Guatemala | Nummer 276 - Juni 1997

Die Wahrheit an höchster Stelle

Wie die Vergangenheit in der Gegenwart Streit entzündet

Der Frieden hat schlecht begonnen, hieß es nach Bekanntwerden der Amnestie­re­ge­lun­gen. Abkommen wurden vereinbart, Gesetze verabschiedet, Kommissionen ein­ge­setzt, die viel Anlaß zu Skepsis und Kritik geben. Der folgende Beitrag versucht, Licht ins Dunkel der Auseinandersetzungen um die Amnestiefrage in Guatemala zu brin­gen. Dabei geht es weniger um Formalia oder Bürokratie als vielmehr um die po­litische, juristische und nicht zuletzt um die individuelle Aufarbeitung der unge­zähl­ten Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahre.

Walter Valencia

Schon lange vor der Unter­zeichnung des Abkommens zur Wiedereingliederung der Kämp­ferInnen der Nationalen Revolu­tionären Einheit Guatemalas (URNG) am 12. Dezember 1996 war die Diskussion um die juri­stische Formel, die es den Gue­rilleros ermöglichen sollte, sich ins legale Leben einzufügen, von einer heftigen politischen Kon­troverse überschattet. Gestritten wurde um die Amnestieregelun­gen für die Guerilla, aber auch um die für das Militär und die paramilitärischen Einheiten, die im Auftrage des staatlicher Stel­len agiert hatten.
Die Kontro­verse wurde aller­dings jäh durch einen “bedauerlichen Zwischen­fall” beendet: Als im Herbst letzten Jahres ein URNG-Kom­mando die Unternehmerin Olga de No­vella entführt hatte, wur­den die Friedensverhandlungen zur Wie­dereingliederung abrupt ausge­setzt – das öffentliche In­teresse richtete sich von der Amnestie­diskussion weg hin zum Entfüh­rungsfall und zum grundsätzli­chen Fortgang der Friedensver­handlungen. Als die Gespräche wieder aufgenommen wur­den, waren die Verhandlun­gen zwi­schen Regierung und URNG zum Thema im Wesentli­chen abgeschlossen.
Die Verhandlungsparteien hat­ten die Gelegenheit genutzt und den Aufschrei der Bevölke­rung, die eine Generalamnestie befürchtete, geflissentlich über­hört. Ein wichtiges Sprachrohr der AmnestiegegnerInnen ist die Alianza contra la Impunidad (Al­lianz gegen die Straflosig­keit/ACI), ein Zusammenschluß von Menschenrechtsorganisatio­nen und kirchlichen Einrichtun­gen. Die ACI betonte, daß das Abkommen nur dann in der Ge­sellschaft moralisch anerkannt werden könne, wenn es aus­schließlich politische Delikte für straffrei erkläre, also diejenigen, die von der Guerilla gegen den Staat begangen wurden. Angehö­rige beider Konfliktparteien müßten sich jedoch vor der Ge­sellschaft und der Justiz für Men­schenrechtsverletzungen ver­antworten, insbesondere für solche, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden. Das Hauptkriterium der ACI war, daß der Staat zwar das Recht habe, die gegen ihn ge­richteten Taten, aber auf keinen Fall Übergriffe gegen Dritte zu begnadigen. Einzig und allein die Opfer dieser Übergriffe könnten den Schuldigen verzei­hen.
Ende Dezember verabschie­dete der Kongreß hinter ver­schlos­senen Türen das “Gesetz zur Nationalen Versöhnung” (vgl. LN 272). Wie vorher schon das Abkommen, amnestierte das Gesetz in seinem umstrittensten Teil Delikte und Menschen­rechts­verletzungen, “die began­gen wurden, um zu verhindern, daß ein politisches Delikt began­gen würde”. Der Kommentar von fort­schrittlichen JuristInnen: Das Ergebnis ist eine juristische Un­geheuerlichkeit!

Das “Gesetz zur nationalen Versöhnung”

Auch wenn die Amnestiere­gelung bislang lediglich auf Ex-Guerilleros angewandt worden ist, haben die Menschenrechtsor­ganisationen, angeführt von der ACI, eine Verfassungsklage ge­gen das Gesetz eingereicht. (Das Urteil des höchsten Gerichtes des Landes wurde für Ende April angekündigt, lag bei Redaktions­schluß aber noch nicht vor; Anm. d. Red.) Das Gesetz wird als Ge­neralamnestie angesehen und ist in puncto Reichweite und All­gemeingültigkeit bereits das zweite seiner Art in der gua­temaltekischen Rechtsprechung. Mit dem ersten amnestierten sich die Streitkräfte am 13. Januar 1986 – dem formellen Ende der Militärdiktatur – selbst für auf alle Menschenrechtsverletzun­gen, die zwischen dem 23. März 1982 und dem Tag des Inkraft­tretens des Gesetzes begangen worden waren.

