Nummer 348 - Juni 2003 | Uruguay

Die Verschwundenen sind Anwesend

Kurz vor dem 30. Jahrestag des Militärputsches in Uruguay will die Regierung einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen

Am 10. April dieses Jahres hat die Kommission für den Frieden, welche die Verbrechen der Militärdiktatur aufklären sollte, ihre Ergebnisse vorgestellt. Doch die Bewertung dieser Ergebnisse könnte unterschiedlicher nicht ausfallen: Während die einen in diesem Kommissionsbericht den lang herbeigesehnten Schlussstrich sehen, fühlen die anderen sich bestätigt, dass mit diesem Bericht nur die Augen der Opfer gewischt werden sollen.

Stefan Thimmel

Mehr als zweieinhalb Jahre lang versuchte die im August 2000 vom Präsidenten Jorge Batlle eingesetzte Kommission für den Frieden (Comisión para la Paz) das Schicksal der in Uruguay während der Militärdiktatur Verschwundenen aufzuklären. Am 10. April 2003 stellte sie ihren Abschlussbericht in Montevideo vor. Die Kommission, die von Nicolás Cotugno, dem Erzbischof von Montevideo geleitet wurde, stellte fest, dass in Uruguay 38 Personen verschwanden, davon 32 uruguayischer und sechs argentinischer Nationalität. 26 der 32 UruguayerInnen werden offiziell als verschwunden bestätigt, in sechs weiteren Fällen konnte kein Zusammenhang mit dem Auftrag der Kommission festgestellt werden. „Den nationalen Frieden zu festigen und den Frieden zwischen den UruguayerInnen für immer zu besiegeln“, so lautete der Regierungsauftrag bei Einsetzung der Kommission. Dazu sollte konkret die Situation und das Schicksal der Verhafteten-Verschwundenen während der Zeit des Militärregimes untersucht werden. Akribisch werden die Namen der Verschwundenen aufgelistet: neben den 38 in Uruguay festgestellten Fällen, verschwanden in Argentinien insgesamt 182 uruguayische StaatsbürgerInnen, in Chile sieben, in Bolivien eine Person und in Paraguay zwei.
Als politische Aussage wird festgestellt, was im Land seit Ende der Militärdiktatur Anfang 1985 niemals offiziell ausgesprochen wurde: Während der Militärdiktatur folterten die staatlichen Sicherheitskräfte, hielten ohne richterlichen Befehl Menschen in geheimen Zentren fest, ließen Menschen verschwinden, brachten Menschen um und begingen weitere schwere Vergehen gegen die Menschenrechte.

Fortschritt oder Augenwischerei?

Obwohl von allen anerkannt wird, dass die politische Aussage, die erstmals die direkte Verantwortung der Staatsorgane und des Militärs offen ausspricht, einen Fortschritt darstellt – über 15 Jahre lang war die offizielle Sprachregelung „Es wurden beim Verhalten einiger staatlicher Stellen während der Militärdiktatur Referenzpunkte verloren“ – fällt die Reaktion auf den vorgelegten Abschlussbericht der Kommission erwartungsgemäß sehr unterschiedlich aus. Das dürftige Resultat sehen selbst einige Kommissionsmitglieder kritisch. „In den meisten Fällen sind nicht zehn Prozent der Wahrheit ans Licht gebracht worden, und in einigen Fällen ist gar nichts Neues hinzugekommen“, so ein Mitglied der Kommission.
Zumindest wird nicht verschleiert, warum die Datenlage so dünn ist. Die Kommission hatte keine juristischen Vollmachten und es gab nahezu keine Unterstützung durch die Militärs und die Polizei, im Gegenteil. Schon während der Arbeit der Kommission und besonders nach Vorstellung des Abschlussberichtes meldeten sich die obersten Militärs unverhohlen mit nebulösen Drohgebärden zu Wort: So drohte der oberste Militärbefehlshaber Uruguays, der General Carlos Daners, Mitte Mai während eines Vortrags vor der Militärakademie, bei dem auch der Präsident anwesend war, damit, dass die Ruhe im Land gestört werden könnte, sollte das Thema der Verschwundenen weiterverfolgt werden.

Wo sind die Toten?

