Kuba | Nummer 240 - Juni 1994

Eigene Blockaden überwinden

Interview mit dem kubanischen Außenminister Roberto Robaina

Kuba in der período especial: Noch immer ist kein Ende des wirtschaftlichen Aus­nahmezustandes abzusehen. Und dennoch: zumindest auf der politischen Bühne ist die Stagnation nicht endgültig. Neue Gesichter tauchen auf, junge Politiker einer nachrückenden Generation stellen die unverrückbar geglaubte Ein-Mann-Herrschaft in Frage.
Der neue Wirtschaftskoordinator in Castros Ministerrat, Carlos Lage, unter dessen Leitung diverse Neuansätze im ökonomischen Bereich erarbeitet wer­den, ist erst 40 Jahre alt. Und noch jünger, nämlich 38, ist Roberto Robaina, wie Lage ehemaliger Leiter des kommunistischen Jugendverbandes UJC, der unverhofft und auf ausdrücklichen Wunsch Castros ins Amt des Außenmini­sters stolperte. Auf diesem Posten erweist er sich allerdings ganz und gar nicht als Hardliner; vielmehr fordert er ein Umdenken, nicht zuletzt bei der brisanten Frage der KubanerInnen im Exil. Nach drei Jahrzehnten haßerfüllten Schwei­gens lud er VertreterInnen der Emigration Ende April zu einer Konferenz über die gemeinsame Zukunft ein. Mit dem populären “Robertico” sprach María Urruzola von der uruguayischen Zeitschrift “Brecha”.

Übersetzung: Claudius Prößer

María Urruzola: Sie sprechen von ei­nem Modell der ökonomischen Um­wandlung, an dem in Kuba gearbeitet wird. Allerdings bestehen Leute wie Carlos Lage darauf, kein neues Modell anzustreben; vielmehr gehe es darum, das sozialistische Modell zu erhalten. Sowohl Sie als auch Carlos Lage gelten als Schlüsselfiguren in der gegenwärti­gen politischen Führung. Würden Sie Widersprüche zwischen Ihren Positio­nen ausmachen?
Roberto Robaina: Da wir uns unter­schiedlich ausdrücken, kann dieser Ein­druck entstehen, grundsätzlich gibt es je­doch keinen Widerspruch. Ich wähle lie­ber den Weg der allgemeinen Nachvoll­ziehbarkeit und verzichte auf die übliche Kategorisierung. Ich möchte keine Be­zeichnung für dieses Modell beibehalten, die so global nicht mehr zutrifft, aber auch nicht eine andere importieren, mit dem wir nichts anfangen können. Aus diesem Grund ziehe ich es vor, dieses Modell, an dem wir arbeiten, folgendermaßen zu cha­rakterisieren: Es ist ein sehr kubanisches, durchsetzungsfähiges Wirtschaftsmodell, mit vielen Änderungen und mit Platz für viele Neuerungen. Es gibt aber auch Aspekte, die wesentlich sind und beibe­halten werden, und das sind gerade die, die Carlos Lage verteidigt. Es kann nicht darum gehen, das alte Modell einfach bei­zubehalten.

Ihre Generation wurde nach dem Prin­zip “Kuba gehört den Kubanern” erzo­gen. Heute wird mit diesem Grundsatz gebrochen; ausländisches Kapital soll einen festen Platz in der Wirtschaft einnehmen. Es stellt sich das Problem der Einflußnahme von Kapitalgebern auf Entscheidungsprozesse. Ich habe bei den Kubanern gewisse Schwierig­keiten wahrgenommen, dies zu akzep­tieren.
Nur gewisse Schwierigkeiten? Für uns Kubaner ist das alles sehr schwer zu ver­stehen. Aber unser Erfolg gründet sich nicht darin, aufrechtzuerhalten, was unter anderen Bedingungen galt, sondern in un­serer Fähigkeit, uns an die jetzige Situa­tion anzupassen. Ebenso wie unter dem von Ihnen erwähnten Motto wurde ich dazu erzogen, mich neuen Zeiten anzupas­sen. In diesem Anpassungsprozeß geht es darum, inwieweit Kuba weiterhin den Ku­banern gehört – mit neuen Spielregeln. Wir können nicht in der Stagnation ver­harren. Aber zu behaupten, das würde leicht verstanden, grenzte an Selbstbetrug. Es ist ein komplexer und anstrengender Prozeß, selbst für die jüngeren Generatio­nen. Schließlich sind sie unter einer Reihe von Postulaten großgeworden, die heute – wie auch immer – an die Realität angegli­chen werden müssen. Das alles erfordert eine enorme Überzeugungskraft.

