Mexiko | Nummer 418 - April 2009

„Die Zahl der ermordeten Frauen ist weiterhin hoch“

Interview mit der Regisseurin Alejandra Sánchez und dem Drehbuchautor José Antonio Cordero des Dokumentarfilms Bajo Juárez

Die abscheulichen Frauenmorde in Ciudad Juárez, im Norden Mexikos, sind noch immer nicht aufgeklärt. Die Machtstruktur dieser Region schützt die Täter und schiebt die Schuld den Opfern zu. Trotzdem suchen betroffene Mütter nach ihren Töchter und fordern Gerechtigkeit. Alejandra Sánchez und José Cordero berichten über deren lebensgefährlichen Kampf, wodurch sie selber ins Visier der Drogenkartelle gerieten.

Dinah Stratenwerth, Harry Thomaß

Inwieweit hängen die Morde an Frauen in Ciudad Juárez mit der Drogenkriminalität zusammen?
Cordero: Der Drogenhandel ist nicht die Ursache für die Frauenmorde. Nicht, dass er damit nichts zu tun hätte. Er hat etwas damit zu tun. Aber es gibt feudale Strukturen in dieser Region, einige mächtige Personen und Familien, die das Territorium mit allem was Geld bringt ausbeuten: Menschenschmuggel, Drogenhandel, Waffen. In den 80er Jahren wurden hier in der Region die maquiladoras (Billiglohnfabriken) aufgebaut, die in diese feudale Struktur integriert sind. In dieser werden Frauen als ein Besitz angesehen, mit dem man alles machen kann; eben auch eliminieren, um so die Beweise des Verbrechens zu vertuschen. Dann nutzt man die Leichen als Nachricht für die verschiedenen Fraktionen, die in diese Machtstruktur verstrickt sind.

Wie steht der Staat zu dieser Struktur?
Cordero: Er versucht immer wieder, Schuldige auszumachen, und seine neueste Theorie basiert auf einer einfachen Antwort: Entweder sind die Frauen selbst Drogenhändlerinnen, oder sie wurden von Drogenhändlern getötet. Aber wir reden hier von einem Staat, der mit Teilen des Drogenhandels kooperiert. Es tobt nicht nur ein Kampf zwischen verschiedenen Drogenkartellen, sondern auch zwischen den staatlichen Akteuren, die Beziehungen zu Teilen des Drogenhandels haben.
Der Staat ist also ein weiterer Akteur in dem Konflikt?
Sánchez: Er ist die Verbindung zwischen Drogenhandel, organisierter Kriminalität und Frauenmorden in Ciudad Juárez. Das gilt auch bei der Kinderpornografie und den Entführungen. Die Journalistin Lydia Cachio hat gezeigt, dass hohe Politiker in Fälle von Kinderpornografie verstrickt sind. Sie wurden nie belangt. Und im Falle des entführten Unternehmersohnes Fernando Marti war die Spezialpolizei AFI mit am Werk. Viele Staatsangestellte beziehen gleichzeitig zu ihrem Gehalt Geld vom organisierten Verbrechen.

Wie kamt Ihr darauf, einen Dokumentarfilm über Ciudad Juárez und die Morde dort zu drehen?
Sánchez: Im Juni 2001 kam ich nach Chihuahua, damals noch als Filmstudentin. Da kam gerade die Aussage von Norma Andrade an die Öffentlichkeit. Sie hatte eine Woche nach ihrer Tochter gesucht und dann aus dem Fernsehen erfahren, dass sie ermordet wurde. Im Film erzählt sie ihre Geschichte. Es ist sehr interessant, wie sie sich in eine soziale Kämpferin verwandelt hat und auch anderen betroffenen Müttern zu einer Stimme verhilft. Wie sie aufsteht aus diesem tiefen Schmerz und zu kämpfen beginnt. Erst wollte sie gar keine Interviews geben, und es war ein großes Glück für uns, dass sie sich entschieden hat, ihr Schweigen zu brechen. Innerhalb eines Jahres wurde sie zu einer Führungsfigur für die Mütter, die ihre Töchter suchen und Gerechtigkeit verlangen. Aus diesem Material entstand ein 15-minütiger Kurzfilm, der sozusagen den Kern der längeren Dokumentation Bajo Juárez bildet, die 2007 herauskam. Wir sind an dem Thema dran geblieben.
Cordero: Eigentlich macht Norma Andrade den Film und Alejandra führt Regie.
Wie geht es Ihren Protagonistinnen heute?
Sánchez: Ihre Arbeit ist sehr erschöpfend, aber das Schlimmste ist die ständige Bedrohung. Sie werden permanent eingeschüchtert. Es hat sie zwar noch niemand umgebracht, aber sie leben in ständiger Angst, werden teilweise sogar verfolgt und beschossen. Ich habe Marilu, einer der Leiterinnen von Andrades Organisation, vorgeschlagen, für einige Zeit nach Mexiko Stadt zu gehen, aber sie wollte nicht.