Wahrheitskommission im Dienste des Verschweigens

Der internationale Vergleich zeigt, daß beim Übergang von Dik­taturen und bewaffneten Kon­flikten zu demokratischen Ord­nungen Wahrheitskommis­sio­nen eine zentrale Stellung in­nehaben. Institutionen also, de­ren Aufgabe es ist oder sein sollte, die Verbrechen der Ver­gangenheit aufzuklären und durch Erkennen und Bearbeiten zum Versöhnen zu kommen.
In Guatemala beruht die Bil­dung einer Wahrheitskommis­sion auf dem “Abkommen über die Einrichtung zur historischen Aufklärung der Menschenrechts­verletzungen und Gewalttaten, durch die der guatemaltekischen Bevölkerung Leid zugefügt wurde”, auf das sich URNG und die Regierung bereits im Juni 1994 geeinigt hatten. Allgemein wird es als eines der schwäch­sten Dokumente des gesamten Ver­handlungsprozesses angese­hen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist der, daß die Verhandlungsparteien der Wahrheitskommission von vorn­herein einen Maulkorb ver­paßt haben. Weder darf die Kom­mission die an Menschen­rechts­verletzungen Schuldigen na­mentlich benennen, noch dür­fen die Untersuchungsvorgänge oder Resultate vor Gericht ver­wendet werden. So soll verhin­dert werden, daß die Menschen­rechtsverletzer in einer persönli­chen und direkten Form zur Ver­antwortung gezogen werden. Nicht nur die Wahrheitsfindung, die ja eigentlich das Ziel besag­ten Abkommens ist, bleibt dabei auf der Strecke, sondern auch das zweite fundamentale Anlie­gen erhält keine Chance: die Ge­rechtigkeit.
Die programmierte Schwäche der Wahrheitskommission liegt zu­dem in ihrem sehr begrenzten Mandat. Trotzdem ist es denk­bar, daß deren Mitglieder ihre Aufgabe flexibler wahrnehmen könnten als es im Abkommen vor­gesehen ist, und so einen Beitrag zur nationalen Versöh­nung leisten. Darauf zielte im November 1996 der Vorschlag guatemaltekischer Menschen­rechtsgruppen, die Kommission neu zu strukturieren, die Zahl ih­rer Mitglieder zu erhöhen und eine Garantie dafür zu schaffen, daß diese über angemessene Un­ter­suchungskapazitäten ver­fügen. Die Verhandlungsparteien über­gin­gen die Vorschläge der Men­schen­rechtsgruppen jedoch er­neut.

Begrenzte Kompetenz

Als Vorsitzender der Kom­mission war eigentlich Jean Ar­nault vorgesehen, zwischen Ja­nuar 1994 und der Unterzeich­nung des endgültigen Friedens­abkommens am 29. Dezember 1996 der von den Vereinten Na­tionen eingesetzte Vermittler im Verhandlungsprozeß. Arnault wur­de allerdings zum Leiter der UN-Mission in Guatemala MI­NU­GUA ernannt und kam daher für die Wahrheitskommission nicht mehr in Frage. Für die Ar­beit der Kommission kann dies von Vorteil sein, da er als ehe­maliger UN-Vermittler zwischen den Verhandlungsparteien si­cher­lich nicht die unabhängige Persönlichkeit gewesen wäre, die für ein derartiges Amt nötig ist. Als Ersatz stimmten die Ver­einten Nationen dem ge­mein­sa­men Vorschlag von URNG und Re­gierung zu, die sich auf den Ber­liner Völkerrechtler Christian Tomuschat geeinigt hatten. To­muschat mußte dann zwar den be­reits von Arnault eingesetzten Se­kretär der Wahrheitskommis­sion übernehmen, konnte aber die übrigen zwei Kommissions­mit­glieder ernennen. Beide, Oti­lia Coti und Alfredo Ballsels, ver­fügen über guten Rückhalt in ver­schiedenen gesellschaftlichen Grup­pen.
Der Handlungsrahmen der Wahrheitskommission ist durch die Comisión de Acompana­miento y Seguimiento de los Acuerdos (“Begleit- und Kon­trollkommission”) begrenzt, die aus VertreterInnen von Regie­rung und Ex-Guerilla gebildet wird. Diese Instanz überwacht die Umsetzung der gesamten Friedensvereinbarungen. Im Rah­men dieses Mandats wird sie letztlich den Zeitpunkt für Be­ginn und Ende der Untersuchun­gen wie auch über den Gebrauch, der von den daraus gewonnenen Resultaten gemacht wird, be­stimmen. Die Beteiligten der Wahrheitskommission sind so zwi­schen den unmittelbaren In­teressen der Vertragsunterzeich­ner eingekeilt.

