Nummer 523 - Januar 2018 | Venezuela | Wirtschaft

DREI STÜCKE SEIFE FÜR EINEN MINDESTLOHN

Venezuelas Großkooperative CECOSESOLA übernimmt eine Schlüsselrolle in der Versorgung der Bevölkerung von Barquisimeto

Hohe Inflation, lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften und leere Regale prägen in Venezuela seit geraumer Zeit das Bild. Der Kooperativenverband Cecosesola (siehe auch unsere Reportage in der LN 515) hat zu kämpfen, steht aber relativ gut da.

Von Ximena Montaño

Drei Stücke Seife legt Jonathan auf das Kassenband und erklärt: „Das hier, das entspricht einer Woche Mindestlohn.“ Wir stehen in einer der Markthallen von Cecosesola in der Millionenstadt Barquisimeto, im Nordwesten von Venezuela. Trotz der regelmäßigen Anpassungen des Mindestlohns durch die Regierung hat die Hyperinflation die Kaufkraft eines Großteils der Bevölkerung längst geschluckt. 50 Prozent Inflation allein im Oktober. Im Juli soll sie noch bei etwa 35 Prozent gelegen haben. Ein Monat Mindestlohn ist heute in etwa zehn Dollar wert – zu dem Wechselkurs, der auf der Straße herrscht.

„Das hier entspricht einer Woche Mindestlohn.”

Cecosesola, ein Kooperativennetzwerk, das etwa 20.000 Leute in verschiedenen Bundesstaaten umfasst, die in 40 Kooperativen organisiert sind,  wurde im Dezember 2017 50 Jahre alt. Es hat im Lauf der Zeit eine Vielzahl von Commons, von Gemeingütern, rund um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung geschaffen: Drei große und mehrere kleinere Wochenmärkte in Barquisimeto, eine Gemeinschaftsklinik und dezentrale ärztliche Versorgung in einigen Stadtteilen, ein Bestattungsinstitut – alles zu fairen Preisen sowohl für Konsument*innen als auch Produzent*innen und Dienstleister*innen. Und was in der aktuellen Krise, die Venezuela durchlebt, besonders wichtig ist: eigene Produktion von Nahrungsmitteln und Grundbedarfsgütern verschiedenster Art, von Gemüse über Nudeln oder Müsli bis hin zu Putzmitteln.

Die Kooperative hat heute eine Schlüsselrolle in Barquisimeto: Am Tag meiner Ankunft kaufen allein in einer der großen Markthallen 15.000 Menschen ein – das macht rund 45.000 in allen drei Hallen, die in verschiedenen Teilen der Stadt liegen. „Das ist nicht überdurchschnittlich für einen Tag, es waren auch schon mal viel mehr“, meint Jonathan. Die Markthallen sind vier Tage pro Woche geöffnet, von Donnerstag bis Sonntag.

Auf Whatsapp wird über Maismehl, Zucker und Nudeln diskutiert.

Vor der Halle schiebt sich eine lange Warteschlange zäh über den weiten Parkplatz bis ins Innere, wo die Kund*innen eine Plastikkarte vorzeigen. 250.000 solcher Ausweise hat Cecosesola bisher ausgegeben, das entspricht jeder sechsten Einwohner*in der Stadt, und es werden wöchentlich mehr. Santiago, der mit mir aus Caracas angereist ist, staunt: „Die Stimmung hier hat mit anderen Schlangen in diesem Land nichts gemein. Soviel Respekt, soviel Ruhe und Freundlichkeit“.

Schlangestehen gehört heute zum Alltag in Venezuela. Ein Großteil der Kommunikation dreht sich um Grundnahrungsmittel: Wo sich plötzlich Bezugsquellen auftun, was wieder um wie viel teurer geworden ist, seit wann das staatlich subventionierte Essenspaket des CLAP, des „lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees“, nun schon ausbleibt. Die Nachrichtenapplikation Whatsapp ist ein Schlüsselinstrument der populären Krisenökonomie, wenn irgendwo Maismehl, Zucker oder Nudeln auftauchen. Die Schlangen selbst sind zu Orten der Spekulation und Gewalt geworden: Manche Leute verbringen die ganze Nacht auf den ersten Plätzen vor bestimmten Supermärkten, um dann frühmorgens ihre Vorzugsposition gegen Geld zu verkaufen. Oder aber gegen die Hälfte der Güter, die der Käufer oder die Käuferin dann ergattert, in Naturalien. Denn auch Bargeld ist extrem knapp. Fast alle Transaktionen finden über Kredit- oder Debitkarten statt. 50 Dollar in Bolívars füllen eine mittelgroße Sporttasche, und wer damit von der Polizei auf der Straße erwischt wird, gerät leicht in den Verdacht, mit Bargeld zu spekulieren. Denn viele Leute, so erzählt Santiago, nehmen Kommissionen bis zu 50 Prozent für die Ausgabe von Bargeld. „Am Geldautomaten bekommst du täglich maximal umgerechnet 25 Dollar-Cent“, ergänzt er.

