Bolivien | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

„DURCH DIE PROTESTE SIND WIR SICHTBAR GEWORDEN“

MENSCHEN MIT BEHINDERUNG PROTESTIEREN FÜR EINE RENTE DER WÜRDE

Fünf Monate lang protestierten Menschen mit Behinderung für ihre Rechte in La Paz. Gekommen in die Hauptstadt sind sie mit einem Protestmarsch ausgehend von Cochabamba. Die Regierung erkennt die Forderung nach einer Rente der Würde nicht an.

Von Thomas Guthmann
Foto: Thomas Guthmann
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Alex Vasquez ist ein stämmiger Mann. Er macht den Eindruck, als ob er nicht leicht aus der Fassung zu bringen ist und mit jeder Situation fertig werden kann. Jetzt sitzt er in einem Café, rührt in seinem Kaffee Americano, blickt nach unten und ringt mit den Tränen. Soeben haben er und seine Mitstreiter*innen beschlossen, die Mahnwache, mit der sie seit über 90 Tagen am Regierungssitz La Paz versuchten, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, aufzugeben. Ihr zentrales Anliegen, für Menschen mit Behinderung eine Rente von 500 Bolivianos, etwa 65 Euro zu bekommen, konnten sie in ihrem monatelangen Protest nicht durchsetzen. Die Regierung von Präsident Evo Morales hatte in den vergangenen Monaten immer wieder klargemacht, dass sie sich auf diese Forderung nicht einlassen wird.
Im Februar rollten und humpelten Rollstuhl­fahrer*innen, Personen mit Gehbehinderung, spastischer Krankheit, Blinde, Gehörgeschädigte und andere Menschen mit Einschränkungen vom zentralbolivianischen Cochabamba los. 36 Tage später kamen sie in La Paz an. Dort errichteten sie zuerst vor dem Präsidentenpalast eine Mahnwache, die später von der UTOP, der Bereitschaftspolizei, in die Seitenstraßen abgedrängt wurde. Die Proteste der Menschen mit Behinderung riefen heftige Reaktionen der Polizei hervor. Mit Wasserwerfern und Tränengas ging sie gegen die Aktivist*innen vor. Wochenlang war der Plaza Murillo, an dem sich der Präsidentenpalast befindet, mit meterhohen Metallzäunen abgesperrt. Wer eine offensichtliche körperliche Einschränkung hatte, wurde von den Bereitschaftspolizisten nicht durchgelassen.
Alex Vasquez und seine Mitstreiter*innen ließen sich jedoch nicht einschüchtern. Die Bevölkerung von La Paz und El Alto spendete Lebensmittel, Kleidung und Campingzubehör. So campierten Rollstuhlfahrer*innen, Personen mit spastischer Krankheit und Gehörlose in den Seitenstraßen des Regierungssitzes. „Es ist sichtbar geworden, wie wir aufs Klo gehen, wie wir uns waschen, welche Probleme wir mit den Barrieren haben“, erklärt Alex Vasquez. Die Regierung antwortete neben dem Versuch, die Proteste zu kriminalisieren, mit einer Kampagne in Funk und Fernsehen auf die Proteste. Man sah mal Präsident Evo Morales, mal seinen Vize Álvaro García Linera, wie sie eine Rehabilitationseinrichtung eröffneten oder eine Schule einweihten. Immer bedankten sich Menschen mit Behinderung in den Werbe-clips artig.

Auf dem Papier ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung beschlossene Sache. 2012 verabschiedete die Regierung ein entsprechendes Gesetz. Bereits davor hatte die Regierung einen Fonds für Menschen mit Behinderung eingerichtet. 40 Millionen Bolivianos (5,2 Millionen Euro) stehen dort jährlich für Maßnahmen zur Verfügung, die Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft integrieren sollen. Aus diesem Fonds wird bereits eine Rente finanziert, die sich auf 1.000 Bolivianos im Jahr beläuft. „Viel zu wenig“, moniert Alex Vasquez, „das sind 2,70 Bolivianos am Tag. Da viele Menschen mit Behinderung vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, benötigen wir einen höheren Betrag“.
CEDLA, das Zentrum für Studien für Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und dem Agrarsektor, gibt Vasquez in einem Bulletin recht. Hier wird beschrieben,

