Dossier 20 - Sein oder Schein? | Mexiko | Politik

ECHTE TRANSFORMATION ODER PERSPEKTIVLOSE LINKE?

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) ist trotz Kritik von rechts und links beliebt – Annäherung an ein Phänomen

Nicht weniger als die nationale Erneuerung wollte Andrés Manuel López Obrador in Mexiko anstoßen. Nach fast vier Jahren im Amt fällt die Bilanz seiner Regierung gemischt aus. Während es bei der Korruptionsbekämpfung, der Steuer- und Sozialpolitik Fortschritte gibt, zeigt der Blick auf Prestigeprojekte wie den Tren Maya, dass sich am grundlegenden Wirtschaftsmodell nichts geändert hat. Auch die Rolle des Militärs bleibt zentral.

Von Philipp Gerber

“Ich will keinen Tren Maya!” Neue Großprojekte lassen Bewegungen an echter Transformation zweifeln (Foto: Francisco Colín Varela via Flickr , CC BY 2.0 )

Die hemdsärmelige Art des Präsidenten, seine Provokationen auf den allmorgendlichen Pressekonferenzen, die umstrittenen Großprojekte oder die Militarisierung der inneren Sicherheit: Viele ärgert der undiplomatische Regierungsstil von Andrés Manuel López Obrador, andere warnen vor den Gefahren eines sich immer autoritärer gebärdenden Populismus. Und dennoch bleibt der AMLO genannte Politiker ungemein populär. 2018 hatte die Hälfte aller Wähler*innen dem Hoffnungsträger der gemäßigten Linken ihre Stimme gegeben. Heute bewerten sechs von zehn Mexikaner*innen seine Regierungsarbeit positiv. Im verarmten Süden des Landes, in den Bundesstaaten Chiapas, Tabasco und Oaxaca beispielsweise, erreicht der Präsident gar Zustimmungswerte von 80 Prozent.

Ein handfester Grund für die ungebrochene Zuneigung der Mexikaner*innen zu ihrem Präsidenten ist die Bekämpfung der Korruption. Zumal diese mit Maßnahmen zur Umverteilung verbunden ist – zur Abwechslung einmal von oben nach unten. In einem Land, in dem die staatlichen Leistungen für die meisten Menschen gelinde gesagt schon immer defizitär waren und Korruption die Programme zur Armutsbekämpfung noch zusätzlich schröpfte, kommt eine der zentralen Botschaften von AMLO gut an: „Es kann keine reiche Regierung in einem Land von Armen geben.“

Die Umsetzung dieser Botschaft ist für Mexikos Geschichte beispiellos. Spitzengehälter der Staatsbeamt*innen wurden massiv gekürzt, die Zeiten der staatlich gedeckten Spesenrechnungen für die Behörden sind vorbei. Beispielhaft für diese Politik ist der ehemalige Präsidentenwohnsitz Los Pinos in Mexiko-Stadt. Während AMLOs Vorgänger Enrique Peña Nieto dort noch wohnte, ist der Komplex mitten im Wald heute ein öffentlich zugängliches Museum. Täglich machen sich dort hunderte Besucher*innen ein Bild vom Luxus vergangener Zeiten. Viele Prunkstücke der Korruption sind allerdings kurz vor dem Machtwechsel Ende 2018 aus Los Pinos verschwunden, die Räume wirken leer, die ganze Villa wie geplündert. Im kollektiven Bewusstsein sind die Exzesse der früheren „pharaonischen Regime“, wie AMLO sie nennt, sehr präsent. Nicht nur die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die alte Einheitspartei, auch die rechte Partei der Nationalen Aktion (PAN) verprasste ohne mit der Wimper zu zucken Steuergelder. So schaffte Präsident Vicente Fox, der von 2000 bis 2006 regierte, für ebendiese Residenz zahlreiche Luxusgüter an. Der Skandal ging als Handtuch-Gate in die Geschichte ein, weil allein jedes Handtuch 402 US-Dollar kostete.

