Die Zeit, als Gott eine Frau war
“Illud Tempus” – eine neue brasilianische Oper in Berlin
Zu erleben war eine auch dem in experimenteller Musik Unerfahrenen gut zugängliche Geschichte von den zwei Seiten des Ich, verkörpert in den beiden Hauptakteurinnen. Die Sängerin, Gabriela de Geanx, hatte eine durch Konventionen eingeengte Persönlichkeit darzustellen, agierend auf einem hohen Podest mit wenig Platz, in ein altmodisches Kostüm gezwängt, künstlerisch “schön” singend, mit marionettenhaften, unfreien Bewegungen.
Die Schauspielerin, Marilena Bibas, spielte den Gegenpart: In schwarzem Kleid, mit wirrem Haar, repräsentierte sie das Traumhafte, Unterbewußte, Mythische. Sie warf Steine in einen großen Kupferkessel und rollte diese darin herum, setzte sich auch selbst hinein – sowohl Assoziationen zum Kochtopf als auch zum Hexenkessel liegen nahe – , sie streifte durch ein großes Metallröhrenspiel, stellte sich hinter einen vergrößernden Zerrspiegel und stieß beim Töpfern eines Phallus vogelartige Laute aus. Märchenhaft, mit dem exotischen Geruch der eigenen Träume und Phantasien, kamen die Klänge und Bilder daher.
Die Texte, die von beiden gesprochen und gesungen werden, reichen von Mythen der Yanomami über Euripides bis zu einem Text der Regisseurin und beschäftigen sich mit Träumen von Weiblichkeit, mit Frauengestalten und -geschichten, die von allem Bürgerlich-Traditionellen abweichen. Jocy de Oliveira, Drehbuchautorin, Komponistin und Regisseurin der Oper, sucht offenbar nach anderen, neuen Formen des Frau-Seins, und sie findet diese in “jener Zeit” (illud tempus), der Ur-Zeit, als Gott eine Frau war. Auch räumlich steht die Sängerin, die die “Kultur” verkörpert, im Hintergrund, die Schauspielerin – “Natur” – jedoch im Zentrum der Bühne, und auf ihre Lebensform läuft das Stück hinaus: Am Ende reißt sie der Sängerin das Kostüm vom Leib, befreit sie, oder wenn wir es bei den zwei Seiten des Ich lassen: befreit sich selbst von den Zwängen, den falschen Traditionen.
Der Feminismus hat sich derartiger Gedanken längst angenommen; die Überlegungen zu dem Bild “Gott als Frau”, zum vorhistorischen Matriarchat und zu weiblicher Mythologie haben sich etabliert. Aber auch wenn die Oper inhaltlich nicht viel Neues bringt, ist sie keineswegs überflüssig. Zum einen ist uns genauso geläufig, daß sich die Frau-Mann-Rollen und patriarchale Herrschaftsformen hartnäckig halten und das Thema folglich nicht erledigt ist. Zum anderen macht de Oliveira von den Mitteln der experimentellen Musik in diesem Zusammenhang wundervollen Gebrauch: Nachdenken über Weiblichkeit findet hier nicht in trockenen Texten statt, sondern durch die Aufforderung, die Sinne zu öffnen, der phantasievollen Musik zu lauschen (Schlagzeugerin, Klarinettist, de Oliveira mit Keyboard und elektronischen Geräuschen) und die Augen wandern zu lassen. Darüberhinaus stellt sich gerade durch die geschlechtsunabhängige, berührende Sinnlichkeit in Bild und Ton die Frage, wie spezifisch weiblich es eigentlich ist, den Mythen und Träumen nachzugehen. Möglicherweise ist die Oper ein geeignetes Medium, die Konventionen und Traditionen auch bei Männern zu hinterfragen.
Glücklicherweise scheint “Illud Tempus” in Brasilien kein marginales Ereignis zu sein. 1994 wählte die Zeitung “O Globo” das Werk zur besten musikalischen Arbeit des Jahres, und durch Open-Air-Veranstaltungen mit tausenden ZuschauerInnen ist sie ins Gespräch gekommen.
Die Oper ist der zweite Teil einer Trilogie. Die Überraschung, die man nach drei Viertelstunden erlebt – da ist die Oper nämlich aus – , läßt sich so vielleicht erklären. Nach wie vor unglaublich ist jedoch, daß die KünstlerInnen um Jocy de Oliveira nur wegen dieser zwei Konzerte im Berliner Haus der Kulturen der Welt nach Europa gekommen sind und sonst keine weiteren Auftritte haben. Aber vielleicht gibt es eine neue Tournee, wenn die Trilogie abgeschlossen ist?