DIE WILDEN SIEBZIGERJAHRE
Pola Oloixaracs Roman Wilde Theorien provoziert Argentiniens Linke
Zonästhetisch, eidoi, Inkuben, puella bondinis? Solcherlei Wörter sind keine extravaganten Seltenheiten in der mit Fremdworten und erotischen Anspielungen überladenen, technisch-akademischen Sprache Pola Oloixaracs in Wilde Theorien. Matthias Strobel ist es nun erstaunlich gut gelungen, die „mysteriöse Syntax“, wie es im Buch heißt, für die deutsche Ausgabe zu übersetzen.
Dieser latente Größenwahnsinn spiegelt sich auch in den Charakteren des Buches. Zuerst wäre da die sehr unterhaltsame Geschichte des holländischen Anthropologen Johan van Vliet, der 1917 bei einer Forschungsreise im heutigen Benin, am Rande des Wahnsinns, die „Egomanische Theorie“ entwickelt: Die Erzählung der Menschheitsgeschichte dürfe nicht mit den jagenden und sammelnden Gemeinschaften beginnen, denn der Teil, der bis heute all unsere Motivationen und Triebe präge, sei die kaum beachtete Zeit davor. Die Zeit, in der unsere Spezies noch in der ständigen Angst leben musste, Beute für andere Tiere zu werden. Verstreut im Buch erscheinen daher immer wieder kurze Kapitel mit Ritualen aus aller Welt, bei denen Jugendliche in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden. Dabei hallt besagte Beute-Vergangenheit deutlich nach: Tierverkleidungen, Jagdspiele, Geisterrituale, Verletzungen, Überleben im Wald …
In der Welt der eigentlichen Hauptcharaktere des Buches scheint dieser Initiationsritus aus „sexuellen Rangeleien“, Partys, Drogen, vornehmlich jedoch aus einem intellektuellen Kräftemessen zu bestehen: Die zwei jungen Nerds Kamtchowsky und Pablo, alias Pabst, bewegen sich Anfang der 2000er Jahre durch die „urbanen Stämme“, wie Kamtchowsky es einmal bezeichnenderweise nennt. Das heißt, die Kunst- und (Sub-)Kulturszene von Buenos Aires. Dass die beiden das waren, „was man politisch inkorrekt nennt“, wie es im Buch heißt, wird schnell offensichtlich: Boshaft lästern und bloggen sie über die Szene und entwickeln einige wilde Theorien zu Sex, Masturbation und sozialen Hierarchien, die manchmal an den Sexualfrust in Houellebecq-Romanen denken lassen. Genial sind Einfälle wie ihr selbst-entwickeltes Spiel Dirty War 1976, das die zeitgeschichtlichen Konflikte Argentiniens, das im selben Jahr in eine Militärdiktatur (1976-1983) überging, in ein Computer-Rollenspiel verwandelt.
Ein weiterer Erzählstrang – oder Initiationsritus – des Romans ist eine bildhübsche und wie alle Charaktere etwas überhebliche Ich-Erzählerin. Sie ist, ebenfalls Anfang der Nullerjahre, Studentin bei einem verstaubten Philosophieprofessor, der van Vliets „Egomanische Theorie“ wieder ausgegraben hat und diese nun groß herausbringen will. Die junge Überfliegerin ist ihrem Professor jedoch schon einen Schritt voraus. Sie sucht den Ex-Guerillero Collazo auf, nun ebenfalls Professor und gefeierter Schriftsteller, um van Vliets Theorie an ihm in die Praxis umzusetzen: Sie provoziert „dunkle Triebe“ bei dem Mann, den sie heimlich ihr „Opfer“ nennt, um ihn dann jedoch genüsslich immer wieder auflaufen und abblitzen zu lassen. Hier beginnt der sicherlich umstrittenste Teil von Oloixaracs Werk. Mit der Figur des Ex-Guerilleros Collazo als einem eingebildeten, ungepflegten und notgeilen Macho, der der Ich-Erzählerin stolz von seiner kämpferischen Vergangenheit berichtet und alte Kampfeslieder anstimmt, wird nicht nur linker Machismo, sondern auch eine Verklärung der 1970er Jahre in Teilen der argentinischen Linken bloßgestellt.
Diese Kritik zieht sich auch durch die Geschichte Kamtchowskys, die selbst aus einem linken Umfeld stammt: Sie liest das Tagebuch ihrer in den Siebzigerjahren gewaltsam verschwundengelassenen Guerillera-Tante, das ihre begeisterte Mutter unbedingt zu einem Verlag bringen möchte. Das Tagebuch, dessen Einträge an Mao Tse-tung – nur liebevoll „Moo“ genannt – adressiert sind, liest sich wie die schlechten Herzschmerzgeschichten eines Teenagers. Dies könnte auch als bewusster Seitenhieb Oloixaracs auf die nach den Militärdiktaturen vor allem in südamerikanischen Ländern populäre testimonio-Literatur gelesen werden. Es offenbaren sich in diesem Tagebuch jedoch nicht nur Jugend und Naivität, sondern auch einige Widersprüchlichkeiten der vermeintlich sexuell-befreiten, für klare Ideale einstehenden Kämpfer*innen der Guerilla-Bewegungen der 1970er Jahre, vor allem beim Stichwort Machismo.
International erntete Oloixarac für Wilde Theorien viel Lob. Doch in Argentinien, wo der Roman schon 2008 erschien, wurde er in Feuilletons kaum positiv besprochen und die Autorin zum Teil sogar als „verkappte Faschistin“ diffamiert. Auch wenn diese Reaktionen etwas überzogen erscheinen, sind einzelne Ausschnitte – allerdings abseits der wilden Siebziger – mindestens ärgerlich. Hierzu gehört die Darstellung Miguels, einem Liebhaber Kamtchowskys mit Trisomie 21, der von ihr ständig abgewertet und als natürlicherweise triebgesteuert beschrieben wird, was bestehende Vorurteile zementiert. Oloixarac scheinen einzelne ihrer vielen Provokationen entglitten zu sein. Trotzdem ist der Roman insgesamt sehr lesenswert, humorvoll und sprachlich originell. Er demaskiert den allgegenwärtigen Machismo und die Tendenz zur Verklärung der Vergangenheit – was nicht nur für eine linke Selbstkritik sicherlich von Bedeutung ist.
Pola Oloixarac // Wilde Theorien // Verlag Klaus Wagenbach // 2021 // 256 Seiten // 22€ // aus dem argentinischen Spanisch von Matthias Strobel