Eine zweite Komponente von AMLOs Politik ist eine gerechtere Besteuerung. Großunternehmen fanden dank ihrer Kontakte zur Politik früher immer Schlupflöcher zur legalen Steuerhinterziehung, das Steueramt verfügte gar in regelmäßigen Abständen Schuldenerlasse in mehrstelliger Millionenhöhe. Diese Ungerechtigkeit ging AMLO nicht juristisch an; vielmehr stellte er die Beschuldigten so an den Pranger, dass sie ihre Schulden „freiwillig“ beglichen. Die auf den präsidialen Pressekonferenzen veröffentlichte Liste zahlungsscheuer Unternehmen wirkte Wunder: Allein in den ersten beiden Regierungsjahren zahlten Firmen wie IBM, Walmart und Coca-Cola insgesamt 35.849 Millionen Pesos (1,8 Milliarden Euro) aufgelaufene Steuerschulden an den Fiskus.

Nach Jahren der ökonomischen Krisen unter neoliberaler Politik richten sich neue Programme an die verarmte Bevölkerung, und zwar ohne die von der Weltbank propagierten Leistungskriterien. Jugendliche und alte Menschen stehen im Fokus der staatlichen Stützen. Junge Erwachsene bekommen jetzt ein Stipendium für ihre berufliche Ausbildung, die allgemeine Rente ab dem 65. Lebensjahr wurde auf 1.925 Pesos pro Monat (rund 100 Euro) verdoppelt und soll weiterhin jährlich um 20 Prozent erhöht werden.

Auch der staatlich festgeschriebene Tagesmindestlohn verdoppelte sich in den letzten vier Jahren von umgerechnet 4,50 Euro auf knapp 9 Euro. Entgegen dem zentralen neoliberalen Argument deuten sich keine größeren Auswirkungen auf die Inflation an. Lange wurde so gerechtfertigt, den Tageslohn auf dem denkbar tiefen Minimum von rund 3 Euro zu halten. Diesen Hungerlohn gab einst Basilio González Núñez, Präsident der Nationalen Kommission zur Bestimmung des Mindestlohnes (CONASAMI), bekannt. Er selbst war von 1991 bis 2019 ununterbrochen im Amt und verdiente zuletzt monatlich 173.000 Pesos, was dem 68-Fachen des monatlichen Mindestlohns entsprach, den er den Hilfsarbeiter*innen auf dem Bau und in der Landwirtschaft zumutete. Auch wenn AMLO solche Fälle als „vergoldete Bürokratie“ anprangert, bleibt Mexiko ein Beispiel von krasser Ungleichheit. Gemäß der im September 2022 vorgestellten Zwischenbilanz der Regierung reduzierte sich die Einkommensungleichheit zwischen dem reichsten und dem ärmsten Zehntel innerhalb von drei Jahren von 18 zu 1 auf 16 zu 1.

Korruption und Straflosigkeit sind außerdem keineswegs Vergangenheit, wie prestigeträchtige Großprojekte beispielhaft zeigen. Beim Bau der neuen Erdölraffinerie Dos Bocas im Ort El Paraíso in Tabasco waren die Arbeiter*innen den mafiösen wirtschaftsnahen Gewerkschaften ausgeliefert, die solche einträglichen Geschäfte auch früher kontrollierten. Jeden Montagmorgen kassierte hier die der Partei PRI angehörende Gewerkschaft am Werktor in bar und ohne Quittung einen Betrag von den Arbeiter*innen. Wer nicht zahlen wollte, kam nicht rein, klagten die 1.500 Angestellten bei einem wilden Streik im Oktober 2021. Der Streik wurde gewaltsam unterdrückt. Und obwohl die Missstände so ans Licht kamen, änderte sich nichts – zu groß war die Eile, das Prunkstück der Renationalisierung der mexikanischen Energiepolitik fertigzustellen.

Neue Großprojekte im alten Stil

Die Großprojekte bleiben ein Brennpunkt in der sozialen Auseinandersetzung. Hier zeigt sich, dass sich an der grundlegenden kapitalistischen Ausrichtung und der Aneignung von oft indigenen Territorien nichts geändert hat. Dennoch, eine Reihe solcher Projekte früherer Regierungen wurde dank jahrelanger sozialer Proteste von AMLOs Regierung abgesagt, allen voran der Flughafen bei Atenco und Texcoco außerhalb von Mexiko-Stadt, aber auch Staudammprojekte oder eine US-amerikanische Bierfabrik in der wasserarmen Großstadt Mexicali. Neue Bergbaukonzessionen vergibt die Regierung nicht, auch wenn aktuelle Projekte trotz Widerspruch bis in die Umweltbehörden hinein nicht angerührt werden.

