Kunst | Nummer 399/400 - Sept./Okt. 2007

Die verschwundene Generation

Guatemaltekische KünstlerInnen setzen sich mit der Vergangenheit auseinander – es fehlt die Generation, die während des Bürgerkriegs verschwand

Zehn Jahre nach dem Bürgerkrieg bringen guatemaltekische Künstlerinnen und Künstler ihre Verarbeitung der begangenen Verbrechen, die Erinnerung an Opfer und Verschwundene des Völkermords und die immer noch währende Straflosigkeit der verantwortlichen Militärs mit Hilfe von Straßentheater und Malerei zum Ausdruck. Sie verbinden ihre Kunst mit politischen Positionierungen zur aktuellen und Vergangenheitspolitik des Landes. Zudem gibt es Organisationen, die ihren politischen Forderungen mit Hilfe ästhetischer Mittel Ausdruck verleihen.

Markus Plate

Mittagspause in Guatemala Stadt. In Ronalds Friseursalon herrscht Hochbetrieb. Geschäftsleute, NGO-MitarbeiterInnen und KünstlerInnen drängen sich in der bunt eingerichteten Garage gleich hinter dem Präsidentenpalast. Hier wird nicht nur gewaschen, geschnitten und getönt. Hier trifft man sich auch zu einem günstigen Mittagsmenü, zum Plaudern und Kontakte knüpfen. Ronald hat in seiner Funktion als Figaro, Wirt und Innenarchitekt eine Atmosphäre geschaffen, die einen Kontrast bilden soll zur harten guatemaltekischen Realität. Ronald ist ein Original im Zentrum der Hauptstadt, schrill gekleidet und übergewichtig, immer für ein Pläuschchen und einen Scherz zu haben, für eine Tanz- oder Gesangseinlage. Regelmäßig schmücken Bilder die Wände der bunt gestrichenen Garage und ab und zu, am Nachmittag, malen hier junge Künstler. Wie Alex, auch „Chino“ genannt, der in seinen Gemälden und Zeichnungen die farbenfrohen Trachten, Häuser und Landschaften Guatemalas mit ausgezehrten, leidgeprüften Gesichtern kontrastiert. Ein Kontrast, der der guatemaltekischen Realität nur zu gut entspricht.
Auf der Plaza de la Constitución, dem Hauptplatz von Guatemala-Stadt und nur einen Steinwurf von Ronaldos Salon entfernt, wird derweil ein Theaterstück aufgeführt. „Contrahuella – Der Weg der Ahnen“, entworfen und inszeniert vom jungen Künstlerkollektiv Caja Lúdica, beginnt mit einer Maya-Zeremonie. In weiß und rot gehüllte junge Männer und Frauen schreiten andächtig um einen Altar. Doch die Zeremonie wird jäh unterbrochen. Ein europäisch gekleideter Mestize, als Symbol für die Jahrhunderte alte Unterdrückung der Indígenas, greift ein indigenes Mädchen an, stößt es zu Boden und tritt brutal auf sie ein. Viele ZuschauerInnen schauen fast instinktiv ins Leere – an der Szene vorbei. Sie weckt Erinnerungen an eine junge, schreckliche Vergangenheit in Guatemala, die die meisten lieber verdrängen wollen.
Kein Vierteljahrhundert ist es her, dass der damalige Militärmachthaber Efraín Ríos Montt eine Politik der verbrannten Erde gegen die eigene Bevölkerung entfesselte. Hunderttausende wurden verhaftet, ermordet oder verschwanden, über eine Million Menschen mussten fliehen. Zehn Jahre ist nun Frieden in Guatemala, ist die Angst vor den Militärs langsam auf dem Rückzug und seither wagt es auch die Kunst wieder, das Trauma des Völkermords zu thematisieren und die Erinnerung an die Taten und die Opfer wach zu halten.
