Doppelbelastung und neues Selbstbewusstsein
Wie die – meist noch männliche – Arbeitsmigration in die USA die ländliche Sozialstruktur und die Geschlechterbeziehungen in Guatemala verändert
La Trinidad!“ schreit der Busfahrer und hält mit quietschenden Reifen vor dem heruntergekommenen Herrenhaus einer Kaffee-Finca. Heute befindet sich hier ein Dorfladen. An der Wand neben der Tür zum Verkaufsraum hängen zwei Plakate. Eines wirbt für billige Telefonverbindungen in die USA sowie für schnelle und günstige Überweisungen auch kleinerer Geldbeträge von den USA nach Guatemala. Das zweite ist ein selbst gemaltes Transparent: „Rückkehr ist Kampf, nicht Resignation“ steht dort geschrieben.
Die 147 Familien der Wiederansiedlungsgemeinde „La Trinidad 15 de Octubre“ kehrten im Oktober 1998 aus dem mexikanischen Exil in den Süden Guatemalas zurück. Hier hatten sie eine Kaffeeplantage erworben und gründeten eine Produktions- und Vermarktungs-kooperative.
Die jüngste Geschichte Guatemalas ist traurig. 1996 wurde ein 36 Jahre andauernder interner bewaffneter Konflikt beendet. Dieser war Anfang der 80er Jahre in einem vor allem gegen die ländliche indigene Bevölkerung gerichteten genozidartigen Aufstandsbekämpfungsprogramm der Militärdiktaturen gegipfelt. Die so genannte „Politik der verbrannten Erde“ hatte, laut des Wahrheitsberichtes der Vereinten Nationen von 1999, etwa 200.000 Tote zur Folge. Mehr als 10.000 Frauen wurden zu Witwen und rund 1,5 Menschen flüchteten aus Guatemala. Von ihnen suchten etwa 100.000 Schutz im Nachbarland Mexiko.
1992 unterzeichnete die guatemaltekische Regierung so genannte Rückführungsabkommen. Diese ermöglichten zwischen 1993 und 1998 die Rückkehr von circa 25.000 Flüchtlingen nach Guatemala. Die meisten von ihnen siedelten sich auf eigenen Wunsch in einer der rund 50 neu gegründeten so genannten Rückkehrersiedlungen an, in denen nahezu ausschließlich ehemalige Kriegsflüchtlinge leben. La Trinidad ist eine dieser zahlreichen Siedlungen.
Der erzwungenen folgt die freiwillige Migration
Die mangelnden ökonomischen Perspektiven im ländlichen Raum und die Folgen der politischen Repression haben in Guatemala in den letzten Jahren zu wachsenden (Arbeits-)Migrationsbewegungen nach Mexiko und vor allem in die USA geführt. Häufig wandern jedoch nur die Männer aus. Dies hat eine Feminisierung der Armut bewirkt.
Einem Bericht des Entwicklungsprogrammes der UNO von 2001 zufolge werden in Guatemala heute mehr als 60 Prozent aller ländlich-kleinbäuerlichen Haushalte von Frauen geführt. Man schätzt, dass inzwischen mindestens 18 Prozent der rund zwölf Millionen GuatemaltekInnen in den USA leben. Die Anzahl der privaten Geldüberweisungen aus den USA haben die Deviseneinnahmen aus dem Kaffeeex-port bereits übertroffen.
Trotz der Tatsache, dass besonders auf dem Land immer mehr Frauen einem Haushalt oder einer Familie vorstehen, basieren die Geschlechterbeziehungen noch immer auf der rigide geschlechtlichen Arbeitsteilung der lateinamerikanischen kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Demnach ist der Mann Haushaltsvorstand, Landwirt oder Landarbeiter, während die Frau die Arbeiten im Haus und auf dem Hof verrichtet, sich um die Kinder kümmert und „ihm zur Hand geht“. Die produktiven Arbeiten der Frauen in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft werden dabei als „Hilfe“ gewertet.
Die Frauen und ihre Pflichten in Ehe, Familie und Gemeinde gelten quasi als ”Naturresource”. Ihre Tätigkeiten sind sozial und ökonomisch nicht oder stark unterbewertet. Der Zugang zum eigenständigen, formalen Landbesitz beispielsweise ist für Frauen nach wie vor stark limitiert.
Dennoch haben Flucht, Exil, Rückkehr und die erneute Migration in die USA die Sozialstruktur und damit auch die Geschlechterbeziehungen in den ländlichen und indigen geprägten Gemeinden Guatemalas verändert. Besonders deutlich zeigt sich dies im Fall der Rückkehrergemeinden. Innerhalb der indigenen Bevölkerung entschließen sich vor allem die RückkehrerInnen aus dem mexikanischen Exil zunehmend zur erneuten Migration Richtung Mexiko und USA. Bedingt ist dies nicht nur dadurch, dass sie über Exilerfahrung, sondern auch über das Wissen um den häufig besseren Lebensstandard „im Norden“, und oft sogar über Arbeitserfahrungen im Ausland verfügen. Die meisten von ihnen konnten außerdem soziale Kontakte knüpfen, was für die internationale Migration sehr wichtig sein kann.