Jonathan erzählt, dass bis vor eineinhalb Jahren auch die Schlangen vor den Märkten von Cecosesola leicht ausarten konnten: „Es hat hier sogar Tote gegeben. Es war ein Alptraum für uns damals.

Viele Regierungsinstitutionen negieren die Krise und tun alles, um den Schein zu wahren.

Nicht nur, dass die Schlange sich um den ganzen Block wand und die Leute mehrere Tage und Nächte pro Woche auf Pappkartons auf dem Gehweg verbringen mussten. Bewaffnete Banden kämpften um die ersten 200 Plätze, um möglichst große Mengen der knappsten Güter zu hamstern und sie dann auf dem Schwarzmarkt weiterzuverkaufen.“ Mit der Einführung der Kundenausweise konnte das Kollektiv von Cecosesola diese Bedrohung eindämmen: Heute gibt es einen Ausweis pro Familie, der zu einem wöchentlichen Einkauf in einem der Märkte berechtigt. Strohmänner sind dadurch schwerer einzusetzen: Die elektronische Registrierung beim Eintritt in die Halle verhindert Mehrfacheinkäufe und erkennt Leute, die gestohlen haben.

Die Wirtschaftskrise trifft nicht alle Menschen in Venezuela gleichermaßen. Ähnlich wie in Kubas Spezialperiode entsteht eine immer tiefere Kluft zwischen denen, die irgendwie an Dollars kommen, und denen, die nur Bolívars zur Verfügung haben. Die müssen sich mindestens zwei oder drei Jobs suchen, allein um die Ernährung zu sichern. Viele Venezolaner*innen kündigen formelle Arbeitsverhältnisse, weil der informelle Markt mehr einbringt. Wer Dollars tauschen kann oder als Händler*in mit der Inflation einfach mithält, hat dagegen keine finanziellen Sorgen.

Der Konsum hat sich nicht nur auf das Allernötigste reduziert, sondern die Marktlage hat auch die Essgewohnheiten verändert. Da Maismehl kaum zu bekommen ist, werden die traditionellen Arepas jetzt aus Yuca hergestellt, oder die Frauen stehen um halb fünf Uhr morgens auf, um mit der Hand den Mais zu mahlen.

Die subventionierten Lebensmittelpakete der CLAPs sind sehr wichtig.

Santiago hat in den vergangenen zwei Jahren acht Kilo abgenommen – das scheint ein weit verbreiteter Effekt der Krise zu sein. Cecilia erzählt, dass es in der Oberschule, die ihre Söhne besuchen, häufig vorkommt, dass Jugendliche vor Hunger ohnmächtig werden.

Viele Regierungsinstitutionen und Chavist*innen negieren die Krise und tun alles, um den Schein zu wahren. Wo das nicht möglich ist, wird der Wirtschaftskrieg des Imperialismus verantwortlich gemacht. Die jüngsten Sanktionen der EU gegen Venezuela bestätigen diese These. Doch viel weist auch darauf hin, dass mafiöse Netzwerke im Staatsapparat selbst die Knappheit mit produzieren. Jonathan behauptet zu wissen, dass der Staat bis zu 70 Prozent der noch existierenden nationalen Grundnahrungsmittelproduktion, beispielsweise Nudeln, direkt vom Fabrikanten abzweigt. „Die Bedingung dafür, der Fabrik subventionierte Dollars für den Import von Hartweizengrieß zu geben, ist, dass 70 Prozent der produzierten Nudeln gleich wieder an den Staat zurückgehen, praktisch umsonst, für das CLAP-System. Die restlichen 30 Prozent müssen dann auf dem freien Markt die gesamten Produktionskosten decken.“

Ein subventionierter Import-Dollar kostet zehn Bolívar, ein informell gehandelter 50.000 Bolívar. Diese gigantische Differenz lädt zur Spekulation mit Import-Dollars oder subventionierten Gütern ein, die unerhörte Bereicherungsmöglichkeiten bietet. Oft sitzen Militärs an wichtigen Schaltstellen, die auch zahlreiche hohe Regierungsämter bekleiden. „Solange die Krise für diese Leute so lukrativ ist, wird sie sich hinziehen“, sagt Santiago. „Sie haben keinerlei Interesse an einem politischen Wechsel.“

