Film | Nummer 273 - März 1997

Die verlorene Liebe und das Segeln

Interview mit Pepe Mujica, Gründungsmitglied der uruguayischen Stadtguerilla Tupamaros

Bettina Bremme, Niels Müllensiefen

Du sagst im Film “Tupamaros”, daß du dich als Abgeordneter im uruguayischen Parlament ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß fühlst. Wie ist es jetzt für dich, als geladener Gast auf einem Filmfestival zu sein ?

Es ist ein ähnliches Gefühl. Niemals wäre mir etwas Derartiges in den Kopf gekommen. Ich bin hier aus einem großen Respekt heraus für jene Deutschen, die sich um die Probleme des Südens Gedanken machen und die zu erreichen versuchen, daß uns die europäische Welt versteht. Wir Lateinamerikaner, insbesondere wir Uruguayer, kennen Europa recht gut – wir sind Nachkommen von Emigranten, also in gewisser Weise verpflanzte Europäer. Europa aber verwendet umgekehrt sehr viel Zeit damit, in sich selbst hineinzuschauen und wenig darauf, eine Welt zu betrachten, an deren Schaffung es – im guten wie im schlechten – beteiligt war. Wahrscheinlich wird es die europäische Welt noch einiges kosten zu verstehen, daß ihr eigenes Glück auf lange Sicht dann weiterkommt, wenn wir alle, die wir sie umgeben, ein wenig glücklicher sind. Es gibt keine Lösungen nach innen, sondern nur nach außen gerichtete, globale Lösungen: In diesem Schiff, das sich Erde nen nt, sind wir alle gemeinsam unterwegs.

Was denkst du könnte der Film für die Menschen in Uruguay bedeuten ? Ist er dort schon gezeigt worden ?

Nein, in Uruguay kennt man ihn bisher noch nicht. Aber ich glaube auch, daß der Film hier in Europa wichtiger ist als in Uruguay. In Uruguay sind wir in das, was geschieht oder nicht geschieht, mit einbezogen. Wir sind präsent, und auf die eine oder andere Art beharren wir auf den Dingen, wir haben unser Gewicht. Doch die zentralen Schaltstellen der Welt sind nicht dort in Uruguay, sie sind hier in Europa – jedenfalls zum Teil.

In dem Film wird viel über die Zeit der Diktatur und Folter in Uruguay gesprochen. Welche Bedeutung hat heute im kollektiven Gedächtnis der Menschen die Vergangenheit der Diktatur auf der einen Seite, der Kampf der Tupamaros auf der anderen Seite ?

Man muß aufpassen, daß sich die Erinnerungen nicht verlieren, zugleich aber auch, daß sie uns nicht lähmen. Ich denke, daß das Bewußtsein für das Vergangene eigentlich niemals ausreichend ist, sonst würden wir in einer anderen Realität leben. Doch momentan befinden wir uns mit der uruguayischen Linken, die etwa ein Drittel im Land ausmacht, in einem politischen Konglomerat, das uns die Perspektive eröffnet, an die Regierung zu kommen. Für uns wird irgendwann die Stunde der Wahrheit kommen, ja oder nein zu sagen. Und in diesem Moment können wir unsere gesamte Geschichte verwerten, können das, was wir einmal im Wesentlichen waren oder nicht, aufhören zu sein und uns der Zukunft stellen. Wir müssen dabei konsequent sein mit dem, was die Geschichte der Linken ist – ohne Fanatismus und ohne verbundene Augen.

War es sehr schwierig für dich und deine compañeras und compañeros, über die Folter und die anderen Leiden der Vergangenheit zu sprechen ?

Nein, wir sind in der Lage, uns diesen Dingen so oft wie nötig wieder zuzuwenden. Ob schlechte oder gute Erinnerungen, seinen Sinn hat unser Kampf in Richtung nach vorne. Wir versuchen, eine Zukunft aufzubauen. Das ist ähnlich wie in der Liebe: wenn du eine Liebe verlierst und dein ganzes Leben damit verbringst, dieser verlorenen Liebe nachzuweinen, baust du keine Zukunft für eine neue Liebe auf. Das Vergangene ist von Bedeutung und sollte intensiv gelebt werden, aber mit mehr Intensität müssen wir in Richtung dessen leben, was wir uns vorgenommen haben, wohin wir gehen wollen. Daher ist jeder Tag ein neues Abenteuer, jeden Tag geht es darum, eine Welt aufzubauen.