Wie hat das mexikanische Publikum den Film aufgenommen?
Cordero: Die Bedingungen für einen solchen Streifen sind generell sehr schwierig, weil es ein mexikanischer Film ist, eine Dokumentation, und dann auch noch dieses Thema.
Da wir in Mexiko zunächst nicht weiter kamen, haben wir unsere Arbeit erst einmal auf ausländischen Filmfestivals gezeigt, zum Beispiel auf dem IDFA in Amsterdam. Im Oktober 2008 konnten wir ihn dann endlich auch in Mexiko zeigen. Unter den am meisten gesehen Filmen in Mexiko kam er dann auf Platz vier.
Sánchez: In der Woche, als Bajo Juárez in Mexiko anlief, war er einen Tag lang der meist gesuchte Link auf Yahoo Mexiko.

Hattet Ihr finanzielle Unterstützung?
Cordero: Ja, von verschiedenen Stellen, das hat uns ermöglicht, unseren Film unabhängig zu produzieren. Unsere Filmhochschulen haben uns unterstützt, und dann haben wir auch noch die Finanzierung durch einen jährlich ausgeschriebenen staatlichen Fond gewonnen.
Im letzten Jahr wurde eine Unterstützerin ihres Filmes, die kritische Journalistin Carmen Aristegui, aus ihrem Job beim Radio entlassen (siehe LN 405). Kann man in Mexiko überhaupt kritischen Journalismus machen?
Sánchez: Die Entlassung von Aristegui zeigt, in welche Richtung die Medienpolitik von Felipe Calderon geht. Als er Präsident wurde, war es eine seiner ersten Forderungen, sie mundtot zu machen, denn sie hatte immer kritisch über ihn und den Wahlbetrug, durch den er an die Macht kam, berichtet. Die Situation der Journalisten hat sich seit Beginn seiner Amtszeit sehr verschlechtert. Wir sind keine Journalisten, unsere Sprache ist eine andere. Und es ist schizophren: Eigentlich dachten wir, dass unser Film zensiert werden würde. Auf die eine oder andere Weise sprechen wir ja über die Personen, die hinter den Morden von Juarez stehen könnten und nennen dabei wichtige politische Personen bis hin zu Präsidenten oder Ex-Präsidenten. Aber es war nicht so.

Hat man sie als eine Art Feigenblatt benutzt, um zu demonstrieren, wie liberal Mexiko ist?
Cordero: Das ist in Mexiko sehr institutionalisiert. Es gibt ein Gesetz für die Verteidigung der Freien Meinungsäußerung, einen neuen bürokratischen Apparat, der eine absurde Bürokratisierung der freien Meinungsäußerung darstellt. Wir baten die zuständige staatliche Stelle, die Cepropie, um das Filmmaterial, auf dem Calderons Vorgänger Fox sich zu den Frauenmorden äußert und sie als Produkt der häuslichen Gewalt darstellt, und bekamen es sofort. Wir konnten alle Politiker und Beamten interviewen, mit denen wir sprechen wollten. Aber auf der anderen Seite wird Carmen Aristegui entlassen, weil es eine Beteiligung von einer Spanischen Rundfunkgesellschaft gibt und die auch ihre Interessen hat. Das ist nicht so nach dem alten PRI-Stil, sondern die Anstalt kündigt ihr ganz offen.

Wann waren sie das letzte Mal in Ciudad Juárez?
Sánchez: Nachdem wir den Film beendet hatten nicht mehr, aus Sicherheitsgründen. Ciudad Juárez ist ein Niemandsland. Ich komme aus Chihuahua, ich habe aber nicht viel Familie in der Stadt. Manchmal ist die Stadt einfach paralysiert, besetzt von vermummten, schwer bewaffneten Narcos.
Cordero: Journalisten haben Bücher zu dem Thema veröffentlicht. Wir filmten dann die Immobilien, Firmengebäude und Häuser, die zwei von ihnen als Wirkungsorte möglicher Täter identifiziert hatten. Daraufhin verfolgte uns ein Lieferwagen mit einem Gewehr. Das war unser letzter Tag. Es war aber auch schon geplant, nach diesen letzten Aufnahmen direkt zum Flughafen zu fahren und nicht mehr wieder zu kommen.