Foto: Thomas Guthmann
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dass lediglich ein Prozent der Beschäftigten in Bolivien Menschen mit einer Behinderung sind. Das Gesetz, das 2012 zur Inklusion von Menschen mit Behinderung verabschiedet wurde, sieht bei Unternehmen im öffentlichen Sektor eine Quote von vier Prozent vor. Die meisten Menschen mit Behinderung werden jedoch im privaten Sektor, in Familienbetrieben beschäftigt. Die großen Unternehmen drücken sich bisher erfolgreich darum, auch, weil es bis jetzt keine wirksamen Sanktionsmechanismen gibt. Ähnlich prekär ist die Lage für Menschen mit Behinderung im Bildungssektor. Ein Drittel der Menschen mit Behinderung geht nicht zur Schule und lediglich drei Prozent schaffen einen höheren Bildungsabschluss. Selbst wenn dieser erreicht ist, ist nicht garantiert, dass Rollstuhlfahrer*innen oder Blinde eine Beschäftigung erhalten. José Hidalgo, der ebenfalls zu den Protestierenden gehörte, hat es gegen alle Widerstände wie Vasquez geschafft zu studieren und seine Ausbildung als Anwalt abzuschließen.
Dennoch ist er bis heute ohne Job: „Trotz meines Hochschulabschlusses finde ich keine Arbeit, immer wieder höre ich die gleichen Argumente, wie ´du kannst hier nicht arbeiten, unser Büro ist im zweiten Stock´. Fehlende Barrierefreiheit in den Gebäuden engt uns oft ein.“ Selbst der Anwaltstitel ist keine Garantie für Teilhabe an der Gesellschaft. Mangelnde Barrierefreiheit in der Gesellschaft, sowohl mental als auch materiell, führt dazu, dass Menschen mit Behinderung immer wieder ins Abseits geraten.
Gesetze alleine reichen nicht. Das wird deutlich, wenn man sich in La Paz bewegt. Nicht nur die Hochgebirgslage der Stadt mit ihren Steigungen erzeugt jede Menge physische Barrieren für Menschen mit Behinderung, sondern auch ein Großteil der Infrastruktur ist überhaupt nicht auf Personen mit körperlicher Einschränkung ausgerichtet. So fehlen überall Rampen, Aufzüge und Nahverkehrsmittel, die auch Rollstuhlfahrer*innen mitnehmen können. Überall behindern hohe Bordsteinkanten, Minibusse und Treppen ein barrierefreies Fortkommen. Als ich mich mit Alex Vasquez im Café treffe, müssen wir erst mal eine 30 Zentimeter hohe Stufe überwinden, um in die Lokalität zu gelangen.
Auch bei einer Solidaritätsveranstaltung vom Künstler*innenkollektiv Yo soy tú Bolivia im Magic Kafe, einem hippen Veranstaltungsort im Ausgehviertel Sopocachi, müssen die Rollstuhlfahrer*innen erstmal eine enge Treppe hochgehievt werden. Das nächste Problem: eine barrierefreie Toilette. Die Veranstaltung zeigte auch, welches Potenzial die Gesellschaft verschenkt, wenn sie auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung verzichtet und nicht bereit ist, Barrieren abzubauen. Emotionale Gedichte, Reggaeton, Chansons und Performances wurden von Personen mit spastischer Krankheit, Rollstuhlfahrer*innen und anderen körperlich eingeschränkten Künstler*innen vorgetragen. Manche, wie José Hidalgo, der ein Gedicht über Suff und zerrüttete Familienverhältnisse vorträgt, sind lange im „Geschäft“ und haben bereits erfolgreich an verschiedenen Wettbewerben teilgenommen.
Dichten sei seine Leidenschaft, erklärt José Hidalgo, eine Leidenschaft, die es ihm auch erlaube, immer wieder Mut zu sammeln, wenn es mal wieder mit dem Job oder anderen Dingen „nicht klappt“, weil er im Rollstuhl sitzend auf ein unüberwindliches Hindernis gestoßen ist.