Wesentliche Errungenschaften der Revolution verteidigen
Wenn Sie vom “Wesentlichen” spre­chen, das es zu verteidigen gilt, worauf beziehen Sie sich dann?
Wesentlich ist für uns die Souveränität, die Unabhängigkeit. Es ist wesentlich, mit eigener Stimme zu sprechen und nicht darauf zu warten, daß uns irgendjemand vorgibt, was wir tun sollen.
Daß die Kindersterblichkeit nicht ansteigt, daß die Lebenserwartung nicht sinkt, daß niemand Geld, Beziehungen oder Ver­wandtschaft benötigt, um einen Beruf zu erlernen und auszuüben. Daß wir unseren Einsatz bei den Olympischen Spielen nicht zurückschrauben müssen, daß wir den Bereich der Wissenschaft weiter ent­wickeln.
Wesentlich ist heute für uns nicht, ob wir in der Ökonomie ein gemischtes Modell anstreben, oder die Liberalisierung der privat ausgeübten Arbeit. Ebensowenig geht es darum, ob wir den Bauern einen Teil des Bodens zur Eigenbewirtschaftung zeitlich unbegrenzt überlassen. Auch eine Umstrukturierung des staatlichen Ver­waltungsapparates gehört nicht zu den wesentlichen Dingen.

Momentan wird in Kuba viel an der Rolle des Staates in der vorangegange­nen Periode kritisiert, als Maßnahmen für eine wirtschaftliche Unabhängigkeit noch hätten ergriffen werden können – was nicht geschah. Nicht alle sind davon überzeugt, daß die jetzige Situation nur dem Zusammenbruch im Osten und der US-Blockade geschuldet ist. Dabei wird die Frage gestellt, wie groß die ökono­mische Bedeutung der Blockade denn wirklich ist. Man spricht in diesem Zu­sammenhang von Verschwendung und von Verantwortungslosigkeit. War die Führung des Landes unfähig, wirt­schaftspolitische Alternativen hervor­zubringen?
Wir haben in bezug auf dieses Thema öf­fentlich Selbstkritik geübt. Meiner Mei­nung nach waren wir zu leichtfertig. Wir waren lange Zeit an einen Verteilungsme­chanismus gewöhnt, der bestimmten Sektoren das Überleben garantierte und uns glauben machte, daß sie auf ewig be­stünden. Dabei haben wir übersehen, daß beispielsweise eine verantwortungsvollere Agrarpolitik und eine gleichzeitige Förde­rung der Verbrauchergewohnheiten der Bevölkerung angebracht gewesen wären.
Wir haben als Staat eine sehr ernste Ver­antwortung auf uns genommen. Als wir begonnen haben, Korrekturen vorzuneh­men, dachten wir, wir hätten viel Zeit. Aber dann gerieten wir in eine äußerst prekäre Lage, und zwar viel schneller, als vorhersehbar war.
Das ist unser heutiges Dilemma: In wel­chem Maße soll der Staat in den Sektoren weitermachen, in denen er sich als effizi­ent erwiesen hat, und welche Veränderun­gen sollen dort Priorität haben, wo er dies nicht getan hat?
Ich glaube, es ist eindeutig, daß Fehler auf eine mechanische Art und Weise weiter­geschleppt wurden. Das darf nicht wieder geschehen. Ich teile die Meinung derer, die behaupten, der Staat habe eine Zeit lang Maßnahmen angewandt, die zur Sta­gnation geführt haben. Und ich gehöre zu denen, die glauben, daß obwohl die US-Blockade heute das größte Hindernis dar­stellt – es auch Probleme gibt, die nicht von der Blockade abhängen. Es gibt auch eine andere, eigene Blockade, die mit un­seren Fehlern, mit unserer Bürokratie, mit unserer Unfähigkeit zu tun hat, manche Probleme zu lösen. Das Land kann nicht weiter darauf warten, daß die Blockade aufgehoben wird. Wir müssen sie unun­terbrochen verurteilen – und früher oder später wird sie aufgehoben werden – aber wir können nicht einfach untätig herum­sitzen und abwarten. Wir mußten ganz zweifelsohne unter Druck und in einer sehr schwierigen Lage dazulernen. Hätten wir früher damit angefangen, befände sich das Land nicht in dieser wirtschaftlichen Verfassung.

