Literatur | Nummer 272 - Februar 1997

Ein Alptraum voller Realität

Ein ausführliches Buch zur Repression der 80er Jahre in Guatemala

Händeschütteln zwischen Vertretern der Regierung und der URNG, ein Federstrich auf dem Papier und das Presselächeln der internationalen Gäste – der Enthusiasmus über den jüngst geschlossenen Friedensvertrag darf nicht vergessen machen, was in der Vergangenheit an Unheil geschah. Das vorliegende Buch leistet einen ausgezeichneten Beitrag zur Analyse schreckenvoller Jahre.

Monika Feuerlein

Angela Delli Santes Buch “Nightmare or Reality. Guatemala in the 1980s” ist eine nachdrückliche Anklage. In unermüdlicher Detailtreue analysiert die US-amerikanische Professorin die Mechanismen, Hintergründe und sozialen Folgen der politischen Repression in Guatemala. Unerbittlich zeigt sie Verantwortlichkeiten auf, nennt Entscheidungsträger, Akteure und Kollaborateure, klagt Schuldige an. Dabei verläßt sie sich nicht allein auf die moralisch-ethische Kraft ihres erhobenen Zeigefingers, sondern stützt ihre Anklagen auf die Verletzung nationalen wie auch internationalen Rechts. So ist Guatemala offizieller Unterzeichner der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der UN-Folterkonvention und der UN-Konvention über den Genozid. Dem steht allerdings in der Realität eine schaurige Bilanz hunderttausender ziviler Opfer staatlicher Repression gegenüber, Konsequenz einer nahezu fanatischen Politik der Vernichtung jedes potentiellen Gegners. “Zerstörung ländlicher Strukturen” und “Umsiedlung, Kontrolle, Militarisierung”, so hießen die Programmstufen des systematischen Staatsterrorismus, welcher der bewaffneten Opposition die wachsende gesellschaftliche Basis untergraben sollte. Ihren traurigen Höhepunkt erreichten die 50 Jahre der Repression in den 80er Jahren mit der Auslöschung ganzer Dörfer, extralegalen Hinrichtungen, Folter und der Systematik des “Verschwindenlassens”.

Die Verantwortlichen der Repression

Als Hauptakteure und Verantwortliche nennt die Autorin Armee, Polizei, Geheimdienst, die Zivilen Patrouillen zur Selbstversteidigung (PACs) und verschiedene paramilitärische Gruppen, aber auch zivile Entscheidungsträger, insbesondere die auf die Militärregierung folgenden Regierungen von Venicio Cerezo Arévalo, Jorge Serrano Elías und Ramiro de León Carpio, die kein Ende der Menschenrechtsverletzungen bewirkten. Zur Verantwortung zieht Delli Sante jedoch ebenso weite Kreise der internationalen Staatengemeinschaft, ohne deren militärische, wirtschaftliche und logistische Unterstützung der Ausbau und die Aufrechterhaltung des polizeilichen und militärischen Überwachungs- und Repressionsapparates in diesem Maß nie durchführbar gewesen wäre. Besonders hart ins Gericht geht sie mit Entscheidungsträgern in den USA und Israel, denen sie die größte Bedeutung bei der ideologischen Indoktrinierung und militärischen Unterstützung zuspricht. Als Kollaborateur von Format nennt sie aber auch das ehemalige Westdeutschland, aus dem vor allem als Entwicklungshilfe getarnte Gelder zum Ausbau des guatemaltekischen Terrorapparates flossen. Ihre Thesen und Argumentationen stützt die Autorin dabei nicht auf Gerüchte, sondern auf genauestens recherchierte Aussagen und Dokumente, die sowohl von Menschenrechtsorganisationen und zivilen Augenzeugen, als auch von Regierungsseite und den Militärs stammen.

