Die Wahrheit an höchster Stelle
Wie die Vergangenheit in der Gegenwart Streit entzündet
Schon lange vor der Unterzeichnung des Abkommens zur Wiedereingliederung der KämpferInnen der Nationalen Revolutionären Einheit Guatemalas (URNG) am 12. Dezember 1996 war die Diskussion um die juristische Formel, die es den Guerilleros ermöglichen sollte, sich ins legale Leben einzufügen, von einer heftigen politischen Kontroverse überschattet. Gestritten wurde um die Amnestieregelungen für die Guerilla, aber auch um die für das Militär und die paramilitärischen Einheiten, die im Auftrage des staatlicher Stellen agiert hatten.
Die Kontroverse wurde allerdings jäh durch einen “bedauerlichen Zwischenfall” beendet: Als im Herbst letzten Jahres ein URNG-Kommando die Unternehmerin Olga de Novella entführt hatte, wurden die Friedensverhandlungen zur Wiedereingliederung abrupt ausgesetzt – das öffentliche Interesse richtete sich von der Amnestiediskussion weg hin zum Entführungsfall und zum grundsätzlichen Fortgang der Friedensverhandlungen. Als die Gespräche wieder aufgenommen wurden, waren die Verhandlungen zwischen Regierung und URNG zum Thema im Wesentlichen abgeschlossen.
Die Verhandlungsparteien hatten die Gelegenheit genutzt und den Aufschrei der Bevölkerung, die eine Generalamnestie befürchtete, geflissentlich überhört. Ein wichtiges Sprachrohr der AmnestiegegnerInnen ist die Alianza contra la Impunidad (Allianz gegen die Straflosigkeit/ACI), ein Zusammenschluß von Menschenrechtsorganisationen und kirchlichen Einrichtungen. Die ACI betonte, daß das Abkommen nur dann in der Gesellschaft moralisch anerkannt werden könne, wenn es ausschließlich politische Delikte für straffrei erkläre, also diejenigen, die von der Guerilla gegen den Staat begangen wurden. Angehörige beider Konfliktparteien müßten sich jedoch vor der Gesellschaft und der Justiz für Menschenrechtsverletzungen verantworten, insbesondere für solche, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden. Das Hauptkriterium der ACI war, daß der Staat zwar das Recht habe, die gegen ihn gerichteten Taten, aber auf keinen Fall Übergriffe gegen Dritte zu begnadigen. Einzig und allein die Opfer dieser Übergriffe könnten den Schuldigen verzeihen.
Ende Dezember verabschiedete der Kongreß hinter verschlossenen Türen das “Gesetz zur Nationalen Versöhnung” (vgl. LN 272). Wie vorher schon das Abkommen, amnestierte das Gesetz in seinem umstrittensten Teil Delikte und Menschenrechtsverletzungen, “die begangen wurden, um zu verhindern, daß ein politisches Delikt begangen würde”. Der Kommentar von fortschrittlichen JuristInnen: Das Ergebnis ist eine juristische Ungeheuerlichkeit!
Das “Gesetz zur nationalen Versöhnung”
Auch wenn die Amnestieregelung bislang lediglich auf Ex-Guerilleros angewandt worden ist, haben die Menschenrechtsorganisationen, angeführt von der ACI, eine Verfassungsklage gegen das Gesetz eingereicht. (Das Urteil des höchsten Gerichtes des Landes wurde für Ende April angekündigt, lag bei Redaktionsschluß aber noch nicht vor; Anm. d. Red.) Das Gesetz wird als Generalamnestie angesehen und ist in puncto Reichweite und Allgemeingültigkeit bereits das zweite seiner Art in der guatemaltekischen Rechtsprechung. Mit dem ersten amnestierten sich die Streitkräfte am 13. Januar 1986 – dem formellen Ende der Militärdiktatur – selbst für auf alle Menschenrechtsverletzungen, die zwischen dem 23. März 1982 und dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes begangen worden waren.