Besonders umstritten ist eine Vermutung, die im Bericht der Kommission ausgesprochen wird und die sich nur auf die Aussagen von nicht näher genannten Angehörigen des Militärs stützt. Die sterblichen Überreste von insgesamt 25 Verschwundenen, die seit 1973 sterben mussten, sollen 1984 ausgegraben, daraufhin verbrannt und die Asche in der Nähe eines Stadtrandviertels von Montevideo in den Río de la Plata geschüttet worden sein. Diese Behauptungen kann die Kommission nicht beweisen und so vermuten viele, dass diese Version lanciert wurde, um zu signalisieren, dass es keinen Sinn macht, weiter nach den sterblichen Überresten der Verschwundenen zu suchen. Dabei sollte das Beispiel Chile, wo die Militärs eine ähnliche Spur legten, die sich später als falsch herausstellte, eine Lehre sein.
Für den Senator Rafael Michelini vom linksliberalen Nuevo Espacio ist es offensichtlich, dass es sich hier um ein Ablenkungsmanöver handelt. Sein Vater Zelmar Michelini war selbst eines der prominentesten Opfer der Zusammenarbeit zwischen den uruguayischen und argentinischen Militärdiktaturen: der Mitgründer der Frente Amplio wurde zusammen mit dem ehemaligen Vorsitzenden des Repräsentantenhauses Héctor Gutiérrez Ruiz von der Partido Nacional im Mai 1976 in Buenos Aires verschleppt und vier Tage später ermordet aufgefunden. Für Rafael Michelini muss die Suche nach den sterblichen Überresten der Opfer des Terrors weitergehen bzw. eine ernsthafte Untersuchung, die auch juristisch gegen die Verantwortlichen vorgehen kann, muss jetzt endlich beginnen.

Schlussstrich?

Für den Präsidenten Jorge Batlle, der im Gegensatz zu seinen Vorgängern das Thema nicht komplett ausblendet, ist der Kommissionsbericht der punto final, der Schlussstrich unter das Thema der Verhafteten-Verschwundenen und er verfolgt das Ziel, das auch gesetzlich zu verankern. Dazu rang er sich durch, die politischen Aussagen der Kommission anzuerkennen, obwohl er unter dem Druck der Militärs stand. Andererseits betrachtet er aber im Nachhinein den Bericht als die im Gesetz zur Straflosigkeit von 1989 geforderte Untersuchung des Schicksals der Verschwundenen.
In diesem Sinne unterzeichnete er am 16. April ein Regierungsdekret. Für die Vereinigung der Mütter und Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen in Uruguay (Madres y Familiares de Uruguayos Detenidos Desaparecidos) ist der Abschlussbericht der Kommission für den Frieden alles andere als ein Schlussstrich und sie weisen darauf hin, dass nie von einer Untersuchung und damit von der Erfüllung der Verpflichtung des 4. Zusatzes zum Gesetz über die Straflosigkeit von 1989 geredet wurde.
„Wir sind weit davon entfernt, dass das Kapitel der Verschwundenen in Uruguay geschlossen wird. Wir glauben, dass das bestätigt wurde, was wir alle schon geahnt hatten. Dass die Kommission von Beginn an keine Mittel hatte, tatsächlich etwas zu untersuchen, kein einziger Körper ist aufgetaucht, keine neuen Fakten wurden herausgefunden“, so die Vereinigung in einer Stellungnahme nach Vorlage des Berichtes.

