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“Dies ist unser Land!”

Über den langen Kampf um die offizielle Kennzeichnung Indigener Territorien

Brasilien zählt zu den Staaten mit der größten Ungleichheit bei der Landverteilung. Fazendeiros haben sich ungeheure Ländereien angeeignet, während Indigene Völker und andere traditionelle Gemeinschaften noch heute um ihr verfassungsgemäßes Grundrecht auf eigene Territorien kämpfen müssen. Der Fall des Gebietes Sawré Muybu der Munduruku im amazonischen Bundesstaat Pará zeigt die exemplarische Dramatik der Situation.

Christian Russau
Besetzung Brasílias zum 20-jährigen Jubiläum des Acampamento Terra Livre Gebiete zu demarkieren war eine zentrale Forderung
(Foto: Jefferson Rudy/Agência Senado via Flickr (CC BY 2.0))

Die Munduruku werden bedroht: durch Großprojekte wie Staudämme und Wasserstraßen, durch Bahnlinien wie Ferrogrão zum vermehrten Transport von Erzen, Agrarrohstoffen und weiteren Gütern, durch die massive Ausweitung des Sojaanbaus sowie durch die in der Region um Itaituba und Miritituba aus dem Boden sprießenden Sojaterminals der Multis um Cargill, Bunge, Maggi und ADM. Den vielleicht gewalttätigsten Bedrohungen sind die Munduruku wohl durch den garimpo, den illegalen Goldbergbau in ihren Gebieten, ausgesetzt. Bewaffnete Banden in Komplizenschaft mit der organisierten Kriminalität (nicht selten gestützt durch Hintermänner in Politik, Wirtschaft und Justiz) beuten das Land der Munduruku illegal aus, roden Wälder, graben mit ihren hydraulischen Baggern das Erdreich um und gewinnen Golderz. Dabei verwenden sie Quecksilber, das die Luft, das Erdreich und das Wasser vergiftet und so in die Nahrungskette gelangt und die Indigenen selbst und ihre Kinder schleichend vergiftet.


Zudem verabschiedete der mehrheitlich extrem konservative Nationalkongress mit seinen zwei Kammern, Abgeordnetenhaus und Senat, in den vergangenen zwei Jahren mehrere Gesetze zur Beschneidung der Grundrechte der Indigenen und ihrer Territorialrechte: Dabei sollen Bergbau und Landwirtschaft in Indigenen Gebieten freigegeben werden, die Umweltgenehmigungsverfahren geschleift und die sogenannte Stichtagsregelung „Marco Temporal“ eingeführt werden. Ihr zufolge bekämen nur diejenigen Indigenen Gebiete Rechtsschutz, bei denen der Nachweis gelingt, dass dort zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der brasilianischen Verfassung am Stichtag 5. Oktober 1988 ein Indigenes Volk lebte. Dadurch sollen, so die Kritiker*innen, 500 Jahre Landraub noch einmal legalisiert werden.
Gegen all das gäbe es eine einfache Antwort, die den Kampf der Munduruku um ihr Land weit voranbringen könnte: die abschließende formal-juristische Anerkennung und der Schutz des Territoriums der Munduruku – Sawré Muybu – als Terra Indígena durch die brasilianische Bundesregierung.


Brasiliens neue Regierung unter Luiz Inácio Lula da Silva hatte zum Amtsantritt seines insgesamt dritten Mandats im Jahr 2023 versprochen, die elementaren Rückschritte der Vorgängerregierung, der explizit und erklärt indigenenfeindlichen Regierung von Jair Bolsonaro, rückgängig zu machen und wieder mehr Indigene Territorien als solche zu demarkieren. Die Regierung Lula hat seit Anfang 2023 sechzehn neue Gebiete anerkannt. Es gibt jedoch mehrere Dutzend Indigene Gebiete, die unmittelbar zur rechtlichen Anerkennung (Homologation) anstehen, und etwa 200 weitere, die derzeit untersucht werden oder deren Grenzen bereits festgelegt sind. Sie sind von der Regierung noch nicht abschließend geschützt worden. Denn der Prozess zur Demarkation und Homologation ist in Brasilien auch immer ein politischer Aushandlungsprozess, zu stark ist der politisch-ökonomische Gegendruck oligarchischer Fazendeiros und ihrer parteiübergreifenden ruralista-Fraktion im Nationalkongress.