Wahrheitskommission im Dienste des Verschweigens
Der internationale Vergleich zeigt, daß beim Übergang von Diktaturen und bewaffneten Konflikten zu demokratischen Ordnungen Wahrheitskommissionen eine zentrale Stellung innehaben. Institutionen also, deren Aufgabe es ist oder sein sollte, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuklären und durch Erkennen und Bearbeiten zum Versöhnen zu kommen.
In Guatemala beruht die Bildung einer Wahrheitskommission auf dem “Abkommen über die Einrichtung zur historischen Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen und Gewalttaten, durch die der guatemaltekischen Bevölkerung Leid zugefügt wurde”, auf das sich URNG und die Regierung bereits im Juni 1994 geeinigt hatten. Allgemein wird es als eines der schwächsten Dokumente des gesamten Verhandlungsprozesses angesehen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist der, daß die Verhandlungsparteien der Wahrheitskommission von vornherein einen Maulkorb verpaßt haben. Weder darf die Kommission die an Menschenrechtsverletzungen Schuldigen namentlich benennen, noch dürfen die Untersuchungsvorgänge oder Resultate vor Gericht verwendet werden. So soll verhindert werden, daß die Menschenrechtsverletzer in einer persönlichen und direkten Form zur Verantwortung gezogen werden. Nicht nur die Wahrheitsfindung, die ja eigentlich das Ziel besagten Abkommens ist, bleibt dabei auf der Strecke, sondern auch das zweite fundamentale Anliegen erhält keine Chance: die Gerechtigkeit.
Die programmierte Schwäche der Wahrheitskommission liegt zudem in ihrem sehr begrenzten Mandat. Trotzdem ist es denkbar, daß deren Mitglieder ihre Aufgabe flexibler wahrnehmen könnten als es im Abkommen vorgesehen ist, und so einen Beitrag zur nationalen Versöhnung leisten. Darauf zielte im November 1996 der Vorschlag guatemaltekischer Menschenrechtsgruppen, die Kommission neu zu strukturieren, die Zahl ihrer Mitglieder zu erhöhen und eine Garantie dafür zu schaffen, daß diese über angemessene Untersuchungskapazitäten verfügen. Die Verhandlungsparteien übergingen die Vorschläge der Menschenrechtsgruppen jedoch erneut.
Begrenzte Kompetenz
Als Vorsitzender der Kommission war eigentlich Jean Arnault vorgesehen, zwischen Januar 1994 und der Unterzeichnung des endgültigen Friedensabkommens am 29. Dezember 1996 der von den Vereinten Nationen eingesetzte Vermittler im Verhandlungsprozeß. Arnault wurde allerdings zum Leiter der UN-Mission in Guatemala MINUGUA ernannt und kam daher für die Wahrheitskommission nicht mehr in Frage. Für die Arbeit der Kommission kann dies von Vorteil sein, da er als ehemaliger UN-Vermittler zwischen den Verhandlungsparteien sicherlich nicht die unabhängige Persönlichkeit gewesen wäre, die für ein derartiges Amt nötig ist. Als Ersatz stimmten die Vereinten Nationen dem gemeinsamen Vorschlag von URNG und Regierung zu, die sich auf den Berliner Völkerrechtler Christian Tomuschat geeinigt hatten. Tomuschat mußte dann zwar den bereits von Arnault eingesetzten Sekretär der Wahrheitskommission übernehmen, konnte aber die übrigen zwei Kommissionsmitglieder ernennen. Beide, Otilia Coti und Alfredo Ballsels, verfügen über guten Rückhalt in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.
Der Handlungsrahmen der Wahrheitskommission ist durch die Comisión de Acompanamiento y Seguimiento de los Acuerdos (“Begleit- und Kontrollkommission”) begrenzt, die aus VertreterInnen von Regierung und Ex-Guerilla gebildet wird. Diese Instanz überwacht die Umsetzung der gesamten Friedensvereinbarungen. Im Rahmen dieses Mandats wird sie letztlich den Zeitpunkt für Beginn und Ende der Untersuchungen wie auch über den Gebrauch, der von den daraus gewonnenen Resultaten gemacht wird, bestimmen. Die Beteiligten der Wahrheitskommission sind so zwischen den unmittelbaren Interessen der Vertragsunterzeichner eingekeilt.
