Nummer 435/436 - Sept./Okt. 2010 | Uruguay

Die Welt von unten betrachten

Zum siebzigsten Geburtstag von Eduardo Galeano

„Ein Full-Time-Optimist zu sein, ist schwer”, so Eduardo Galeano in einem Interview im argentinischen Fernsehen Ende August 2010. Und dennoch versucht der uruguayische Schriftsteller, Journalist, politische Aktivist und vor allem Geschichtenerzähler, in seinen Büchern immer wieder, Optimismus zu verbreiten und neben Geschichten über Krieg, Kolonialismus, Unterdrückung und Rassismus auch solche über Hoffnungen, Glücksmomente und Freundschaften zu erzählen.

Stefan Thimmel

Eduardo Galeano betrachtet die „Welt von unten nach oben“ und hat dafür seine eigene besondere Kunstform geschaffen, die „dokumentarische Poesie“, wie Galeano seinen Schreib- und Erzählstil selbst nennt. 1971 wurde er damit weltbekannt, als Die offenen Adern Lateinamerikas, sein wichtigstes Werk, erschien. Bis heute ist dieser Klassiker der politisch-historischen Literatur Lateinamerikas ein Dauerbrenner. Er wurde weltweit übersetzt (2009 in einer neuen Übersetzung im Peter-Hammer-Verlag erschienen) und ist ein Identifikationssymbol für linke Intellektuelle und AktivistInnen in Lateinamerika. Anhand einer Vielzahl von Beispielen beschreibt Galeano einerseits die Ausbeutung Lateinamerikas, andererseits Widerstand und Rebellion.
In seinem zweiten Hauptwerk, der 1983 bis 1988 ebenfalls beim Peter-Hammer-Verlag erschienenen Trilogie Erinnerung an das Feuer setzt er diesen Stil konsequent fort: er erzählt von präkolumbischen Mythen, beginnend mit der Schöpfung, von historischen Figuren und Geschichten über das rebellische Lateinamerika und endet im Jahr 1984, dem letzten Jahr seines Exils in Spanien, wo er seine 1.100 Seiten zählende „Geschichte“ Amerikas verfasste. Sein schönstes, poetischstes und am wenigsten dokumentarisches Werk ist vielleicht das 1991 auf Deutsch erschienene Das Buch der Umarmungen. Die Geschichten des Erzählers Galeano sind hier privater, liebevoller und auch humorvoller, ein heiteres Buch, in dem er von Freundschaften, Weissagungen und Träumen erzählt. Ein literarischer Stil, der sich auch in seinem jüngsten Werk, dem 2009 erschienenen Band Fast eine Weltgeschichte: Spiegelungen wiederfindet.
Eduardo Hughes Galeano wurde am 3. September 1940 in Montevideo als Sohn einer katholischen Familie der oberen Mittelklasse mit spanischen, englischen und deutschen Wurzeln geboren und arbeitete in seiner Jugend u.a. als Fabrikarbeiter, Maler und Schreibkraft. Früh begann er journalistisch und publizistisch zu arbeiten, von 1961 bis 1964 leitete er die Marcha, eine über Uruguay hinaus sehr einflussreiche linke Wochenzeitung, bei der auch Mario Vargas Llosa und Mario Benedetti mitarbeiteten. Marcha wurde 1974 durch die Militärdiktatur verboten. Danach war er als Chefredakteur von Epoca und als Leiter der Publikationsabteilung der Universität von Montevideo tätig. Mitte 1973 wurde er kurz nach dem Putsch der Militärs inhaftiert, konnte aber noch im selben Jahr ins benachbarte Argentinien fliehen.
In Buenos Aires verantwortete er die Literaturzeitschrift Crisis, an der unter anderem Rodolfo Walsh, Juan Gelman und Julio Cortázar beteiligt waren und die in den Jahren 1973 bis 1976 zum meistverkauften Kulturmagazin in spanischer Sprache wurde. Als auch in Argentinien die Generäle die Macht an sich rissen, musste Galeano, der auf einer Todesliste der Junta stand, erneut fliehen. Dieses Mal nach Spanien, wo er ab 1976 in der Nähe von Barcelona lebte. Nach dem Ende der Militärdiktatur kehrte er 1985 in sein Heimatland zurück. Er beteiligte sich an führender Stelle an der Entstehung der Wochenzeitung Brecha, die sich in der Nachfolge von Marcha gründete. Bis ins Jahr 2000 war er Mitglied des Herausgeberkollektivs, dem auch Mario Benedetti angehörte. Und bis heute hat er großen Einfluss auf die wichtige linke Wochenzeitung, die sich gerade auch seit dem Amtsantritt der ersten linken Regierung in Uruguay im März 2005 als Stimme der unabhängigen Linken versteht.
Unabhängigkeit ist ein wichtiges Stichwort für den mit vielen internationalen Literaturpreisen ausgezeichneten Galeano. Bis heute beschreibt er sich als ein von der Dependenztheorie geprägten Sozialist (einer Mitte der 1960er Jahre in Lateinamerika entstandenen Entwicklungstheorie, die die Abhängigkeiten zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern thematisiert). Und diese Unabhängigkeit hat er sich auch gegenüber den linken Regierungen in seinem Land bewahrt, die er mit viel Einsatz und viel Sympathie im Wahlkampf unterstützte, die er aber auch immer wieder kritisiert. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen linken SchriftstellerInnen Uruguays wie z.B. dem durch seine Theaterstücke auch in Deutschland bekannt gewordenen Ex-Tupamaro Mauricio Rosencof.
Vor allem Galeanos Engagement gegen die Zellulose-Fabriken multinationaler Unternehmen und generell gegen die Pflanzung von Eukalyptus-Monokulturen und den Anbau von Gen-Soja wird ihm von vielen AktivistInnen des regierenden Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio übelgenommen. Tabaré Vázquez, der von 2005 bis 2010 regierende erste Links-Präsident Uruguays, schmähte ihn öffentlich und blieb demonstrativ allen Veranstaltungen, bei denen der politische Aktivist Galeano auftrat, fern. Ein weiteres Thema, für das sich Galeano in den letzten Jahren immer wieder einsetzt, ist der Kampf für das Menschenrecht auf Wasser. Vor allem bei der Kampagne für das Verbot der Privatisierung des Wassers, die dazu führte, dass rund 64 Prozent der UruguayerInnen am 31. Oktober 2004 in einer Volksabstimmung dafür stimmten, dem Schutz des Wassers Verfassungsrang einzuräumen, engagierte sich Galeano.
Sein politisches Thema ist und bleibt aber der Kampf gegen das Vergessen: Erinnerung ist für Eduardo Galeano das Wichtigste. Seit Jahren streitet er für die Annullierung der Straffreiheit für die Schergen der Militärdiktatur in seinem Heimatland Uruguay, setzt sich für die Suche nach den Verschwundenen der lateinamerikanischen Schreckensregime der 1970er und 1980er Jahre ein und ist auch heute noch ein unbestechlicher Mahner gegen das Vergessen: „Ohne Erinnerung wird Lateinamerika seine Identität, seine Eigenständigkeit, seinen eigenen Weg nicht finden“.

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