stelle zwischen den zwei Ozeanen, mit seinen Hafenstädten Salina Cruz in Oaxaca (Pazifik) und Coatzacoalcos in Veracruz (Atlantik). Auch der Korridor besteht aus Straßen und Zugstrecken, die wie ein trockener Panamakanal Waren zwischen den Ozeanen bewegen soll – doch der Gütertransport ist nicht das einzige Vorhaben in dieser historisch umkämpften Landenge: Mindestens 14 Industrieparks, unter anderem für die Automobil- und Textilproduktion, Raffinerien und Energieparks sollen errichtet oder ausgebaut werden, inmitten einiger der artenreichsten Wälder und Küstenregionen des amerikanischen Kontinents, die dutzende Indigene Bevölkerungsgruppen seit Jahrhunderten bewahren. Nun müssen die Maya zusehen, wie ihre heiligen Cenotes, die das weltweit größte unterirdische Fluss- und Seensystem beherbergen und überlebenswichtig für den Regenwald im Landesinneren und die Mangroven an der Küste sind, mit Beton aufgefüllt werden – hier soll der Zug über die Millionen Jahre alten Höhlen rollen. Vor rund 150 Jahren hatten sich schon ihre Urgroßeltern gegen ein ähnliches Kolonialprojekt verteidigt. Im Kastenkrieg (1847-1901) wehrten sich die Maya der Yucatán-Halbinsel gegen ihre Versklavung auf den wachsenden Monokulturplantagen und erkämpften Autonomie. Sie hielt so lange an, dass jenes Gebiet, das heute als Quintana Roo mit der Touristenhochburg Cancún bekannt ist, erst 1974 in den mexikanischen Föderalstaat eingegliedert wurde. Als man 2024 das 120-jährige Bestehen des neuen Bundesstaates feierte, stellten die noch heute rebellischen Maya und Nachfahren der Kastenkrieger*innen die „Deklaration des vergessenen Völkermordes“ vor: „Zwischen 1896 und 1899 versuchten Unternehmer und die Regierung (des Generals Porfirio Díaz, Anm. d. Autors) das damalige Vorzeigeprojekt des ,Fortschritts’ zu entwickeln: eine Eisenbahnlinie zur Hauptstadt der Rebell*innen. Die Strategie war zunächst eine militärische und dann eine wirtschaftliche: Die Rodung des Dschungels für die Schienen sollte den Weg für das Militär frei machen, und der Zug selbst die Ressourcen der Region abtransportieren. […] Jetzt, mehr als ein Jahrhundert danach, wird ein Zug gebaut, den man ,Maya’ nennt. Die Logik der Enteignung und Ausbeutung weist historische und systemische Kontinuitäten auf. Ähnlich wie damals dient dieser Zug dem militärischen Vormarsch und der territorialen Neuordnung.“

Die Armee baut, verwaltet und bezieht die Gewinne aus seinem Betrieb. Die Rebellenhauptstadt von einst, Noj Kaaj Santa Cruz Xbalam Naj, heißt heute Felipe Carillo Puerto. Der erste Militärzug wurde hier vom Maya-Heer aufgehalten. Doch dort, wo man noch heute seine verrosteten Überreste sieht, scheint das neue Projekt der aktuellen mexikanischen Regierung 2024/25 zu triumphieren.

Maya-Zug sollte besser Militärzug heißen

Für Sheinbaum ist dieser Zug ein „Symbol der Vierten Transformation“, unter dessen Label die Regierung ihre vorgeblich national-progressive Politik vermarktet. Tatsächlich sind sowohl der Zug als auch der Korridor Ausdruck geopolitischer Interessen: Während die USA die militarisierten Züge von Küste zu Küste als neue Mauer gegen die Migration unterstützen, profitieren Unternehmen aus aller Welt vom Bau des Zuges und allem, was er mit sich bringt, über Bergbau und Monokulturen hin zu Immobilienprojekten und Tourismuszentren. Auch die Deutsche Bahn beteiligte sich bis 2024 trotz jahrelanger Kritik und Protesten an dem Projekt (siehe LN 569/570).