So der Komponist Joaquín Orrellana, der die Musik zu dem Balletstück „Gritos en la Memoria“ (Schreie in der Erinnerung) beisteuerte, das 2006 uraufgeführt wurde. In seinen Stücken thematisiert Orrellana seit Anfang der 1970er Jahre den Krieg, die Politik der verbrannten Erde, den Völkermord, den Exodus und die geheimen Friedhöfe. Das „Requiem de Cuna“ handelt von einer Indígena-Mutter, deren Baby ermordet wird: sie singt ein Wiegenlied, das zärtlich und liebevoll aber zugleich voller Schmerz ist. Das Stück „Canto de Asedio“ veranschaulicht dagegen die Seelenlosigkeit und die Übermacht der Militärs.
Doch in Guatemala, wo 80 Prozent der Bevölkerung in bitterer Armut lebt, ist das mit Ballett, Chor und Orchester aufwendig produzierte „Gritos en la Memoria“ nur sehr wenigen zugänglich. Einen anderen Ansatz verfolgen daher Künstlerkollektive wie Caja Lúdica. Sie führen ihre Stücke in aller Öffentlichkeit auf – wie „Contrahuella – Der Weg der Ahnen“ mitten im Stadtzentrum. DarstellerInnen sind vor allem Jugendliche aus indigenen Dörfern oder den Armenvierteln der Hauptstadt. Denn neben der Erinnerungsarbeit verfolge Caja Lúdica auch den Ansatz, traumatisierten und ausgeschlossenen Jugendlichen eine Stimme zu geben, so Paulina Rosales, Koordinatorin bei Caja Lúdica: „Die Auswirkungen der Unterdrückung äußern sich gerade bei Jugendlichen in Form von Gewalt und Selbstsucht, aber vor allem in Angst und Misstrauen. Und es ist ganz wundervoll zu sehen, wie die Jugendlichen, die am Anfang verschüchtert waren, sich heute einbringen, weitere Projekte entwerfen und mutig Kritik äußern.“
„Contrahuella“ als öffentlich aufgeführtes hochpolitisches Stück lässt die Erinnerung an die große Zeit des guatemaltekischen Theaters in den Siebziger Jahren wieder aufleben, das beherzt gegen die Militärdiktatur stritt und Teil des breiten Widerstands gegen sie war. Einer der ProtagonistInnen jener Zeit ist der Schauspieler Roberto Díaz Gómar, der durch seine Zeit im spanischen Exil auch international bekannt wurde. Der mittlerweile über Sechzigjährige blickt auf ein bewegtes Leben zurück: Mit 18 schloss sich Roberto der guatemaltekischen Studierendenbewegung an, kurz nach dem Massaker an demonstrierenden Studierenden im Jahr 1962. Es war die Zeit, in der sich die Guerilla formierte und das Studierendentheater immer politischer wurde: „Das Theater in jener Zeit war exzellent und sensationell. Wir haben immer an den Stätten des Konfliktes Theater gespielt. Beim Streik der Coca-Cola-ArbeiterInnen, bei Landbesetzungen oder bei Hungerstreiks. Das Theater war eine Anklage, die mit Leidenschaft, Liebe und mit viel Kreativität thematisierte, was sich in unseren Ländern abgespielte“, erzählt Roberto.
Ende der Siebziger Jahre jedoch gewann das Militär auf grausame Weise die Oberhand. Auch viele KünstlerInnen wurden ermordet, vielen gelang die Flucht ins Exil, andere tauchten unter oder gingen in die Berge, um sich der Guerilla anzuschließen. Das politische Theater verschwand. Es blieben nur billige Schmonzetten mit simplen zwischenmenschlichen Themen und nichts sagende Komödien. Heute klafft zwischen den „Alten“ wie Roberto Díaz und den „Jungen“ eine Lücke von einer Generation. Da die Elterngeneration verstummte, sind es – wie in dem preisgekrönten Spielfilm „El Silencio del Neto“ (Das Schweigen Netos) von 1997 – die Großväter und -mütter, die ihre EnkelInnen dazu ermutigen, ihre Angst abzulegen und die Verbrechen der Diktatur anzuklagen und Gerechtigkeit zu fordern.