Auch auf kleine Ergebnisse muß gewartet werden
Bis jetzt hat die Wahrheitskommission ihre Arbeit noch nicht aufgenommen. Man wartet in Guatemala darauf, daß die Mitglieder der Kommission die verschiedenen organisierten Gruppierungen zusammenzurufen, damit diese “ihre” Fälle von Menschenrechtsverletzungen vorlegen. Bereits seit einigen Jahren führen verschiedene Projekte unabhängige Untersuchungen zur Wahrheitssuche in Guatemala durch und werden auf dieser Grundlage Berichte vorlegen. Auch wenn diese in der Wahrheitskommission keine Berücksichtigung finden, werden sie sich zumindest in parallele, nicht-offizielle Informationsquellen verwandeln, um die wahre Geschichte der Menschenrechtsverletzungen im Lande aufzudecken.
Die Position der Regierung, ihren eigenen Machterhalt wichtiger zu nehmen als den gesellschaftlichen Konsens, zeigt sich auch in anderen Bereichen der Inneren Sicherheit und Vergangenheitsaufarbeitung. Zu nennen ist hier die Verabschiedung des Gesetzes zur Schaffung einer Policia Nacional Civil (“Zivilen Nationalen Polizei”/PNC), das in Form und Inhalt stark vom entsprechenden Abkommen zur “Stärkung der Zivilgewalt und der Rolle der Streitkräfte in einer demokratischen Gesellschaft” vom September 1996 abweicht. Das Gesetz eröffnet jetzt den Mitgliedern der Streitkräfte, die in den kommenden Monaten demobilisiert werden sollen, die Möglichkeit, in den Polizeidienst überzuwechseln. Inoffiziell ist bekannt, daß derzeit ungefähr 30 Offiziere der Streitkräfte in Spanien und Chile für künftige Führungsaufgaben innerhalb der neuen Polizei trainiert werden.
Auch an anderer Stelle zeigt sich, daß die Armee keineswegs bereit ist, ohne weiteres auf ihre Positionen zu verzichten. Eine Fraktion innerhalb der Regierung hatte versucht, das für die Geheimdienste zuständige Büro des Präsidenten nach zivilen Maßstäben umzuformen. Dieser Plan hielt sich aber nur kurz: Die Zivilisten wurden entfernt, an ihre Stelle traten Mitglieder der Streitkräfte, die über eine lange Vorgeschichte im militärischen Geheimdienst verfügen. Dieser Vorgang wird als klares Signal für die Absicht der Regierung gesehen, die Allianz mit den Streitkräften aufrechtzuerhalten.
Beide Beispiele, Polizei und Geheimdienst, bestätigen: Obwohl Mitglieder der Streitkräfte verstärkt Positionen besetzen, die weniger im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, stellen sie nach wie vor einen wichtigen Machtfaktor im Kräftespiel der guatemaltekischen Politik dar. Darin liegt ein wichtiger Grund dafür, daß Menschenrechtsgruppen bei ihren Forderungen nach einer wirklichen Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit auf erbitterten Widerstand stoßen.
Zusätzlich sind die Bemühungen um Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen und um Verfolgung der Täter durch den allgemeinen politischen Kontext geprägt, der seit der Unterzeichnung des abschließenden Friedensabkommens entstanden ist. Dieser ist nicht zuletzt von zwei Entwicklungen geprägt: zum einen von der Eingliederung der URNG in das zivile Leben und deren Aufbau einer politischen Partei, zum anderen von den sozialen Konflikten, die durch die neoliberale Politik des Präsidenten Alvaro Arzú verschärft werden. Die Menschenrechtsorganisationen könnten sich in diesem Klima in eine wichtige politische Oppositionskraft verwandeln. Der Ruf nach dem Recht der Opfer und Hinterbliebenen von Menschenrechtsverletzungen, die Verantwortlichen zu benennen und zur Rechenschaft zu ziehen, wird weiterhin laut bleiben.