Im lukrativen Energiemarkt, der nach langem Widerstand erst von Peña Nieto 2013 privatisiert wurde, mussten europäische und nordamerikanische Unternehmen zuletzt bittere Pillen schlucken. Die Rückgängigmachung dieser neoliberalen Reformen geht trotzdem nur in kleinen Schritten voran. Gleichzeitig arbeiten die betroffenen transnationalen Unternehmen momentan eifrig daran, Mexiko wegen Verletzung der internationalen Freihandelsabkommen zu verklagen, was teuer werden kann. Einzelne Projekte werden dennoch abgesagt, so ein Windenergiepark der französischen Electricité de France in Oaxaca. Auch übervorteilende Verträge, die von der gut geschmierten Drehtürpolitik in der neoliberalen Vergangenheit zeugen, erneuern die Behörden nicht. Betroffen davon sind eine Reihe von Großunternehmen, darunter die spanische Iberdrola oder der holländisch-schweizerische Energiehändler Vitol.

Wie mit dem Bau der Raffinerie Dos Bocas angedeutet, sind die neuen Vorzeigeprojekte von AMLO kaum besser als die der Vorgängerregierungen. Der umgebaute Militärflughafen Felipe Ángeles nahe Mexiko-Stadt ist im März 2022 für die zivile Luftfahrt eingeweiht worden. Doch auch ein halbes Jahr später herrscht dort gähnende Leere, weil Fluggesellschaften und Passagiere ihn nicht nutzen wollen. Auch das Tourismusprojekt Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán und der Interozeanische Korridor, ein Bauvorhaben zur Verbindung der Containerhäfen im Isthmus zwischen Oaxaca und Veracruz, wird von ökologischen Basisorganisationen und indigenen Protestgruppen heftig kritisiert. Doch der Bau der neuen Infrastruktur kommt fast überall ohne nennenswerten territorialen Widerstand voran. Ein Zeichen dafür, dass der Protest lokal oft weniger breit abgestützt ist, als es von außen den Anschein hat.

Die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen kritisieren an der Regierung AMLO das Fehlen einer klaren Strategie, um die Menschenrechtskrise mit ihren historischen Missständen endlich anzugehen. Die Ausnahme ist der Fall Ayotzinapa, wo dank des unermüdlichen Drucks der Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten im August und September 2022 endlich erstmals hohe politische und sogar militärische Entscheidungsträger in Haft genommen wurden. Das Staatsverbrechen von Ayotzinapa ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs und die Aufarbeitung kommt nach vier Jahren Regierungsverantwortung reichlich spät. Dennoch ist das juristische Vorgehen gegen Generäle und den ehemaligen Generalstaatsanwalt ein unerhörtes Ereignis in der langen Geschichte der politischen Repression des Landes. Immerhin musste sich in Mexiko im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Staaten bisher noch nie ein hoher Militär für Exekutionen oder gewaltsames Verschwindenlassen verantworten.

Wann und ob die Militärs überhaupt verurteilt werden, steht noch in den Sternen. Ein renommiertes Anwaltsbüro übernahm deren Verteidigung pro bono und der Generalstaatsanwalt zog 21 Haftbefehle, darunter gegen 16 Militärs, wenige Tage nach deren Ausstellung wieder zurück. Ein unglaublicher Sabotageakt der Chefetage an der Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft zum Fall Ayotzinapa, den der zuständige Staatsanwalt Omar Gómez Trejo mit seinem Rücktritt quittierte. Präsident AMLO gab darauf öffentlich zu, es gäbe „starken Druck“ im Fall Ayotzinapa, ohne genauer darauf einzugehen. Die Angehörigen der 43 kritisierten am achten Jahrestag der Verbrechen die mangelhafte Aufklärung: „Ja, wir erreichten kleine Fortschritte mit dieser Regierung, aber als die Armee angefasst wurde, brach alles zusammen“, betonte Emiliano Navarrete, Vater des verschwundenen José Ángel Navarrete González, auf der Demonstration zum Jahrestag. Die Trauer steht im dabei ins Gesicht geschrieben.