Das Leid der Flüchtlinge

Der Schwerpunkt des 400-Seiten Buches liegt indes nicht auf den Akteuren des Bürgerkrieges oder den Helden des Widerstandes, sondern auf den Überlebenden des Staatsterrors, die sich hinter so abstrakten Begriffen wie ‘Exodus’ und ‘Hinterbliebene des Völkermords’ verbergen.”We all have this ability to cease to see”, zitiert sie V.J. Steiner und so widmet sie ihr Buch vor allem jenen, die leicht in Vergessenheit geraten. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Flüchtlingen und Vertriebenen, die, von panischer Angst getrieben, ihr Heil in Mexiko und den Vereinigten Staaten suchten – und es nur selten fanden. Dokumentiert werden in diesem Zusammenhang die Konsequenzen der erbarmunslosen Abschottungspolitik, die die USA und Mexiko trotz eindeutiger Hinweise auf umfassende Menschenrechtsverletzungen in Guatemala gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen praktizierten. Die Aberkennung eines Status als bona fide Flüchtlinge, sowie aller damit verbundenen Schutz- und Aufenthaltsansprüche, bedeutete in jedem Fall ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im Falle der USA auch die klare Nichteinhaltung ihrer Verpflichtungen als Unterzeichner der UN-Flüchtlingskonventionen. Für die Flüchtige bedeutete dies oftmals die traumatische Wiederdurchlebung bereits erlittener Repressionen, die Fortsetzung eines Lebens in permanenter Angst und für die Mehrzahl von ihnen sogar ein Leben im Untergrund, ständig auf der Flucht vor drohender Deportation.

Eingefrorener Schrecken

“Nightmare or Reality” – so lautet der Titel von Agela Delli Santes Buch, und hier klingt bereits an, daß die beschriebenen Zustände der Beklemmung noch lange in der Psyche ihren Nachhall haben: Schlaflosigkeit, Depressionen, Schuldgefühle und krankhaftes Mißtrauen sind nur einige der weitverbreiteten Symptome der psychischen Zerrissenheit. Die hohe Anzahl von Selbstmördern – in der Mehrzahl mißbrauchte Frauen – und das Zusammenbrechen sozialer Gefüge in den Flüchtlingscamps sind die sichtbarsten Alarmsignale dieses Elends. Als größtes Hindernis auf dem Weg zur Rehabilitierung nennt die Autorin das Fehlen jeglicher Behandlungs-und Beratungsstellen, insbesondere für die Gefolterten und den fortbestehenden inneren und ihnen von außen auferlegten Zwang zum Schweigen. Frozen grief heißt die Bezeichnung für diesen Zustand des gelähmten Schreckens, in dem sich die Opfer des Bürgerkriegs befinden.
Angst vor Repressionen, die soziale Isolierung der Opfer, ihre Schuldgefühle und Sprachlosigkeit, sowie das permanente Abstreiten des angetanen Leids von Seiten staatlicher Institutionen verhindern das Aufbrechen dieser Eisschicht und damit einen effektiven nationalen Dialog. In einem größeren Rahmen bezieht sich dies nicht nur auf die Vertriebenen und Opfer, sondern auch auf die Täter, die oftmals durch systematische Indoktrinierung zum Dienst in den berüchtigten PACs (Zivile Einheiten zur Aufstandsbekämpfung) gezwungen wurden, sowie Angehörige des Militärs. Auch hier beschränkt sich die Autorin nicht auf bloße Fakten, sondern stellt das unmenschliche Ausmaß an Gewalt in den Kontext einer psychologisch-ideologischen Manipulierung, mit Hilfe derer grundlegende Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur der Täter vollzogen wurden.

Perspektiven

Denkmuster und Bewußtseinsformen lassen sich nicht einfach ablegen. Aus dieser grundsätzlichen Einsicht zieht Angela Delli Sante im Hinblick auf den guatemaltekischen Friedensprozeß die Konsequenz, daß moralischer Druck allein nicht ausreicht, um ein Aufbrechen der repressiven Strukturen zu erzwingen. Stattdessen fordert die Autorin die Einstellung jeglicher direkter und indirekter Unterstützung der guatemaltekischen Ordnungs- und Sicherheitskräfte und die Verhängung von Sanktionen im Falle einer Rebellion des Militärs. Ohne ausländische Unterstützung, so ihre feste Überzeugung, könne sich das repressive Regime nicht lange halten. Ein Einlenken der Weltwirtschaftspolitik auf here Prinzipien erhofft sie jedoch kaum. Optimismus schöpft sie vielmehr aus dem sichtbaren Erstarken der Zivilgesellschaft, in Guatemala selbst und auf internationaler Ebene.