Straffreiheit statt Aufklärung

Und mehr noch, der Schlusspunkt soll auch für zivile Personen, denen als Funktionsträger während der Militärdiktatur Verbrechen gegen die Menschenrechte zur Last gelegt werden, gelten. Auch dass soll per Dekret neu geregelt werden. Konkreter Anlass dafür ist die Bestätigung des Urteils gegen den ehemaligen Kanzler Juan Carlos Blanco, der unter der Regierung Bordaberry 1973 den Weg zur Militärdiktatur ebnete und der verantwortlich gemacht wird für das Verschwinden von Elena Quinteros. Die junge Lehrerin wurde 1976 aus der Botschaft von Venezuela in Montevideo, wohin sie sich geflüchtet hatte, verschleppt. Blanco, der sechs Monate in Untersuchungshaft saß, wurde zwar mit Hilfe des Präsidenten der Republik Anfang Mai 2003 freigelassen, das Verfahren gegen ihn läuft aber weiter und ihm droht eine mindestens sechsjährige Haftstrafe. Das Hauptproblem der Regierung Batlle ist denn auch im Moment nicht, nach Wegen zu suchen, wie die Kommission weiterarbeiten kann, sondern wie sie Straffreiheit auch für die zivilen Verantwortlichen der Militärdiktatur ermöglicht. Dazu gibt es drei Ideen: die Ausweitung des Gesetzes über die Straflosigkeit auch für Zivile, eine Begnadigung oder eine Amnestie. Der ehemalige Präsident Juan Maria Bordaberry steht ebenfalls auf der Anklageliste, ihm wird vorgeworfen, verantwortlich für die Ermordung von Gewerkschaftern im Jahr 1973 zu sein.
Aber das Thema ist nicht von der Tagesordnung: Anfang Mai versammelten sich Hunderte von DemonstrantInnen vor dem Haus des ehemaligen Kanzlers Blanco im noblen Stadtviertel Carrasco und veranstalteten ein „Escrache“, eine Art spontane Demonstration vor seinem Wohnhaus. Auch der Präsident wurde scharf angegriffen, „dieser ehemalige Staatsangestellte lebt heute in seinem Frieden, ebenso wie der Präsident, der am Ende seiner frustrierenden Amtsperiode ohne Freunde ist. Er hat sich eine Kommission für seinen Frieden geschaffen, eine Kommission für seinen Frieden und den Frieden von Juan Carlos Blanco. Diese Kommission hat nicht dazu getaugt, die Folterer und Mörder zu befragen, aber wohl hat sie dazu getaugt, die Verantwortlichen freizulassen. 30 Jahre nach dem Putsch werden wir eine Welle der Proteste hervorrufen, damit nicht Bordaberry, nicht die Militärs, nicht irgendein anderer der Täter von damals und heute Ruhe findet.“

Die Terrorbilanz

Einer der Täter von damals, der 1971 mit nur 22 Prozent der abgegeben Stimmen zum Präsidenten gewählte Politiker Juan María Bordaberry vom ultrarechten Flügel der Colorado-Partei unterzeichnete am 27. Juni 1973 ein Dekret, mit dem die beiden Kammern des uruguayischen Parlamentes aufgelöst wurden. Kurz darauf, im Morgengrauen des nächsten Tages besetzten Militärs das Parlamentsgebäude.
Dieser Staatsstreich zerstörte den Mythos vom zivilen und demokratischen Sozialstaat Uruguay. Das Parlament wurde aufgelöst, öffentliche Versammlungen wurden untersagt, Gewerkschaften und linke Parteien wurden verboten, eine Pressezensur wurde eingeführt. Nach dem Staatstreich in Brasilien 1964 fielen die lateinamerikanischen Regierungen mit tatkräftiger Unterstützung der USA in den siebziger Jahren reihenweise in die Hände der Militärs: Uruguay im Juni 1973, kurz darauf putschte im September 1973 Augusto Pinochet in Chile, 1976 übernahmen die Militärs in Argentinien die Macht. Alle diese Länder verwandelten sich in Laboratorien des Terrors mit dem Ziel, die Zivilgesellschaft in ihrer Struktur zu zerstören und die politischen und sozialen Organisationen wie die Gewerkschaften zu zerschlagen und ein neo-liberales Wirtschaftsmodell zu etablieren.
Während der zwölf Jahre andauernden Herrschaft der Militärs war das ganze uruguayische Volk dem Terror ausgesetzt. Zwischen 1972 und 1984 wurden etwa 60.000 UruguayerInnen festgenommen, entführt, gefoltert und vor Militärgerichte gestellt. Mehr als 6.000 Personen wurden als politische Gefangene inhaftiert, für ein Land mit einer Einwohnerzahl von drei Millionen Menschen sehr hohe Zahl, die höchste Prozentzahl aller mit Folter und Terror belasteten lateinamerikanischen Ländern.
Während der Militärdiktatur verschwanden über 200 StaatsbürgerInnen. Viele davon wurden in Argentinien entführt, das bis 1976 eine zivile Regierung hatte und wohin sich viele UruguayerInnen nach dem Putsch im Juni 1973 geflüchtet hatten, dessen Militärs aber schon während dieser Zeit mit ihren KollegInnen aus Uruguay kollaborierten. Diese allgegenwärtige, allumfassende Bedrohungssituation und die Systematik des Terrors hatten tiefgreifende Auswirkungen auf das Alltagsleben, auf die Stimmung und auf das Miteinander in dem kleinen Land, in dem traditionell jeder jeden kennt und dessen Gesellschaft durch verwandtschaftliche oder freundschaftliche Bande miteinander verknüpft ist. Die Militärs, die nie einen gesellschaftlichen Rückhalt in der Bevölkerung hatten und die auch nicht mit der Unterstützung der ökonomisch dominierenden Klasse der Großgrundbesitzer rechnen konnten, zerbrachen durch den systematischen Terror gegen jeden und alles diesen gesellschaftlichen Konsens und zerstörten diese soziale Reproduktion durch ein Regime der Einsamkeit, der Unsicherheit, der Verunsicherung und der Depression. Muster, die die uruguayische Gesellschaft traumatisiert haben und sie bis heute prägen.

