Mexiko | Nummer 341 - November 2002

Die Versöhnung steht am Ende

Interview mit Miguel Angel de los Santos, Rechtsanwalt und Mitglied des Netzwerks der Gemeinde-Verteidiger im Bundesstaat Chiapas, Mexiko

Alltägliche Gewalt prägt in Chiapas die Menschenrechtssituation. Miguel Angel de los Santos berichtet von der Agression des Militärs gegen die indigene Bevölkerung und entlarvt die heuchlerische Versöhnungspolitik der Regierung. Das Interview führten David Rosales, freier Journalist und Fotograf und Luz María Briones, freie Radiojournalistin im August 2002 in San Cristóbal de las Casas.

Hella Musick

Am 9. August hat die Internationale Zivile Kommission der MenschenrechtsbeobachterInnen in Chiapas nach dem dritten Besuch zwischen dem 26. Februar und dem 3. März diesen Jahres ihren abschließenden Bericht bekannt gegeben. In diesem Bericht wird klar dargestellt, dass die Situation der Menschenrechte in Chiapas nicht besser geworden ist. Was ist deine Meinung?

Der Bericht, den diese Gruppe von Menschen-rechtlerInnen herausgegeben hat, ist die vollständigste Arbeit, seitdem wir eine neue Regierung auf Bundes- und Landesebene haben. Die Tatsache, dass die Kommission in einem Bericht Aussagen aus den Gemeinden, von NGOs und von den Opfern einerseits und andererseits die Version von Regierungsfunktionären zusammengetragen hat, erlaubt es dem Leser zu vergleichen. Das Dokument macht deutlich, dass es in der Menschenrechtssituation in Chiapas keinen bedeutenden Fortschritt gegeben hat. Der Bericht dokumentiert die Straflosigkeit, mit der die paramilitärischen Gruppen immer noch in Chiapas operieren. Den Opfern, die Familienmitglieder durch die Paramilitärs verloren haben, wird von staatlicher Seite keine Möglichkeit auf Gerechtigkeit eingeräumt. Zur Routine gehören willkürliche, illegale Festnahmen, häufig auch Massenfestnahmen von denen besonders Menschen indi-gener Herkunft und Bauern betroffen sind. Es ist unglaublich, dass in einer einzigen Polizeiaktion 60 oder 70 Personen festgenommen werden und man später sagt, dass 50 von ihnen gar nichts mit der Sache zu tun hatten. Deshalb bricht dieser Bericht zur Lage der Menschenrechte in Chiapas mit der von Bundes-und Landesregierung propagierten Idee, dass in Chiapas eine neue Ära angebrochen sei.

In der Pressekonferenz, die die internationalen BeobachterInnen gaben, zeigte man sich besonders besorgt über die Region Montes Azules.

Was in Montes Azules passiert, ist ein klarer Versuch von Vertreibung indigener Bevölkerung. Glücklicherweise haben wir das verhindern können. Wir haben eine Petition vorbeugender Maßnahmen der interamerikanischen Menschenrechtskommission vorgelegt. Die Organisation, abhängig von der Organisation Amerikanischer Staaten, bat die mexikanische Regierung um Informationen und berief sich dabei auf unsere Petition. Die mexikanische Regierung aber antwortete, dass sie nicht räumen sondern bloß umsiedeln wollte. Wir aber konnten das Gegenteil beweisen. Indem die Regierung den Gemeinden die Gelder streicht, will sie sie zwingen, ihr Land zu verlassen. Es handelt sich also um eine Zwangsumsiedlung.

Und wozu dient der Regierung zufolge die Umsiedlung ?

Als Vorwand dient die ökologische Erhaltung der Montes Azules. Doch wir haben Beweise dafür, dass sich ganz andere Interessen unter dem Deckmantel des Umweltschutzes verbergen, wenn internationale Umweltschutzorganismen hier in Mexiko agieren. Sie beeinflussen die Regierungspolitik. Konkret beziehe ich mich auf International Conser-vation, eine Organisation aus den USA, die Gelder von großen Unternehmen wie McDonalds bekommt. Die indigenen Völker haben aber natürlich das Recht auf ihr Land. Man kann nicht Umweltschutz als Vorwand dafür nehmen, diese Menschen zu entwurzeln.

Einerseits sagen Bundes- und Landesregierung, dass ein Klima des Friedens und der Versöhnung in Chiapas herrscht. Andererseits sagt uns die Realität jeden Tag, dass sich die Repression verschärft. Wie erklärst du diese offensichtliche Differenz?

Nach außen wird ein Bild von Mexiko projiziert, das der Realität nicht entspricht. Dieses Bild zeigt ein Mexiko, das die Menschenrechte achtet und wo eine neue Zeit der Demokratie angebrochen ist. Es wird mit großen finanziellen Mitteln über die Medien transportiert.

Können sie ein konkretes Beipiel nennen?