Das Verhältnis zum kubanischen Exil

Viele Jahre lang war das Thema der Kubaner im Exil enorm politisch auf­geladen. Wer ging, der war ein “gusano” (Wurm), der übte Verrat. Unter dieser Voraussetzung ist eine ge­samte Generation – die Ihre – mit der Verachtung Ihrer Landsleute im Aus­land aufgewachsen. Plötzlich ist das al­les anders, und man sagt dem Volk, daß die Kubaner im Ausland – bis auf die, die eine “hysterische Politik” betreiben – ein Anrecht darauf haben, am Schick­sal des Landes mitzuwirken: Ein sehr drastischer Wandel.
So plötzlich kam das nicht. Wir sprechen jetzt von mehr als dreißig Jahren, und diese neue Etappe hat auch schon ihre Ge­schichte. Es ist nicht das erste Mal, daß das Land Beziehungen zu Kubanern außerhalb Kubas unterhält, und einen Wandel hat es nicht nur im Land, sondern auch außerhalb gegeben. Die Kubaner, die in anderen Ländern leben, lassen sich nicht mehr durch die Fanatiker charakteri­sieren, die sich die vollkommene Reprä­sentation der Auslands-Kubaner anmaß­ten. Ein Teil hat jahrelang stillgehalten, aus der Angst heraus, angefeindet zu wer­den. Inzwischen haben aber viele ihr Schweigen gebrochen, was den Hysteri­kern Sorgen bereitet.
Es gibt zwei Alternativen: Entweder wir strecken eine Hand aus und kümmern uns um die Verbindung zwischen Kuba und den Emigranten – wie es jedes Land der Welt macht, um eine normale, zivilisierte Beziehung herzustellen – oder diese Masse an Menschen bleibt weiterhin ein Instru­ment feindlicher Interessen.
Wenn man sie irgendwann als Würmer bezeichnet hat, hatte das mit der jeweili­gen Situation zu tun. Es geht auch nicht darum, heute vor Reue zu zerfließen. Wichtig ist es, sich auf der Höhe der neuen Zeit zu befinden und sich um das Wesentliche zu kümmern. Und hier wäre das Wesentliche eben eine normalisierte Beziehung unter der Bedingung, daß kei­ner, der das Land verlassen hat, uns Hier­gebliebenen irgendetwas vorschreibt.
Das sind die neuen Spielregeln. Natürlich verstehen das nicht alle. Aber ich glaube an die Leute, die Zweifel haben. Sie er­scheinen mir ehrlicher, und ich bin bereit mit ihnen zu diskutieren.

Aufgrund der herrschenden Gesetzge­bung in Kuba gibt es keine Beschrän­kung der Herkunft ausländischen Kapi­tals, das auf der Insel investiert wird. Bedeutet das, daß auch die Kubaner im Ausland auf Kuba investieren können?
Ein ernstes Problem. Kuba kann nicht per Gesetz einen Prozeß ausländischer Inve­stitionstätigkeit einleiten und sagen: Alle werden zugelassen, nur nicht die Kubaner, die das Land verlassen haben. Das wäre nicht durchsetzbar. Das Problem liegt darin, daß viele Wunden noch nicht ver­heilt sind. Meiner Ansicht nach muß man ein Klima des Vertrauens in bezug auf ausländische Direktinvestitionen schaffen, denn viele Kubaner haben die Notwen­digkeit dahinter noch nicht erkannt.

Ich konnte auf Kuba nicht feststellen, daß ein Mehrparteiensystem ein echtes Anliegen der Kubaner ist. Was ande­rerseits aus der Sicht vieler Kubaner wirklich notwendig wäre, ist die Tren­nung von Staat und Partei, die Wieder­aufwertung der Zivilgesellschaft und der Rolle der Bürger. Es scheint den Kubanern ein Anliegen zu sein, daß sich die Partei aus Bereichen verabschiedet, in denen sie eigentlich nichts zu suchen hat. Ist das tatsächlich so?
Ich freue mich, daß Sie beide Ansichten wahrgenommen haben, vor allem in bezug auf Forderungen nach einem pluralisti­schen Parteiensystem, das für mein Land nicht an erster Stelle steht. Schließlich hat die Einheitspartei meines Landes in der Praxis mehr Probleme gelöst als die vielen Parteien anderer Länder. Das ist ein sehr kubanisches Phänomen, und hat mit Be­drohungen zu tun, die immer noch beste­hen. Dennoch teilt die Partei selbst die Sorge eines großen Teils der Bevölkerung, die staatlichen Aufgaben einzuschränken. Wir haben das in der letzten Zeit vehe­ment diskutiert. Als die Partei die Aufga­ben der Verwaltung übernahm, erfüllte sie diese zum Teil nicht richtig und vernach­lässigte auf der anderen Seite wichtige politische Aufgaben. Wir müssen uns heute entscheiden, in welchen Bereichen wir die Partei, und in welchen die Regie­rung und den Staat stärken. Das erfordert einen Umbau staatlicher Machtstrukturen, und ich glaube, wir haben da noch eine Menge vor uns.

Auf dem neuen Weg, der eingeschlagen wurde, zeigt sich immer stärker ein neues Gesicht Kubas: das der Unter­schiede der Chancen, der Möglichkei­ten, der Dollars. Es scheint, als ob dies einen unumkehrbaren Verfall jener ethischen Werte hervorruft, auf denen die Revolution basierte. Empfindet das die politische Führung des Landes auch so?
Das gehört zu den unvermeidlichen Risi­ken. Schlimmer wäre es jedenfalls, wenn wir uns der Realität nicht stellten. Ich glaube schon, daß wir es heute mit einer Welt der Unterschiede, der Ungleichhei­ten zu tun haben, aber ich möchte auch klarstellen, daß diese Ungleichheiten weitaus schlimmere Folgen hatten, so­lange sie sich in der Illegalität abspielten. Die Straffreiheit des Dollarbesitzes hat die Unterschiede nicht herbeigeführt, sie hat nur sichtbar gemacht, was schon seit ge­raumer Zeit der Fall ist. Wir müssen uns entscheiden: entweder wir verschließen die Augen vor dieser Realität, oder wir suchen ganz offensiv mögliche Aus­gleichsmechanismen.

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