Chiles neue Chance
Der Mörder Augusto Pinochet darf nicht als freier Mann nach Hause fahren. Den Beteuerungen der chilenischen Regierung, der 84jährige könne auch in seinem Heimatland vor Gericht gestellt werden, maßen die britischen Lordrichter keine Bedeutung bei. Wenn man jemanden vor Gericht stellen will, beantragt man seine Auslieferung, nicht seine Freilassung, faßte das ein Kommentator ganz schlicht zusammen. Die Frage, ob Pinochet als ehemaliger Staatschef Immunität genießt und somit für seine Handlungen gar nicht mehr belangt werden könne, stellten sie völlig hinten an – die Lords konzentrierten sich vielmehr auf das Prozedere eines ganz gewöhnlichen Auslieferungsverfahrens, bei dem es lediglich darum geht, das Prinzip zu überprüfen, nach dem eine Tat, aufgrund derer ein anderes Land die Auslieferung begehrt, zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurde, auch im eigenen Land strafbar war. Daher kann Pinochet, wenn er nach Spanien ausgeliefert wird, dort nunmehr nur für jene Fälle von Folter vor Gericht gestellt werden, die er begangen hat, nachdem Folter als international zu ahndendes Verbrechen, egal an welchem Ort begangen, auch in Großbritannien strafbar wurde: Ab 1988 also, als die Briten die internationale Antifolterkonvention unterzeichneten.
Die Lords haben keine Zweifel gelassen: Beim Putschgeneral handelt es sich nicht um einen Staatsmann, sondern um einen Verbrecher, der mit dem Strafanspruch der Gesellschaft zu rechnen hat. Das ist, neben den und trotz der Einschränkungen der spanischen Anklagemöglichkeiten, die wichtigste Aussage des Urteils.
Die ehrenwerte Baronin Thatcher hat in alter Verbundenheit gerade erneut Pinochet ihre Aufwartung gemacht. Ihr ist zu danken. Erinnert doch die Baronin an die wirkliche Rolle der lateinamerikanischen Diktatoren zu ihrer Zeit. Unter dem Mantel des Kalten Krieges waren sie, ausgebildet in und unterstützt von der westlichen Führungsmacht, so etwas wie die Dirty Harrys, die Handlanger des Westens im Kampf gegen den Kommunismus – nicht geliebt, aber erst recht nicht geächtet.
So ist es zwar ein bißchen spät, aber durchaus nichts Selbstverständliches, daß ausgerechnet der stärkste jener Diktatoren, Pinochet, der noch nach seiner Abdankung reichlich Macht behielt, nun von westlichen Gerichten als Verbrecher behandelt wird. Die Hoffnung allerdings, daß die strafrechtliche Verfolgung ehemaliger Schlächter neue Mörder von ihrem Tun abhält, ist indes gering. Welcher Warlord in Afrika, welcher Heeresführer auf dem Balkan denkt schon an seinen ruhigen Lebensabend? So wie die Todesstrafe in den USA keinen Mörder vom Morden abhält, macht der Fall Pinochet keine Folterknechte zu Anhängern des Rechtsstaats.
Wenn die Impunidad, die Straflosigkeit, endlich durchbrochen werden kann, dann hilft das vor allem den Opfern. Sie werden mit einem Verfahren gegen Pinochet endlich als Opfer anerkannt, können endlich ihrer Paria-Rolle als Störenfriede in einer ansonsten prosperierenden Wirtschaft und Gesellschaft entrinnen.
Der Umgang mit der Vergangenheit und den Opfern der Diktatur ist in Chile mit der Verhaftung Pinochets dahin gerückt, wo er schon immer hingehört hätte: ins Zentrum der Gesellschaft und der Debatte um deren Zukunft. Diese Auseinandersetzung polarisiert, und sie ist nicht ohne Risiko. Das macht nichts, im Gegenteil, es muß sein. So hat Chile mit Pinochets Verhaftung eine neue Chance bekommen – es muß sie nutzen.