Heißt das, daß du niemals Wut oder Haß empfindest, wenn du an die Dinge zurückdenkst, die dir widerfahren sind ?

Haß empfinde ich gegenüber niemanden. Wenn du mit der Absicht kämpfst, etwas zu ändern, dann lassen es die Kosten dieses Kampfes nicht zu, Haß zu erzeugen. Du brauchst deine Energie für andere Ziele. Der Haß endet damit, dich selbst kleiner zu machen. Er ist eine Art, uns selbst mit Füßen zu treten. Man kann nicht leben, um zu hassen. Der Kampf erzeugt Wut in dir, und es bleiben natürlich die Leiden. Aber es gibt da kleine Pflänzchen, die zwischen den Steinen herauswachsen – mit gefolterten Wurzeln, und trotzdem wachsen Blumen aus ihnen, sie geben Schatten und vermehren sich. Es funktioniert, man muß sich nicht beim Psychologen auf die Couch legen, damit der viel Geld von dir verlangt. Wir haben eine Menge Dinge in unserem Land, um die wir uns kümmern, für die wir kämpfen müssen. Wenn wir uns aber von der Vergangenheit in die Falle locken lassen, bleibt uns keine Energie mehr dafür.

In den Gesprächen im Film fällt auf, daß ihr alle mit sehr viel Humor über die Dinge sprecht. Gab es diesen Sinn für Humor bereits während des Kampfes ?

Wir sind wie jeder andere: wir haben Spannungen, streiten uns, diskutieren. Aber in unserem Land ist es etwas wie eine nationale Charakteristik – keine spezielle Tugend von uns Tupamaros – alles mit Humor und Ironie zu beenden. Wir nehmen uns selbst auf den Arm und formen alles Dramatische ein wenig in Ironie um. Wenn du Che Guevara liest, wirst du sehen, wieviel Ironie in dem ist, was er schreibt. Der Humor ist Teil unserer Kultur. Er half uns sogar, mit unseren Folterern zusammenzuleben, und ihnen ging es letztlich genauso.

Du willst sagen, daß auch die Folterer Humor hatten ? Ist dies dann nicht eher Zynismus ?

Ja, da hast du schon Recht. Vielleicht sind wir alle ein bißchen humorvoll und gleichzeitig ein bißchen zynisch. Jedenfalls ist es in Uruguay eine allgemeine Tendenz, daß wir niemals etwas hundertprozentig glauben und uns ständig auf den Arm nehmen – auf allen Ebenen des Lebens. Es ist fast etwas wie unsere Art, national zu sein. Das hängt stark damit zusammen, daß wir ein Volk der Imigration sind. Zu Beginn des Jahrhunderts kamen jedes Jahr 50.000 europäische Emigranten nach Uruguay. Wir lernten daher, mit Menschen sehr verschiedener Ursprünge zusammenzuleben. So nahm eine nationale Gruppe die andere auf den Arm, machte sich über sie lustig. Und dies ist zu einem Bestandteil der nationalen Kultur geworden. In unserer Art zu sein – versteht mich nicht philosophisch oder ökonomisch – sind wir Liberale.

Aber wie läßt sich eine Militärdiktatur in einem Land mit solch einer liberalen Wesensart erklären ?

Das war ein Prozeß, den vor allem die ökonomischen und internationalen Probleme geprägt haben. Doch konnte beispielsweise in Uruguay die Diktatur niemals jene Dramatik und Grausamkeit annehmen, die sie in anderen Teilen Lateinamerikas hatte. Sie hatte ihre Grenzen. In Argentinien oder in Chile ist das Leben eines Menschen so viel wert wie das eines Hundes. In Uruguay hingegen ist es viel wert, für alle, wirklich für alle.

Dennoch wurden auch in Uruguay viele Menschen getötet.

Ja, aber bei weitem nicht so viele wie in anderen Ländern. Es gab etwa 200 Tote in acht Jahren des bewaffneten Kampfes – so viele wie in Buenos Aires in einer Nacht starben. Im Grunde waren wir Tupamaros auch nicht eine Guerillagruppe, sondern eine politische Bewegung mit Waffen. Wir versuchten, Gewalt und Grausamkeiten so weit es nur ging zu vermeiden. Und zwar aus politischen Gründen: Dinge, wie sie jetzt wieder im ehemaligen Jugoslawien geschehen sind, sind politisch unbegreiflich, die Menschen lehnen sie ab.