Grobe Schätzungen weisen darauf hin, dass etwa zwei Millionen Menschen seit 2015 emigriert sind, so der Soziologe Edgardo Lander. Genaue Zahlen gibt es nicht. Neben den USA leben viele von ihnen in Kolumbien, Ecuador oder Peru und schicken so oft sie können Dollars nach Hause.
Die wichtigste Struktur, die die Regierung als Antwort auf die Krise geschaffen hat, sind die subventionierten Lebensmittelpakete der CLAPs. Auch wenn das P, das in der Abkürzung für Produktion steht, eher symbolisch ist, sind die CLAPs immerhin ein flächendeckender Verteilungsmechanismus, der vor allem nicht verderbliche Lebensmittel wie Mehl, Nudeln, Öl, Zucker, Sardinen oder Thunfisch und manchmal Kaffee in arme Haushalte bringt. Laut Regierung waren es 2016 knapp zwei Millionen Empfänger*innenhaushalte, 2017 sollte diese Zahl auf sechs Millionen steigen.

Das Schlangestehen in der Markthalle wird zum Akt der Solidarität und Gemeinschaft. 

Obwohl das System landesweit funktioniert, ist es alles andere als einheitlich und scheint ein hohes Maß von Willkür zu beinhalten: Manche bekommen die Pakete 14-täglich, manche nur zweimonatlich. Auch was sie enthalten, variiert, je nachdem, wo man wohnt. Verteilt werden sie über Partei- oder parteinahe Strukturen der Regierungspartei. In manchen Vierteln, den sogenannten Barrios, bekommen alle gleichermaßen ihr Paket, in anderen wird politisch konditioniert.

Jonathan erinnert sich: „In meinem Viertel wurde vor den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Juli, als die Opposition zum Boykott aufgerufen hatte, offen damit gedroht, dass am Wahllokal die Beteiligung registriert werden würde. Wer nicht wählen geht, bekommt kein Essen mehr.“ Santiago erzählt, in seinem Viertel in Caracas müsse das Geld für das Essenspaket auf das Privatkonto der Frau überwiesen werden, die für die Verteilung zuständig ist. Bei Cecilia wiederum wurde ein Extrakonto eingerichtet.

Während viele der Polarisierung und der Krise müde sind und sich keinem politischen Lager zurechnen, gibt es immer noch eine aktive chavistische Basis. Für sie sind solche Korruptions- und Kontrollstrukturen sekundär. Es überwiegt die Erinnerung an die vielfältigen Sozial- und Wohnungsbauprogramme noch unter Chávez, in deren Genuss die meisten von ihnen gekommen sind, und sie sehen die CLAPs in dieser Kontinuität.

Heute gibt es je Familie einen Ausweis, der zum Einkauf in einem der Märkte berechtigt.

Rechtsstaatlichkeit oder Transparenz im Umgang mit Geld sind bürgerliche Werte, mit denen sie sich nicht unbedingt identifizieren. Wichtig ist der Zusammenhalt im Barrio, und dass sie in genügend informelle Verteilungsstrukturen eingebunden sind. Diese können familiär, aber auch kriminell ausgerichtet sein. Wobei auch hier, wer für „seine Leute“ sorgt, nicht schlecht angesehen ist. So entsteht ein schizophrenes Verhältnis zum bachaqueo – das ist der Begriff, mit dem die Parallelökonomie bezeichnet wird.

In meinem Wohnviertel in Barquisimeto verkauft mindestens jeder zweite Haushalt irgendetwas, von Motoröl über Tomaten bis hin zu kleinen Mengen von Maismehl, Öl oder Zucker. Wer durch Schlangestehen bei einem Supermarkt etwas ergattert, kauft so viel, dass er oder sie nicht nur den Familienbedarf decken, sondern auch noch von zu Hause aus ein kleines Geschäft mit dem Rest machen kann. Man erleidet den bachaqueo, aber man versucht nach Möglichkeit, Nutzen daraus zu ziehen. Deshalb haben die Leute von Cecosesola nicht nur die Frequenz der möglichen Einkäufe, sondern auch die Mengen pro Einkauf reguliert. Für sie sind die Markthallen nicht nur Stätten der Versorgung, sondern auch ein Instrument, über das sie bestimmte verbindende Werte wie Solidarität, Autonomie und Gemeinschaft verteidigen wollen, die die venezolanische Gesellschaft heute dringender braucht denn je.

 

 

 


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