Vor allem die jungen Männer gehen
In den fünf Jahren seit der Gründung von La Trinidad ist bereits ein Viertel der männlichen Kooperativenmitglieder in die USA abgewandert. „Die Jahre des Aufbaus der Gemeinde und die Wirtschaftskrise haben uns sehr getroffen. Wir sind immer noch arm und müssen hart arbeiten, um unseren Kaffee zu verkaufen und unsere Kinder zu ernähren. Vor allem die jungen Männer, die im Exil einen relativ hohen Bildungsgrad erworben hatten und viel Erfahrung in politischer Organisierung sammeln konnten – unsere besten Köpfe – gehen jetzt“, erzählt Guadalupe Montejo, der Präsident der Kooperative. „Die Migration in die USA ist hier zum Alltag geworden. Damit müssen wir erst lernen umzugehen“, fügt er hinzu.
Wer geht, verlässt die Gemeinde jedoch nur körperlich. In Chicago gibt es bereits eine Community von GuatemaltekInnen, die anlässlich der Festtage ihrer Herkunftsorte zusammenkommen und Spenden für den Bau von Schulen, Gesundheitsposten oder Kulturzentren in ihren Gemeinden in Guatemala sammeln. Das ist zwar noch eine Ausnahme, Regel ist jedoch, dass die USA-MigrantInnen ihren Familien in Guatemala Geld schicken. Welche Familie Angehörige in den Vereinigten Staaten hat, kann man beim Rundgang durch das Dorf leicht erkennen. Die Häuser der Familien, deren Angehörige nach „Norden“ emigrierten, sind frisch verputzt, die Vorgärten gepflegt und Glasfenster eingebaut. Die sozialen Unterschiede innerhalb der Gemeinde sind unübersehbar.
Frauen im Rollenkonflikt
Die meisten Frauen in den Rückkehrersiedlungen entschließen sich jedoch noch immer gegen eine erneute Migration. Im September 2002 gab es in La Trinidad keine Frau, die selbständig Richtung USA emigriert oder ihrem Partner nachgezogen wäre. Und das, obwohl gerade die Frauen sich oft in einer schwierigen Situation befinden. Während des Exils hatten die meisten guatemaltekischen Flüchtlingsfrauen im weitaus liberaleren Mexiko vor allem ein höheres Unrechtsbewusstsein herausbilden und ein ungewöhnlich hohes Maß an Bildung, Selbständigkeit und politischer Autonomie erlangen können. Nach ihrer Rückkehr in die zumeist sehr strukturkonservativen und verarmten ländlichen Regionen Guatemalas erlebten viele von ihnen einen patriarchalen Backlash.
Besonders schwer wurde die Situation dann, wenn die Männer sich entschlossen, erneut auszuwandern und Frau und Familie zurückblieben. Die Aufnahmebedingungen zur Genossenschaft lassen den Arbeitsalltag von Frauen als Beitrag zur Familien- und Gemeindeökonomie nahezu unberücksichtigt. Allein stehende Frauen müssen nicht nur die Familie versorgen, den Haushalt führen und die Feldarbeit erledigen, sondern in der Kooperative auch Ämter übernehmen und die verpflichtenden Arbeitsstunden erledigen. Gleichzeitig jedoch wird die Mitgliedschaft in der Kooperative als sehr wichtig angesehen, da diese in vielen Fällen andere zentrale Entschei-dungsstrukturen verdrängt. So ist die Mitgliedschaft in der Kooperative nicht nur gleichbedeutend mit dem Recht auf einen Landnutzungstitel, sondern auch Voraussetzung für Mitbestimmung auf lokaler Ebene. Damit setzt man Frauen bewusst einer Doppelbelastung aus.
Guadalupe Montejo, der Präsident der Kooperative betont, dass in den Statuten der Gemeinde die Gleichheit von Männern und Frauen festgelegt sei und dass man die Partizipation der Frauen in den Gremien, Komitees und Basisorganisationen der Gemeinde fördere. Die Frauen von La Trinidad bewegen sich selbstverständlich in den öffentlichen Räumen der Gemeinde. Was jedoch einst von Frauenorganisationen der guatemaltekischen Flüchtlinge im Exil erkämpft wurde, ist heute eine Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung des Gemeindelebens – zu viele Männer entschließen sich zu gehen.
Die 30-jährige Rafaela P., deren Mann sich bald nach der Rückkehr aus Mexiko entschloss, La Trinidad wieder zu verlassen, um in den USA Arbeit zu finden, beschreibt die Situation der Frauen so: „Hier muss man seine Arbeitsstunden in der Kooperative ableisten, ob der Mann da ist oder nicht. Und dann muss man auch zur Kaffeeernte der Kooperative gehen. Entweder man bezahlt eine Person dafür oder geht selbst. Wenn man Mitglied der Kooperative ist, muss man aktiv partizipieren. Und sie sagen nicht: ‘Du bist kein Mann, du hast kein Recht auf die Mitgliedschaft in der Kooperative.’ Alles geht darum, dass man seine Verpflichtungen gegenüber der Kooperative erfüllt. Und wenn man sie nicht erfüllt, werfen sie einen raus.“
Pierrette Hondagneu-Sotelo beschreibt in seiner Studie Gendered Transitions. Mexican Experience of Immigration (1994) langfristige Rekonstruktionsprozesse von Weiblichkeit und Männlichkeit im Zuge der nicht dokumentierten Zuwanderung von Mexiko in die USA. Demnach motivieren zunächst informelle Netzwerke die Männer, in die USA zu gehen.