Derweil haben die Munduruku des Gebietes Sawré Muybu die Sache selbst in die Hand genommen, um die brasilianische Bundesregierung und die Indigenenbehörde FUNAI unter Druck zu setzen und ihr Land zu schützen. Die Munduruku errichteten Mitte 2024 entlang der Grenzen ihres Gebietes Sawré Muybu Warnschilder, die das Gebiet als Indigenes Territorium ausweisen: Jeden Kilometer an den Grenzen des Gebietes wurde und wird schrittweise ein Schild an den Baumstämmen hängen, auf dem steht: „Bundesregierung, Sawré Muybu Territorium, geschütztes Land“. Die Indigenenbehörde FUNAI erklärte Mitte 2024 auf Medienanfrage dazu, dass sie unter Personalmangel leide, aber daran arbeite, die Grenzen des angestammten Landes der Indigenen festzulegen, ein Prozess, der unter der letzten Regierung unterbrochen worden war.
Die Sache selbst in die Hand zu nehmen, ist Teil der erfolgreichen Strategie der Indigenen Völker Brasiliens zur sogenannten Auto-Demarkation: Ist der Staat nicht willens oder nicht fähig, so wird das Territorium in Eigenarbeit markiert und es werden eigenständig sogenannte Konsultationsprotokolle erstellt.

Indigene geben eigene Regeln vor


Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an von den traditionellen Völkern und Gemeinschaften selbst erstellten Konsultationsprotokollen: von Indigenen, Quilombolas, von weiteren traditionellen Völkern und Gemeinschaften. Denn diese Konsultationsprotokolle können Rechtskraft entwickeln, wie der Fall der Juruna im Jahr 2017 zeigte. Die Indigenen Juruna (traditionelle Selbstbezeichnung Yudjá) im Indigenen Territorium Terra Indígena Paquiçamba befinden sich seit Mitte der 2010er Jahre in der Volta Grande do Xingu im Kampf gegen Brasiliens künftig vielleicht größten offenen Goldtagebau der kanadischen Firma Belo Sun. Das Volk der Juruna hatte 2017 selbst ein Konsultationsprotokoll erstellt, das genau festlegt, auf welche Art und Weise jedweder sie betreffender Kontakt von außen (einschließlich ökonomischer Aktivitäten oder auch journalistischer oder anthropologische Kontaktaufnahme) abzulaufen habe. Noch im selben Jahr wurde dieses Protokoll bei den kommunalen, bundesstaatlichen und föderalen Behörden hinterlegt. Und gleich im Dezember 2017 setzte das Justizgericht von Pará TRF1 die laufende Umweltgenehmigung für die Firma Belo Sun an der Volta Grande do Xingu aus. Das Gericht folgte darin der Einschätzung der Klage der Bundesstaatsanwaltschaft, dass die Firma aus Kanada sich in ihrem Vorgehen vor Ort nicht an die Richtlinien des bei den Behörden hinterlegten Konsultationsprotokolls der Juruna gehalten habe und somit eine Verletzung der ILO-Konvention 169 zum Schutz der Rechte der Indigene Völker vorliege. Seither erstellen mehr und mehr Indigene Völker und andere traditionelle Gemeinschaften ihr eigenes Konsultationsprotokoll.


Am 25. September vergangenen Jahres haben die Munduruku der Sawré Muybu in Brasília einen großen Sieg errungen. Denn an diesem Tag ordnete der Justizminister Ricardo Lewandowski die Demarkierung des Indigenen Landes Sawré Muybu der Munduruku in Pará an. Alessandra Korap Munduruku befand sich auf Einladung der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt (ASW) gerade in Genf, als die Botschaft der Demarkation von Sawré Muybu sie erreichte. In einer weit gestreuten Videobotschaft verbreitete sie: „Gute Nachricht! Ich bin hier gerade in Europa, in Genf, aber wenn ich in Kürze zurückfahre, dann werde ich dort bei den Meinen sein! Es war ein langer Kampf, so Vieles, was wir in die Wege geleitet haben: Wir haben die Auto-Demarkation vorangetrieben, wir haben Druck auf das Justizministerium ausgeübt, auf die Indigenenbehörde FUNAI, da haben wir sehr viel Druck ausgeübt, viel Kampf, wir haben viele Besetzungen gemacht, um zu sagen, dass dieses Territorium unseres ist! Als die Regierung damals entschied, den Staudamm São Luiz do Tapajós bauen zu wollen, da haben wir Munduruku mit der Bewegung Ipereg Ayu beschlossen, in den Kampf zu ziehen, um unser Territorium zu verteidigen und um zu zeigen, dass niemand, nicht einmal die (brasilianische) Bundesregierung dort einfach so ein Wasserkraftwerk auf unserem Gebiet errichten darf. Auch wenn die Regierung sagte, das sei nicht unser Land, so ist es doch unseres!“