Doch nicht nur Großkonzerne wittern Gewinne durch die neue Erschließung des Südostens: Die globalen Hafenanbindungen mit Direktverbindungen von China bis in die USA sind für Drogen-  und Menschenhandelskartelle genauso interessant wie für Immobilienprojekte, Bauindustrie und die Landwirtschaft. So dringen Großkonzerne und Kartelle in Territorien vor, die sie lange verschont hatten – und die Gewalt im Süden Mexikos nimmt ihren Lauf: Die täglichen Morde, Schießereien, Entführungen und Bedrohungen treiben tausende Menschen aus ihren Gemeinden, hunderte fliehen ins benachbarte Guatemala. Es ist eine historische Zäsur. Normalerweise findet diese Bewegung in die entgegengesetzte Richtung statt, in den großen Migrationsströmen aus Mittelamerika in Richtung Norden. Deshalb ist es beinahe unwichtig, ob der Zug 2025 sein Ziel erreicht, zur größten Tourist*innenattraktion weltweit zu werden, oder ob der Korridor wie geplant den Panama-Kanal, dessen Funktionsfähigkeit seit einiger Zeit eingeschränkt ist, ersetzt: Das Territorium der pueblos ist bereits besetzt von bewaffneten Militärs und Kartellen, die es zu dem umwandeln, was die revolutionären Indigenen Zapatistas in Chiapas schlicht „eine weitere, unnütze Grenze“ nennen.                                                         

Während des Antrittsbesuchs des neu gewählten guatemaltekischen Präsidenten Arévalo im mexikanischen Tapachula war die Sicherung der Grenzen ein zentrales Thema:„Wir wollen eine Grenze, die uns eint, die es uns ermöglicht, uns gemeinsam zu entwickeln und zu wachsen, zum gegenseitigen Nutzen, in Vertrauen, mit Begeisterung und Zusammenarbeit.“ Was das bedeuten soll, präsentierte die mexikanische Regierung auf der gemeinsamen Pressekonferenz konkreter: „Wir werden den Tren Maya und den Interozeanischen Korridor nach Guatemala ausweiten.“  Und so werden im Norden Guatemalas 2025 genau jene Versprechen gemacht, die auch 2018 im Süden Mexikos den vermeintlichen Fortschritt verkündeten: Information und Konsultierungen der Indigenen Gemeinden, der Schutz der empfindlichen Ökosysteme, Wohlstand und Arbeit. Währenddessen warnen die Zapatistas vor einem Kollaps des gesamten Territoriums und rufen auch für 2025 zu „rebellischen Zusammentreffen“ auf, „zur Vorbereitung des Tages danach…“

La Casa de la Chinampa

 

In einem kleinen Textformat stellen wir an dieser Stelle in jeder LN interessante Vereine und Initiativen vor, die wir unterstützenswert finden. Diesmal das Projekt „Axolotl Digital“ der Initiative La Casa de la Chinampa (dt: das Haus der Chinampa) aus Mexiko.

 

Das Projekt „Axolotl Digital“ zielt darauf ab, die ökologische, kulturelle und historische Bedeutung des Axolotls durch ein Programm von Live-Übertragungen aus dem Chinampa-Ökosystem von Xochimilco, einem Vorort von Mexiko-Stadt, zu verbreiten.

Der Axolotl ist eine endemische Spezies der Region, die schon in vorkolonialer Zeit eine wichtige Rolle in der Ernährung, Medizin und Mythologie der Bewohner*innen Mesoamerikas spielte. Mittlerweile ist er jedoch vom Aussterben bedroht, genau so wie das Ökosystem, in dem er beheimatet ist: die Chinampas. Dabei handelt es sich um ein uraltes Insel- und Kanalsystem, das schon seit der Zeit der Mexicas dem Anbau von Obst, Gemüse und anderen Nutzpflanzen dient. Bis heute ist das fruchtbare Ökosystem zentral für die Versorgung der Stadt mit Obst und Gemüse. Viele der Chinamperxs bauen dort seit vielen Generationen für die Bevölkerung Nahrungsmittel auf möglichst ökologische Art und Weise an. Doch das empfindliche Gleichgewicht des Systems gerät zunehmend unter Druck durch sich verändernde klimatische Bedingungen, Dürren und das rasante Wachstum der Stadt, das mit Gentrifizierung und der Umwandlung von landwirtschaftlichen Flächen zu Bauland einhergeht. „Axolotl Digital“ versucht durch weltweit ausgestrahlte Zoomcalls auf das Problem aufmerksam zu machen und Menschen über die Bedeutung der Chinampas und des Axolotls aufzuklären. Im Zentrum steht dabei das Wissen aus der Perspektive der Bewohner*innen der Region.

 

// Die Redaktion


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