Neues Selbstbewusstsein
In einem zweiten Schritt übernehmen die zurückbleibenden (Ehe) Frauen Aufgaben der männlichen Familienerhalter, bleiben aber gleichzeitig an traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit – Ehefrau und Mutter – gebunden. Mit der Zeit jedoch bauen sie ein Selbstbild auf, das von Vorstellungen der selbst-bewussten und entscheidungsstarken Frau und Mutter geprägt ist.
Rafaela P. bestätigt in ihren Erzählungen diese Beobachtungen auch für Guatemala: „Als wir hier in La Trinidad ankamen, ließ er mich mit meinen Kindern allein und ging. Er verdiente nur 20 Quetzales [etwa 2,5 US-Dollar; die Red.] am Tag und das reichte uns nicht zum Essen. Also sagte er mir: ‚Schau, ich gehe nach Mexiko zurück. Ich werde Geld verdienen, ich werde dir dein Geld schicken. Oder willst du mitkommen?’ ‚Nein!, ich gehe nicht. ,Wenn du gehen willst, geh! Ich bleibe hier in Guatemala.’, sagte ich.“
Die (Ehe-)Frauen der USA-Migranten übernehmen in La Trinidad die Verwaltung des familiären Besitzes und auch die Verpflichtungen des Mannes in der Kooperative. Dies empfinden sie als gewisse Machtposition, was ihnen ein neues Selbst-bewusstsein verleiht: „Das Land, die Parzelle und das Haus gehören jetzt mir, sie laufen auf meinen Namen. Er ist nichts. Ich bin die Besitzerin, weil ich das Kooperativenmitglied bin. Wenn er käme, hätte er kein Recht darauf”, betont Rafaela. Seit der Mann fort ist, hat Rafaela auch ihre Leidenschaft für die Feldarbeit entdeckt. Dies sieht sie als eine Form der persönlichen Entscheidungsfreiheit, die in Anwesenheit des Mannes nicht möglich war: ”Ich bin in der Landwirtschaftsgruppe, weil mir die Arbeit auf dem Feld gefällt. Meinem Mann hat es nie gefallen, dass ich auf dem Feld arbeite. Er sagte mir nur: ‚Pass auf meine Kinder auf und bleib da.’“
Der neuen Freiheit folgt oft Neid
Margarita Hurtado beschreibt in einer Studie über die Frauen von La Trinidad, deren Männer in den USA arbeiten, allerdings auch die negative Seite der neu gewonnenen Freiheiten. Die „doppelte Anforderung“ und Mehrfachbelastung der allein stehenden Frauen, die auf lokaler Ebene politisch partizipieren möchten, wird durch die internen Spannungen in der Gemeinde verstärkt. Wie Hurtado nachweist, sind allein stehende Frauen, deren Männer in die USA abwanderten, mit dem Neid anderer Gemeindemitglieder konfrontiert. Zudem existiert ein moralisch aufgeladener Stereotyp der „vermögenden allein stehenden Frau“, in dem in diesem Kontext die negativen Attribute „Faulheit“ und „Untreue“ mitschwingen.
Nicht selten werden Alleinstehende stärker kontrolliert und diskriminiert. Zudem lassen vor allem die männlichen lokalen Autoritäten die oft gegen die USA-Migranten erhobenen Vorwürfe des Individualismus und des Verrats der kollektiven Strukturen an den zurückbleibenden (Ehe-)Frauen aus. So nötigt man sie quasi als Strafe, zusätzlich zu ihren eigenen Ämtern, die Ämter des abgewanderten Mannes zu übernehmen.
America Montejo, eine weitere Bewohnerin von La Trinidad, deren Mann ebenfalls in den USA arbeitet, empfindet dies als ungerecht: „Als mein Mann in die USA ging, schlugen sie mich für das Gesundheitskomitee vor, obwohl ich bereits im Leitungsgremium der Frauenkooperative war. Aber das berücksichtigen sie ja nicht, weil es eine Frauensache ist. Und ich war ja als Frau alleine. Sie machen es ein bisschen aus Rache, weil der Mann nicht da ist. Wenn das so weiter geht, werde ich mich auch auf den Weg in die USA machen. Meinem Mann würde das gefallen.“
* Der Artikel ist eine gekürzte und leicht abgeänderte Version des Beitrages „Geschlechterbeziehungen in internationalen Migrationsprozessen“, der in Kürze in folgendem Buch erscheinen wird: Döge, Peter/Kassner, Karsten/Schambach, Gabriele (Hrsg.): Schaustelle Gender – Aktuelle Beiträge sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung, Bielefeld 2003.