Jetzt, fast ein Jahr später, steht die Unterschrift durch den Präsidenten noch immer aus. Ohne die abschließende Homologation gibt es keine umfassende Rechtssicherheit. Nach wie vor steht das Gebiet um Sawré Muybu am Zusammenfluss von Tapajós und Jamanxim im Fokus mächtiger Wirtschaftsinteressen wie der Schiffbarmachung des Tapajós oder des nahegelegenen geplanten Baus der Bahnlinie Ferrogrão zum kostengünstigeren Soja- und Erztransport. „Bahn der Zerstörung: Ferrogrão NEIN!“ ist seit gut vier Jahren auf den Protestplakaten der Munduruku zu sehen. Denn das Projekt Ferrogrão – von der Lula-Regierung als Zugeständnis für das mächtige Agrobusiness befürwortet – wird durch Naturschutz­gebiete und Indigenes Land führen, in dem etwa 2.600 Menschen leben, so die Indigenen. „Die Indigenen prangern das Fehlen einer freien, vorherigen und informierten Konsultation, die Fragi­lität der Umweltverträglichkeitsstudien und die sozio-ökologischen Risiken der Eisenbahn an“, teilte die Koordination der Indigenen Organisationen des brasilianischen Amazonasgebiets Coiab anlässlich ihrer wiederholten Protestaktionen mit. Der Kampf um Indigene Territorien in Brasilien ist noch nicht entschieden.

Christian Russau ist Autor, Campaigner und freier Mitarbeiter des FDCL, Mitglied der Kooperationsstelle Brasilien (KoBra) und der Brasilien Initiative Berlin (BIB) sowie Vorstand beim Dachverband der Kritischen Aktionär*innen.

Indigene Territorien in Brasilien

Brasilien hat eine Fläche von 8.511.965 Quadratkilometern. Die Indigenen Territorien umfassen 811 Gebiete mit einer Gesamtfläche von 1.188.121 Quadratkilometern, was 14 Prozent der Landesfläche entspricht. Der größte Teil der Indigenen Territorien konzentriert sich auf das Amazoniengebiet: Dort befinden sich 430 Gebiete mit einer Fläche von 1.158.036 Quadratkilometern, was 23 Prozent des Amazonasgebiets und 98,25 Prozent der Gesamtfläche aller Indigenen Territorien des Landes entspricht. Die restlichen 298 Indigenen Gebiete außerhalb des Amazonasgebiets stellen 1,75 Prozent der Gesamtfläche dar. Von den insgesamt 298 Indigenen Gebieten außerhalb des Amazonasgebiets ist der Anerkennungsprozess (Demarkation und Homologation) für 145 noch nicht abgeschlossen. Diese 298 Gebiete beherbergen 45 Prozent der in Indigenen Gebieten lebenden Bevölkerung.

Der Anerkennungsprozess der Indigenen Territorien beginnt 1) mit anthropologischen Studien durch die Indigenenbehörde FUNAI (1), geht über die Erklärung der Grenzen (Demarkation) durch das Justizministerium (2) über die physische Abgrenzung des Gebiets mit Landmarken (3) bis zur Homologation durch das Präsidialamt der Republik (4). Erst der vollständige Abschluss der Homologation gibt den Indigenen Territorien umfassende Rechtssicherheit.

Die Verfassung von 1988 schrieb vor, dass die Demarkierung Indigener Territorien binnen fünf Jahren abzuschließen sei. Der Streit und Kampf um dieses Grundrecht wird noch heute geführt.


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