In dem Film schildern zwei deiner compañeras die Exekution des Folterwissenschaftlers “Mitrione”, der eure Geisel war. War dies dann also ein sehr umstrittener Akt unter euch ?

Mitrione war ein sehr spezieller Fall. Er war nordamerikanischer Sicherheitsbediensteter und durchreiste Lateinamerika, um Foltermethoden zu lehren. Nachdem er in Brasilien war, kam er nach Uruguay, um dort die Polizei zu instruieren. Mitrione trug immer eine Nadel in seinem Hemdkragen, damit er den Offiziellen jederzeit die neuralgischen Punkte des menschlichen Körpers zeigen konnte, an denen die Folter angewendet werden sollte: auf “wissenschaftliche” Weise. Er war also wirklich ein besonderer Gegner für uns. Doch kostete uns seine Exekution politisch eine Menge, weil danach eine Art Märtyrer und Heiliger aus ihm gemacht wurde – eine Kriegspsychologie, wie sie generell sehr viel verwendet wurde. Ich möchte solche Methoden nicht zur politischen Tugend erheben, sie sind eher eine Charakteristik der Geschichte dieses Jahrhunderts. Und eine politische Bewegung aus dem Volk wie die der Tupamaros ist Gefangene ihrer Zeit und der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist.

Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen: im Film wird ziemlich deutlich, daß dir die Arbeit als Abgeordneter im Parlament nicht besonders gefällt. Wie siehst du deine Zukunft als Revolutionär, als jemand, der in der Gesellschaft etwas ändern will ?

Weißt du, das Wichtige ist nicht, wo man ist, sondern wofür man da ist, wo man ist. Meine compañeros und ich, wir befinden uns im Parlament in einer Gefahr: es gibt einen großen Tisch und wir sind eingeladen teilzunehmen. Und das kann zu einer gefährlichen Falle werden, denn der Mensch ist ein eitles und frivoles Tier. Sie laden uns zum Essen ein, aber es ist und bleibt ihr Essen. Wir können keine anderen Dinge unternehmen, weil unser Volk dies nicht verstehen würde. Doch wir müssen um die Inhalte kämpfen, indem wir diesen Prozeß begleiten und vor allem auch dadurch, daß das Volk ihn mitlebt. Denn das Einzige, das ein wenig die Geschichte ändern kann, ist, daß viele Menschen hinter einem Vorschlag stehen. Wenn du dich von diesen Menschen isolierst, kannst du über schöne Ideen reden, aber du bleibst wie in einer Kapsel – vor dich hinphilosophierend. Wenn du dich dagegen in den Strom der parlamentarischen Szenerie begibst, läufst du zwar Gefahr, daß sie dich durch die Hintertür besiegen, indem sie dich absorbieren. Doch auch sie tragen im Gegenzug ein Risiko, nämlich, daß du nicht vom Volk isoliert bist.

Gibt es denn mittlerweile in Uruguay etwas wie eine demokratische Stabilität, oder würdest du das politische System – wie dies ein compañero von dir im Film tut – als völlig kastrierte Demokratie bezeichnen ?

Eine reale Demokratie existiert nirgends – sie ist eine Utopie. In Uruguay sind wir noch sehr weit davon entfernt, und ich weiß nicht, ob wir irgendwann ankommen werden. Es existiert eine gewisse Stabilität, eine Koexistenz verschiedener Dinge. Der Liberalismus bringt eine gewisse Freiheit mit sich, sich zu organisieren, seine Meinung zu äußern – solange du jedenfalls nicht zu sehr störst. Mit der Frente amplio haben wir versucht, diesen Freiraum zu nutzen, wissend, daß auch wir dabei benutzt werden. Wir haben einiges erreicht, aber natürlich noch lange nicht genug. Ich akzeptiere daher die Möglichkeit, daß wir jederzeit in einem Desaster enden können. Denn eines darf man nicht vergessen: unter den Armen im Süden dauern die wirklich großen Probleme fort. Es gibt nicht wie hier in Europa soziale Dämpfer für die Ausbeutung der Armen. Unsere Aufgabe sehe ich wie beim Segeln: wenn du segelst, mußt du auch die Kraft des Windes nutzen, der dir entgegenkommt, denn niemals fährst du den direkten Weg. Die Sache ist, daß du dabei nicht kenterst. Das ist unsere Herausforderung. Ob wir die Kraft dafür haben werden, weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht, im Moment habe ich keine bessere Antwort.

Übersetzung: Niels Müllensiefen


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