Die Versöhnungspolitik, die die Landesregierung so eifrig bemüht ist zu betreiben, kommt zu einer Unzeit. In den Themen, die in San Andrés diskutiert wurden, steht das Thema Versöhnung am Schluss. Es ist doch logisch, dass Versöhnung erst eintreten kann, wenn Demokratie und Gerechtigkeit bereits existieren, wenn zum Beispiel die Rechte der indigenen Völker oder die Rechte der Frauen anerkannt worden sind. Aber die Regierung von Chiapas hat von Anfang an ein Versöhnungsbüro eingerichtet und die Stelle eines Beauftragten für die Versöhnung geschaffen, dessen Tätigkeit im Wesentlichen die eines Funktionärs des Innenministeriums ist.

Die Landesregierung hat im Juli von der Friedrich-Ebert-Stiftung 100.000 Euro erhalten, um ca. 200 „Versöhnungsagenten“ für die Menschenrechtsarbeit in den Gemeinden auszubilden. Hältst du diese Unterstützung für sinnvoll?

Solange die politischen und sozialen Differenzen anhalten, solange hunderte von Agrarkonflikten nicht gelöst sind, die Teilung innerhalb der Gemeinden anhält, Militarisierung, Paramilitarisierung und Rechtsprechung nach politischem Gutdünken stattfinden, also die Grundproblematik nicht gelöst ist, werden die Versöhnungsbeauftragten nichts machen können. Versöhnung steht am Ende des Prozesses und nicht am Anfang.

Meinst du, dass die Menschenrechtsverletzungen in der letzten Zeit zugenommen haben?

Nichts deutet darauf hin, dass die Menschenrechtsverletzungen weniger geworden sind. Aber etwas hat sich verändert: Es gibt keine Eingriffe in die autonomen Landkreise, wir hören nichts von schweren Zusammenstößen oder Massakern. Aber immer noch ist die Folter die beliebteste Methode der Polizei, um Geständnisse zu erzwingen. Allein die Tatsache, dass 15.000 Menschen in den indigenen Landkreisen von Oxchuc und Huixtan durch eine heilbare Infektionskrankheit, das Trachom, erblindet sind, aber man von Regierungsseite nichts unternimmt, um diesen Menschen zu helfen und stattdessen ein Fußballstadion baut, ist eine Menschenrechtsverletzung.

Bis jetzt haben wir nur von Menschenrechtsverletzungen der Regierung von Chiapas geredet. Welche Rolle spielt die Bundesregierung?

In letzter Zeit wurden die von Soldaten begangenen Menschenrechtsverletzungen weniger bekannt gemacht, weil sie Teil des täglichen Lebens geworden sind. Zum Beispiel: du fährst in die Selva, es gibt Militärkontrollen, du musst anhalten, wirst überprüft, man hindert dich daran, dich frei auf der Straße zu bewegen. Aber du hast das schon akzeptiert. Im Gegensatz zur Nationalen Kommission für Menschenrechte, die die Präsenz des Bundesheeres als solches nicht für eine Menschenrechtsverletzung hält, bin ich davon überzeugt, dass allein die Präsenz des Heeres in indigenen Gemeinden mit eigener Kultur, Sitten und Gebräuchen Menschenrechte verletzt. Eine reguläre Streitkraft stellt einen Fremdkörper in einem Dorf dar und verhindert ein normales Alltagsleben. Sie behindert die Entwicklung dieser Kultur und hält sie in ständiger Unsicherheit.

Übersetzung: Hella Musick

KASTEN:
Das Netzwerk der Gemeinde-Verteidiger

1. Das Netzwerk von Verteidigern der Menschenrechte auf Gemeindeebene wurde 1998 gegründet. Jetzt arbeiten 26 Gemeinde-Verteidiger aus drei unterschiedlichen Regionen in Chiapas vor allem im so genannten Konfliktgebiet. In den letzten Jahren hat der Rechtsanwalt Miguel Angel de los Santos ein Stipendium von der McArthur-Stiftung bekommen. Die Stiftung unterstützt Organisationen, die sich für globale Sicherheit und Nachhaltigkeit engagieren.
2. Das Netzwerk ist Teil des umfassenderen Projekts der Autonomiebewegung indigener Gemeinden. Paternalistische Strukturen sollen abgebaut werden. Bisher lag die Verteidigung der Menschenrechte in den Händen von Rechtsanwälten, NGOs, Vertretern der katholischen Kirche, das heißt so genannter Experten, die nicht zur Gemeinde gehören und nur in seltenen Fällen indigene Sprachen sprechen.
3. Anders als bei dem herkömmlichen Umgang der Menschenrechtsorganisationen mit den Opfern, fördert das Netzwerk das direkte Gespräch, das die Opfer entweder mit den Gemeinde-Verteidigern oder den Regierungsinstanzen führen. Die traditionelle Rolle der NGOs als Vermittler wird vermieden.
4. Die Gemeinde-Verteidiger sind Mitglieder indige-ner Gemeinden und ihren Gemeinden direkt verantwortlich. In monatlichen Versammlungen legen sie Rechenschaft ab, nehmen Empfehlungen und Kritik entgegen.
5. Die Gemeinde-Verteidiger sind zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen mit Video-Kameras, Aufnahmegeräten, Fotoapparaten und Laptops ausgerüstet. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Menschenrechtsverletzungen weniger werden, wenn für die Agressoren die Gefahr besteht, erkannt und überführt zu werden.

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