Hat sich etwas verändert in Ciudad Juárez?
Cordero: Die Zahl der ermordeten Frauen ist weiterhin hoch. 22 waren es bis zum 7. Februar 2009. Die Mittel- und Oberschicht möchte nichts von dem Thema wissen, solange sie nicht direkt betroffen ist. In Internetforen und Blogs heißt es: Bitte redet nicht davon, das ist nicht wahr. Die offizielle Version ist die schlimmste Reaktion. Wir haben von den angeblichen Ermittlungen nichts mitbekommen, die Betroffenen wurden nicht befragt. Beweise sind verschwunden, Archive und Akten ebenso und die Sonderstaatsanwältin sagte, dass bei keinem dieser Verbrechen die organisierte Kriminalität involviert sei.

Das war unter Präsident Fox. Was hat der Kampf gegen den Drogenhandel gebracht, den Felipe Calderon seit Beginn seiner Amtszeit kämpft?
Cordero: Geköpfte Leichen.
Sánchez: Die Szenen werden immer perverser. Es hat Tage mit 32 Toten an einem einzigen Ort gegeben und fast nie war die Zahl der Toten auf Null. Ich glaube das Gefährliche ist es, sich daran zu gewöhnen mit diesem Horror zu leben. Wenn es wirklich einen Krieg gegen den Drogenhandel gäbe, so sagt ein befreundeter Journalist, dann müssten die Preise für die Drogen wie Marihuana oder Kokain ansteigen. Aber sie sind gleich geblieben. Diesen Krieg gegen die Drogen verstehen nur die Hardliner aus Calderons Kabinett.
Cordero: Die Erfolge, die die Regierung stolz präsentiert, die gefangenen oder erschossenen Drogenhändler, die beschlagnahmten Drogen und Waffen: Das waren schon immer die Quoten, die die Narcos bezahlten, die sie mit der Politik ausgehandelt hatten. Sie erkaufen sich damit das Recht, Drogen durch mexikanisches Territorium in die USA zu transportieren oder hier zu produzieren.
Sánchez: Ich glaube, vor diesem Krieg gab es ein wirklich gut organisiertes Verbrechen. Und dann kam Calderon und hat es deorganisiert. In Chihuahua ist es ein offenes Geheimnis, dass die Regierung nur ein Drogenkartell begünstigt, das Sinaloa-Kartell von Chapo Guzman, und die anderen Gruppen werden in dem Verteilungskampf an die Seite gedrängt. Deshalb gibt es so viel Blutvergießen.

Im März gab es eine UN-Konferenz zur Drogenfrage in Wien. Was wären die Folgen einer Legalisierung von Kokain und Marihuana in Mexiko?
Sánchez: Für eine verantwortliche und freie Gesellschaft wäre das die Lösung. Natürlich müsste so eine Maßnahme von einer guten Informationskampagne über die gesundheitlichen Folgen von Drogenkonsum begleitet sein. Aber ich sehe diese Möglichkeit weder mittel- noch langfristig. Das Geschäft ist groß und es sind die Interessen so mächtiger Länder wie die der USA darin verwickelt.
Cordero: In erster Linie ist es ein wirtschaftlicher Sachverhalt, und der Drogenhandel ist ein wichtiger Baustein in der Weltwirtschaft. Vielleicht ist der Vergleich etwas übertrieben, aber so wie sich beim Mauerfall die Wirtschaft sofort verändert hat, wäre auch das ein radikaler, sofortiger und sehr wirkungsvoller Bruch. Hoffentlich wird eine Diskussion darüber entstehen.
Sánchez: Die sozialdemokratische PAD nimmt das Thema Legalisierung als Slogan für die nächsten Wahlen. Ich glaube nicht an diese Partei, aber immerhin ist es eine Initiative.

Was sind ihre aktuellen Projekte?
Cordero: Ich arbeite gerade an einem Dokumentarfilm über Taubstumme, die sich in der mexikanischen Gebärdensprache unterhalten.
Sánchez: Ich mache zur Zeit einen Dokumentarfilm über Päderasten in der mexikanischen Kirche. Am 12. Dezember, dem Tag der Jungfrau der Guadalupe, habe ich damit begonnen. Ungefähr in zwei Jahren werden wir ihn fertig haben.

// Interview: Dinah Stratenwerth, Harry Thomaß

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