Eine zentrale Schwäche der Transformation des Landes, die gemäß AMLOs Anhänger*innen momentan stattfinden soll, ist der Mangel an klarer politischer Ausrichtung der 2013 gegründeten Bewegung der Nationalen Erneuerung (Morena). Dank der Beliebtheit des Präsidenten gewinnt die neue Partei eine Wahl nach der anderen und nicht immer stehen dabei auch nur annähernd linke Visionen im Vordergrund. Im Gegenteil: An vielen Orten fanden Politiker*innen aus anderen Parteien bei Morena Unterschlupf. Das geht bis hin zum chiapanekischen Großgrundbesitzer Jorge Constantino Kanter, der die im Zuge des zapatistischen Aufstands von der indigenen Bewegung enteignete Oligarchie vertrat und für drastische rassistische Äußerungen bekannt ist. 2022 kandidierte er für Morena um das Stadtpräsidium von Comitán – zum Glück ohne Erfolg. Lokale Morena-Verwaltungsstrukturen waren gar in das gewaltsame Verschwindenlassen und die Ermordung von linken, aber der lokalen Morena-Regierung kritisch gegenüberstehenden Aktivist*innen involviert. Neu ist allerdings, dass deswegen Lokalpolitiker*innen in Untersuchungshaft sitzen, darunter der Gemeindepräsident von Amatán in Chiapas und die Gemeindepräsidentin von Nochixtlán im Bundesstaat Oaxaca.

“Als die Armee angefasst wurde, brach alles zusammen”

Der Gewaltspirale im Land wurde zwar 2019 die Spitze gebrochen, doch die Mordrate stagniert nun auf hohem Niveau: Die jährlich 28 Morde pro 100.000 Einwohner*innen entsprechen 98 Morden täglich. Viele Ecken und Enden des ländlichen Mexiko sind und bleiben Territorien ohne rechtsstaatliche Prinzipien, wo die caciques genannten Landfürste die Herren über Leben und Tod sind, heute meist im Verbund mit Mafiagruppierungen. Wenn die Verhältnisse absolut untragbar werden, dann wehrt sich die betroffene Bevölkerung bewaffnet. Wie 2021 in der Gemeinde Pantelhó im Hochland von Chiapas, wo die lokale Politikerfamilie und ihre pistoleros vertrieben wurden.

Einer der überraschendsten und gefährlichsten Aspekte der Regierung AMLO ist die breite Allianz mit dem Militär, dem auch die neuen Großprojekte übertragen werden. Anlässlich der Verlängerung der Militärpräsenz auf den mexikanischen Straßen sprach López Obrador im September 2022 von der „quasi-militärischen Macht der organisierten Kriminalität“, derer er sich erst bewusstwurde, als er das Amt antrat. Er habe deshalb seine Meinung in Sachen Militarisierung der inneren Sicherheit geändert. Ob das stimmt, mag bezweifelt werden, hat doch Wikileaks ein Gespräch in der US-Botschaft in Mexiko-Stadt vom Januar 2006 veröffentlicht, in dem der damals erstmals für das Präsidentenamt kandidierende AMLO zu Protokoll gab, dass er zwecks Bekämpfung der organisierten Kriminalität das Militär aus den Kasernen holen wolle, weil es die „am wenigsten korrupte Institution“ sei. Und gegen besseres Wissen wird die systematische Beteiligung des Militärs an Verbrechen wie Ayotzinapa individualisiert, die Institution als Ganzes nicht kritisiert.

Linke soziale Organisationen warnen ihrerseits, dass das Militär und die Nationalgarde auch andere Ziele verfolgen. So erklärt die Organisationsfront von Oaxaca (FORO), eine neue Allianz von zehn sozialen Organisationen, in ihrem Gründungsschreiben im September 2022, dass „die Militarisierung insbesondere dort strategisch präsent ist, wo es historisch am meisten Widerstand gegen Großprojekte der Regierung gab“. Auch wenn die dunkelsten Seiten der Streitkräfte momentan zurückgebunden sind, ihr Machtzuwachs ist unheimlich und wird über die Regierungszeit von AMLO hinaus wirken.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

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