Übersetzung: Bettina Bremme
KASTEN
Der guatemaltekische Anwalt Carlos Enríquez kommentiert das vom Kongreß verabschiedete Amnestiegesetz und zeigt notwendige Schritte für eine wirkliche Verarbeitung der Verbrechen des bewaffneten internen Konflikts auf:
Das “Gesetz zur Nationalen Versöhnung” ist dehnbar genug, um alle Urheber von Menschenrechtsverletzungen oder sonstige Kriminelle straffrei ausgehen zu lassen. Dadurch wird es – gewollt oder ungewollt- zu einer so umfassenden Amnestie, daß es grundlegende Rechte des guatemaltekischen Volkes verletzt: das Recht auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, und auf die Verurteilung der direkten Akteure der staatlicherseits ausgeübten Terrorpolitik.
Angesichts der Unterzeichnung des Friedensvertrages scheint das eigentliche Wesen des Terrors in Vergessenheit zu geraten: Die Menschenrechte wurden in den kritischen Momenten des Konfliktes in Guatemala nämlich nicht “einfach so” verletzt. Vielmehr war dies ein wesentlicher Bestandteil einer staatlicherseits gezielt und bewußt durchgeführten Politik des Terrors. Das Hauptziel: mit der Strategie der counterinsurgency jede Form des Aufstandes einzudämmen. Bildlich gesprochen ging es darum, dem “Fisch” (der Guerilla) das “Wasser” (das Volk) abzugraben. Der größte Teil der Opfer gehörte daher der Zivilbevölkerung an, die als schützendes und unterstützendes Umfeld der Aufständischen betrachtet wurde. Unbestreitbar sind daher der guatemaltekische Staat und das Heer als wichtigste ausführende Institution die Hauptverantwortlichen für die begangenen Menschenrechtsverletzungen. Um die Zivilbevölkerung in einem Konflikt vor ebensolchen Gewalttaten zu schützen, gibt es im Internationalen Recht das Konzept der Menschenrechte und das Internationale Humanitäre Recht. Beides wurde in Guatemala staatlicherseits massiv und wiederholt gebrochen.
Andererseits ist bekannt, daß auch seitens der Aufständischen das Menschenrecht auf Leben und Unversehrtheit mißachtet worden ist. Bei solchen Taten der Guerilla handelte es sich jedoch nicht um eine generelle Terrorstrategie, sondern um vereinzelte Abrechnungen und begrenzte Aktionen. Diese müssen vor dem Hintergrund der “Kultur der Gewalt” betrachtet werden, die in Guatemala, als Folgeerscheinung eines der grausamsten Kriege der letzten Zeit, das gesamte soziale Gewebe durchdrungen hat. Für solche Delikte, die von nichtstaatlichen Akteuren begangen werden, hat das Internationale Recht den Begriff der “Schweren Gewalttaten” geprägt. Unter Heranziehung eben dieses Konzeptes wurden in Argentinien der Guerrillero Carlos Firmenich und in El Salvador Joaquín Villalobos verurteilt.
Das Beste, um den nationalen Versöhnungsprozeß voranzubringen, wäre, das beide Seiten öffentlich und als Institutionen getrennt voneinander eingestehen, daß aus ihren Reihen Gewalttaten gegen Leben und Menschenwürde begangen worden sind. Dazu gehört auf Seiten des Staates auch das Eingeständnis einer Anti-Aufstands-Politik, die Menschenrechtsverletzungen als eine ihrer wesentlichen Komponenten ansah.
Übersetzung: Claudius Prößer
Gekürzt aus “Debate” vom Februar 1997