Der Voto Amarillo

Viele Generationen Uruguays kannten nur den Rechtsstaat. Der Bruch mit dieser zivilen, rechtsstaatlichen Tradition hatte Konsequenzen für die Nation als Ganzes. Dieses Trauma wurde mit dem so genannten „Voto Amarillo“, dem gelben Votum manifest. Für viele UruguayerInnen, die die Zeit der Militärdiktatur erlebt haben, ist diese Niederlage bis heute nicht überwunden.
Schließlich war Uruguay das einzige Land in Südamerika, in dem es eine Volksabstimmung darüber gab, ob es Straffreiheit für die Verbrechen der Militärdiktatur geben oder ob die Täter zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Der Verfassung nach müssen 25 Prozent der Wahlbevölkerung Unterschriften für ein Referendum leisten, das bei Erfüllung dieser Quote eingesetzt werden muss. 1987 wurde mit der Sammlung der Unterschriften begonnen. Ein steiniger Weg, der insgesamt über neun Monate dauerte, bis die Unterschriften zur Prüfung übergeben werden konnten.
Fast zwei Jahre zog sich dann das Ringen um die Unterschriften. Es gab Manipulationen und die regierende Colorado-Partei unter Julio María Sanguinetti versuchte das Plebiszit zu verhindern. Umsonst – am 16. April 1989 fand das Volksbegehren statt. Unverhohlen drohten die Militärs mit der Neuauflage der Diktatur, falls sich das Volk gegen die Straflosigkeit entscheiden sollte.
Und diese Kampagne fruchtete: Mit grün, also gegen die Straffreiheit stimmten 770.000 UruguayerInnen (43 Prozent), mit gelb, d.h. für die Straffreiheit knapp über eine Million (57 Prozent). Das Gesetz über die Straflosigkeit (Ley de la caducicad) war bestätigt. Gerade weil es eine Entscheidung des Volkes war und nicht die Entscheidung einer Regierung, ist dieses Votum bis heute für viele, die entweder verhaftet waren, gefoltert worden, ihren Besitz verloren oder die gezwungen waren, ins Exil zu gehen, eine offene Wunde. Angst und Drohungen bestimmten das Votum, trotz des Verständnisses der historischen Situation bleibt Bitterkeit und das Gefühl, umsonst einen Kampf geführt zu haben. Ein wesentlicher Grund, warum in Uruguay die Aufarbeitung der Geschichte der Zeit zwischen 1973 und Ende 1984 im Grunde noch nicht richtig begonnen wurde. Das Voto Amarillo steht bis heute für eine Paralysierung dieser Debatte.

Heute, mehr als jemals zuvor, niemals wieder!

Mehr als 40.000 Menschen demonstrierten am 20. Mai 2003 in Montevideo unter dem Motto „Wo sind Sie? Heute, mehr als jemals zuvor, niemals wieder!“ Am achten Schweigemarsch, der von den Müttern und Familienangehörigen der Verhafteten und Verschwundenen organisiert wird, nahmen in diesem Jahr so viele Menschen teil wie seit Jahren nicht mehr. Sie machten so deutlich, dass sie keinen Schlusspunkt wollen.
Die Menschen fordern endlich eine ernsthafte Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur. Eine machtvolle Manifestation gegen das Bestreben des Präsidenten Jorge Batlle, das Kapitel offiziell zu beenden. In absoluter Stille fand der Marsch statt, die Menschen trugen Fotos der Verhafteten und Verschwundenen mit sich und zum Abschluss der Demonstration wurden die Namen der Verschwundenen vorgelesen und die Menschenmenge antwortete: Anwesend!

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