Umfassende und differenzierte Darstellung

Insgesamt hält sich Angela Delli Sante jedoch sehr mit Spekulationen und Thesen zurück. Sie nimmt Partei, versteht es aber, ihre Wissenschaftlichkeit zu wahren. Es ist wohl ihre größte Leistung, trotz persönlicher Betroffenheit und Hingabe, Opfer und Täterrollen zu durchleuchten und polemische oder gefühlsgeladene Aussagen zu vermeiden. Zehnjährige aufwendige Forschung, die Auswertung von Statistiken, Kongressen und selbstgeführten Interviews machen das Buch zur wohl umfangreichsten Quelle dokumentarischen Materials über die politische Situation Guatemalas in den 80er- und frühen 90er-Jahren. Nicht zuletzt das ausführliche Quellenverzeichnis, Fundstelle für die oft mehrfachen Belege der Aussagen der Autorin, ist für Guatemala-Interessierte eine Leistung von unüberschätzbarem Wert. Es ist der Autorin auf diese Weise gelungen, in ihrer Monographie das Leid eines großen Teiles der guatemaltekischen Bevölkerung umfassend darzustellen, die von staatlicher Seite lang geleugnete Realität der alptraumartigen Flüchtlingsberichte hieb und stichfest zu belegen und eindeutige Verantwortlichkeiten aufzuweisen. Darüber hinaus gewinnt das Buch durch die interdisziplinäre Verflechtung von historischen, politischen, soziologischen, ethnologischen und psychologischen Erkenntnissen nicht nur an Breite, sondern auch an Tiefe. Wünschenswert, um den umfassenden Einblick in die Problematik abzurunden, wäre noch ein Kommentar dazu gewesen, wie die Autorin die Auswirkung der von ihr analysierten psychischen Folgen auf die von der Zivilbevölkerung in den letzten Jahren gebildeten Organisationen einschätzt, die ihr Grund zu einem gewissen Zukunftsoptimismus geben. Eine interessante Frage wäre in dieser Hinsicht, welche Bevölkerungsgruppen sich aufgrund erlittenen Unrechts und eines gestörten Gesellschaftslebens von solchen Mobilisierungstendenzen in der Zivilbevölkerung ausschließen, und welche Personen dagegen aus der gemeinsamen Erfahrung der Vergangenheit Mut zur Solidarität und politischer Aktivität schöpfen.

Überunterschriftenchaos

Negative Kritik ist jedoch bezüglich der Gestaltung angebracht. So wird den LeserInnen in der Fülle dokumentarischen Materials oft der rote Faden fehlen. Die Monographie gleicht an manchen Stellen einem etwas überstürzt veröffentlichten Forschungsbericht, in dem selbst vom Text gefangene LeserInnen über orthographische Behinderungen des Leseflusses stolpern. Direkt aus der Forschungsarbeit übernommen wurde wohl auch die grobe Einteilung der Hauptkapitel in die Phasen direkter militärischer Kontrolle, indirekter militärischer Kontrolle und ein Update zum Aufbruch der 90er Jahre. Angesichts der Tatsache, daß weitaus mehr die Kontinuität alter Repressionsmuster und Verantwortlichkeiten demonstriert wird als die Gegenüberstellung unterschiedlicher historischer Abschnitte, erscheint diese chronologische Einteilung seltsam und führt zu einer gewissen Frustration der LeserInnen, die sich nach über hundert Seiten wieder in alte Zusammenhänge einarbeiten müssen. Unzählige Unter- und Unterunterüberschriften , die zudem optisch schlecht hervorgehoben sind, tragen zu weiterer Verwirrung bei.
Wenn diese kosmetischen Aspekte jedoch letztendlich zugunsten der Aktualität geopfert werden mußten, so sei dieses Kavaliersdelikt verziehen – denn kommt das Buch in mancher Hinsicht auch zu spät, so doch zumindest nicht in jeder. Gerade in Hinblick auf den vollzogenen Friedensschluß und das umstrittene Amnestiegesetz, sowie die Pläne für einen nationalen Wiederaufbau haben Bücher wie Nightmare or Reality ihren Stellenwert. Stetig neue gewaltsame Zusammenstöße zwischen Militär und Bevölkerung, insbesondere den Repatriierten, führen vor Augen, daß sich hinter auch noch so automatisierten Repressionsapparaten Menschen verbergen, die ihre Mentalität und Überzeugung nicht durch bloße Veränderung verfassungsmäßiger Machtkonstellationen ändern. Das Buch zeigt sehr deutlich, daß die überlebenden Opfer der Repressionen nicht allein durch Gesetze in die Normalität zu integrieren sind. Ein (inter-)nationaler Dialog muß deshalb auch das Schweigen über vergangenes Unrecht brechen, sonst werden für viele dieser Menschen ihre Alpträume weiterhin die Realität bestimmen.

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