Unüberwindlich schienen auch die Hürden, um mit der Regierung in den Dialog zu gelangen. Evo Morales, der seit dem knapp verlorenen Referendum im Februar sichtbar dünnhäutig auf Proteste aus der Bevölkerung reagiert, sprach gar in einem Moment von einer Verschwörung der Menschen mit Behinderung. „Es geht uns nicht darum, gegen die MAS vorzugehen, sondern darum, Rechte einzufordern und eine bessere Gesellschaft zu schaffen“, hält Vasquez dem Präsidenten entgegen. „Es kann nicht sein, dass Maßnahmen ergriffen werden, die nicht mit uns, den Betroffenen abgesprochen sind“, fügt er hinzu. So lautete ein Wahlspruch der Proteste: Keine Entscheidung ohne uns oder über unsere Köpfe hinweg.
Ein gutes Beispiel so Alex Vasquez, der selbst seit seinem ersten Lebensjahr an Kinderlähmung leidet, sei der bereits eingerichtete Fonds der Regierung Morales. Obwohl gut gefüllt mit jährlich über fünf Millionen Euro, profitieren von den Maßnahmen bisher lediglich rund 600 Menschen mit Behinderung. „Viel zu wenig“, meint Vasquez, und eine Folge der Nicht-Einbeziehung der Betroffenen, wie er meint. Die Folge sei, dass Gelder versickern oder ineffizient eingesetzt werden.
Eines hat der aktuelle Protestzyklus erreicht. „Wir sind sichtbar geworden“, meint Vasquez, „und die Bevölkerung hat verstanden, was unsere Bedürfnisse sind, die Regierung noch nicht“. Die Mahnwache wurde aufgegeben, weil die medizinische Lage für viele Protestierende immer schwieriger wurde. Der würdige Abgang war möglich, weil David Tezanos Pinto, Ombudsmann für Menschenrechte, eine Brücke zu den Protestierenden baute. „Der Ombudsman hat uns eine würdige Beendigung der Proteste ermöglicht. Die gesundheitliche Lage von vielen Protestierenden verschlechterte sich und wir kamen in den Verhandlungen mit der Regierung nicht voran“. Die Vereinbarung mit der Ombudsstelle für Menschenrechte sieht vor, dass die Menschen mit Behinderung ihre Mahnwache in La Paz aufgeben und in einem Dialog mit David Tezanos Pinto treten.
Zur Einigung gehört, dass bei der Ombudsstelle eine Abteilung für die Rechte von Menschen mit Behinderung eingerichtet wird. Vasquez sieht hier einen Weg, auf einer anderen Ebene die Forderungen zumindest teilweise durchzusetzen: „Unser Kandidat ist Franklin Vargas, ein junger Anwalt aus Potosí. Er hat das Vertrauen der Bewegung und als Anwalt die Fähigkeit, etwas für uns zu erreichen“. Eine Aufgabe von Vargas wird sein, zu versuchen, die Vorgaben des bereits bestehenden Gesetzes zur Integration von Menschen mit Behinderung auch in die Praxis umzusetzen, z.B. endlich Sanktionsmechanismen für Unternehmen einzurichten, die die im Gesetz vorgesehene Quote von vier Prozent nicht erfüllen. Denn bisher kommen die Unternehmen ungeschoren davon.
Alex Vasquez, dessen Müdigkeit nach fünf Monaten Protest zu spüren ist, möchte nach Hause, nach Sucre zurückkehren. Seine Arbeit als Anwalt bei einer NGO, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzt, hat er durch die Proteste verloren. „Ich muss mich erst mal ausruhen, mein Haus in Ordnung bringen und aufräumen“, meint er. Dann möchte er Zeit mit seiner Frau verbringen, die wie er ebenfalls in La Paz protestiert hat. Trotzdem sei bei der Mahnwache das Privatleben doch etwas zu kurz gekommen. Das zu ändern, ist für Vasquez jedenfalls einfacher, als der Regierung von Morales die Rente mit Würde abzuringen.

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