Auch auf kleine Ergebnisse muß gewartet werden

Bis jetzt hat die Wahrheits­kommission ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Man wartet in Guatemala darauf, daß die Mit­glieder der Kommission die ver­schiedenen organisierten Grup­pierungen zusammenzuru­fen, damit diese “ihre” Fälle von Men­schenrechtsverletzungen vor­legen. Bereits seit einigen Jah­ren führen verschiedene Pro­jek­te unabhängige Untersuchun­gen zur Wahrheitssuche in Gua­temala durch und werden auf dieser Grundlage Berichte vorle­gen. Auch wenn diese in der Wahrheitskommission keine Be­rücksichtigung finden, werden sie sich zumindest in parallele, nicht-offizielle Informati­ons­quel­len verwandeln, um die wah­re Geschichte der Menschen­rechts­verletzungen im Lande auf­zudecken.
Die Position der Regierung, ihren eigenen Machterhalt wich­tiger zu nehmen als den gesell­schaftlichen Konsens, zeigt sich auch in anderen Bereichen der Inneren Sicherheit und Vergan­genheitsaufarbeitung. Zu nennen ist hier die Verabschiedung des Gesetzes zur Schaffung einer Po­li­cia Nacional Civil (“Zivilen Na­tionalen Poli­zei”/PNC), das in Form und In­halt stark vom ent­spre­chenden Abkommen zur “Stär­kung der Zivilgewalt und der Rolle der Streitkräfte in einer demokrati­schen Gesellschaft” vom Sep­tember 1996 abweicht. Das Ge­setz eröffnet jetzt den Mitglie­dern der Streitkräfte, die in den kommenden Monaten demobili­siert werden sollen, die Mög­lichkeit, in den Polizeidienst überzuwechseln. Inoffiziell ist bekannt, daß derzeit ungefähr 30 Offiziere der Streitkräfte in Spa­nien und Chile für künftige Füh­rungsaufgaben innerhalb der neu­en Polizei trainiert werden.
Auch an anderer Stelle zeigt sich, daß die Armee keineswegs bereit ist, ohne weiteres auf ihre Positionen zu verzichten. Eine Fraktion innerhalb der Regierung hat­te versucht, das für die Ge­heimdienste zuständige Büro des Präsidenten nach zivilen Maß­stäben umzuformen. Dieser Plan hielt sich aber nur kurz: Die Zi­vilisten wurden entfernt, an ihre Stelle traten Mitglieder der Streitkräfte, die über eine lange Vorgeschichte im militärischen Geheimdienst verfügen. Dieser Vorgang wird als klares Signal für die Absicht der Regierung gesehen, die Allianz mit den Streitkräften aufrechtzuerhalten.
Beide Beispiele, Polizei und Geheimdienst, bestätigen: Ob­wohl Mitglieder der Streitkräfte verstärkt Positionen besetzen, die weniger im Rampenlicht der Öf­fentlichkeit stehen, stellen sie nach wie vor einen wichtigen Machtfaktor im Kräftespiel der guatemaltekischen Politik dar. Darin liegt ein wichtiger Grund dafür, daß Menschenrechtsgrup­pen bei ihren Forderungen nach einer wirklichen Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit auf er­bitterten Widerstand stoßen.
Zusätzlich sind die Be­müh­ung­en um Aufklärung der Men­schen­rechtsverletzungen und um Ver­folgung der Täter durch den all­gemeinen politi­schen Kontext ge­prägt, der seit der Un­ter­zeichnung des ab­schließenden Frie­densabkom­mens entstanden ist. Dieser ist nicht zuletzt von zwei Entwick­lungen geprägt: zum einen von der Eingliederung der URNG in das zivile Leben und deren Auf­bau einer po­li­ti­schen Partei, zum anderen von den sozialen Kon­flikten, die durch die neoliberale Politik des Prä­sidenten Alvaro Ar­zú ver­schärft werden. Die Men­schen­rechts­organisationen könnten sich in diesem Klima in eine wich­tige politische Opposi­tions­kraft verwandeln. Der Ruf nach dem Recht der Opfer und Hin­ter­blie­benen von Menschen­rechts­ver­letzungen, die Ver­ant­wort­li­chen zu benennen und zur Re­chen­schaft zu ziehen, wird wei­ter­hin laut bleiben.
Übersetzung: Bettina Bremme