Seit sieben Jahren kämpft auch die Organisation H.I.J.O.S. (Kinder für Identität und Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und das Schweigen), eine Gruppe Jugendlicher und Kinder, deren Eltern im Bürgerkrieg verschwunden sind, ermordet wurden oder im Exil waren, für eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte (siehe LN 381). Freche Graffitis zieren die Häuserwände, Mauern und Brücken überall in der Hauptstadt: Gegen das Vergessen, gegen die Straflosigkeit, gegen die nach wie vor bestehende Dominanz der Oligarchie und der Militärs. Die junge Studentin Flor hat ganz persönliche Gründe, bei den H.I.J.O.S. mitzumachen. Ihre Tante hat den Kampf gegen die Militärdiktatur mit dem Leben bezahlt – ein Tabu, über das niemand in der Familie mit ihr sprechen wollte. „Mit unseren Aktionen versuchen wir den Staatsterror aufzuarbeiten, anfangs für uns selbst, später dann öffentlich“, beschreibt Flor ihre Motivation.
Die Aktionen der H.I.J.O.S richten sich vor allem gegen die Militärs als Hauptverantwortliche der Massaker. Flor findet es widerlich, dass nach wie vor an jedem 30. Juni der Tag der Armee gefeiert wird. Also wird die Parade nach Kräften gestört, werden Straßen blockiert, werden in der Tradition der Siebziger Jahre kleine Theaterstücke aufgeführt und die SoldatInnen lautstark als Mörder bezeichnet. Die Zahl von 45.000 Verschwundenen würde bis heute von konservativen Kreisen in Frage gestellt, so der Musiker Gad Echeverría, der sich seit vielen Jahren bei GAM (Gruppe der gegenseitigen Unterstützung) engagiert, der wichtigsten Angehörigenorganisation von Verschwundenen: Der Staat tue nach wie vor nichts für die Aufklärung, Strafverfolgung und Wiedergutmachung. „Bei den allermeisten Opfern wissen wir bis heute nur, dass sie in die Kasernen verschleppt wurden, doch nach wie vor enden dort alle Spuren. Denn bei den Militärs regiert eine Kultur des Schweigens“, so Echeverría.
Auch Sandra Morán kämpft seit 30 Jahren gegen die Unterdrückung, gegen das Morden und gegen das Vergessen – mittels Poesie, Musik und unermüdlichem Einsatz vor allem im Frauennetzwerk „Sector Mujer“ (siehe LN 395). Morán intoniert als Percussionistin im Sprechgesang Gedichte von PoetInnen aus Guatemala und aus anderen Ländern Amerikas. Auf ihrer CD „Vale la Pena“ (Es lohnt sich) finden sich Lieder des Kampfes, Ausdruck des Glaubens an ein besseres, freieres, offeneres und respektvolleres Guatemala und Erinnerung an den Widerstand gegen die Diktatur.
Sandra Morán, Roberto Díaz, Joaquín Orrellana oder Paulina Rosales sind davon überzeugt, dass gerade die Kunst ihren Beitrag zur Erinnerung an den Widerstand gegen die Unterdrückung leisten kann – aus Respekt vor den zahllosen Opfern und ihrer eigenen verschwundenen KünstlerInnengeneration.
Und so endet das Theaterstück „Contrahuellas“ auf dem Hauptplatz von Guatemala-Stadt in einem traurigen aber auch befreienden Akt mit einer Anklage. Indígena-Frauen, Mütter ermordeter Kinder, schreiten auf die vor dem Palast der Republik aufgereihte Militärtruppe zu und rufen: „Ellos fueron!“ (Sie waren es!). Das Schweigen ist gebrochen.

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