KASTEN

Der guatemaltekische Anwalt Carlos Enríquez kommentiert das vom Kongreß ver­ab­schie­dete Amne­stiegesetz und zeigt notwendige Schritte für eine wirkliche Ver­ar­bei­tung der Verbrechen des be­waffneten internen Konflikts auf:

Das “Gesetz zur Natio­nalen Ver­söhnung” ist dehnbar genug, um alle Urheber von Menschenrechts­ver­letzungen oder sonstige Kriminelle straffrei ausgehen zu lassen. Dadurch wird es – gewollt oder un­gewollt- zu einer so umfassenden Amne­stie, daß es grundlegende Rechte des guatemaltekischen Vol­kes verletzt: das Recht auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, und auf die Verurteilung der direkten Ak­teu­re der staatlicherseits aus­geübten Terrorpolitik.
Angesichts der Unterzeich­nung des Friedensvertrages scheint das eigentliche Wesen des Terrors in Vergessenheit zu geraten: Die Menschenrechte wurden in den kritischen Mo­menten des Konfliktes in Gua­temala nämlich nicht “einfach so” verletzt. Vielmehr war dies ein wesentlicher Bestandteil ei­ner staatlicherseits gezielt und bewußt durchgeführten Politik des Terrors. Das Hauptziel: mit der Strate­gie der counter­insurgency jede Form des Aufstandes einzudämmen. Bild­lich gesprochen ging es da­rum, dem “Fisch” (der Guerilla) das “Wasser” (das Volk) abzugraben. Der größte Teil der Opfer ge­hör­te daher der Zivilbevölkerung an, die als schützendes und un­terstützendes Umfeld der Auf­stän­di­schen betrachtet wurde. Unbestreitbar sind daher der guatemaltekische Staat und das Heer als wich­tigs­te ausführende Institution die Hauptverantwort­lichen für die begangenen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Um die Zivilbevölkerung in einem Kon­flikt vor ebensolchen Gewaltta­ten zu schützen, gibt es im Inter­nationalen Recht das Konzept der Menschenrechte und das Internationale Humanitäre Recht. Beides wurde in Guatemala staatlicherseits massiv und wie­derholt gebrochen.
An­dererseits ist bekannt, daß auch seitens der Aufständischen das Menschenrecht auf Leben und Un­ver­sehrtheit mißachtet worden ist. Bei solchen Taten der Guerilla handelte es sich je­doch nicht um ei­ne generelle Terrorstrategie, sondern um ver­einzelte Abrechnungen und be­grenzte Aktionen. Diese müs­sen vor dem Hintergrund der “Kultur der Gewalt” betrachtet werden, die in Guatemala, als Fol­ge­er­scheinung eines der grausamsten Kriege der letzten Zeit, das ge­samte soziale Gewebe durch­drun­gen hat. Für solche Delikte, die von nichtstaatlichen Akteu­ren begangen werden, hat das Inter­na­tio­nale Recht den Begriff der “Schweren Gewalttaten” ge­prägt. Unter Heranziehung eben dieses Kon­zeptes wurden in Ar­gentinien der Guerrillero Carlos Firmenich und in El Salvador Joaquín Vil­la­lo­bos verurteilt.
Das Beste, um den nationalen Versöhnungsprozeß voranzu­bringen, wäre, das beide Seiten öffentlich und als Institutionen getrennt voneinander eingeste­hen, daß aus ihren Reihen Ge­walttaten gegen Le­ben und Men­schenwürde begangen worden sind. Dazu gehört auf Seiten des Staates auch das Einge­ständ­nis einer Anti-Aufstands-Politik, die Menschenrechtsverletzungen als eine ihrer wesentlichen Kom­po­nenten ansah.
Übersetzung: Claudius Prößer
Gekürzt aus “Debate” vom Februar 1997

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