„Ein alternatives, partizipatives Projekt für Argentinien“
Interview mit der jüngsten argentinischen Abgeordneten Victoria Donda
Der Agrarkonflikt zwischen der Regierung und den Agrarexporteure über die Exportabgaben ist nach wie vor ungelöst. Die Regierung will mit höheren Abgaben Umverteilung nach unten finanzieren. Trotzdem konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Unterstützung für die Großbauern und -bäuerinnen weit über die Gruppe selbst hinausgeht. Stimmt das und wenn ja, wie lässt sich das erklären?
Der größte Teil, der die Agrarunternehmerverbände unterstützt, ist mit diesen eng verbunden und partizipiert selbst am Exportgeschäft. Andererseits muss man auch klar feststellen, dass die Regierung die geplante Erhöhung der Exportabgaben nicht gut kommuniziert hat. Der Bevölkerung auf dem Land wurde der Sinn der politischen Maßnahmen nicht richtig erklärt. Wir von Movimiento Libres del Sur sind mit der Regierung einer Meinung, dass die Exportabgaben mit steigenden Preisen progressiv ansteigen sollten.
Was ist die Essenz des Agrarkonflikts?
Die Essenz besteht darin, dass die Regierung von den AgrarexporteurInnen einen Tribut für die vorteilhafte Gewinnentwicklung auf dem Sektor verlangt – vor allem für die SojaexporteurInnen, die von lange steigenden Weltmarktpreisen profitiert haben. Wir hatten in Argentinien bis vor wenigen Jahren eine große Artenvielfalt und eine breite Palette an Agraranbau. Seit circa fünf Jahren wird wegen des Weltmarktpreises der Sojaanbau massiv ausgeweitet. Dadurch werden viele Monokulturen geschaffen, die schädlich für die Umwelt sind und zur Abholzung von Feuchtwald geführt haben. Das ist ein gefährliches Muster, wie es sich in vielen Rohstoff exportierenden Länder findet. Die Regierung will dem mit den höheren Abgaben auf Soja entgegensteuern und den Anbau von Grundnahrungsmitteln wieder attraktiver machen. Die Sojaexporteure haben daran kein Interesse.
Die Kirchner-Regierungen seit 2003, zuerst Néstor, nun seine Frau Cristina Fernández, scheinen einer Politik der Umverteilung zu folgen, ohne die gesellschaftlichen Strukturen grundsätzlich in Frage zu stellen, wie das in Ecuador, Bolivien und Venezuela geschieht.
Diese Einschätzung trifft im Allgemeinen zu. Es ist auch ein Teil unserer Kritik an der Regierung. Wir sind der Meinung, dass die Politik der Regierung weit von den Notwendigkeiten einer Transformation entfernt ist, die soziale Gerechtigkeit und die Umverteilung des Reichtums umsetzt. Die Frente para la Victoria, hat am Anfang von Néstor Kirchners Amtszeit (2003-2007) ein soziales Projekt verfolgt, was wir auch begrüßt haben. Aber im Verlauf der Zeit hat sich das Projekt verändert.
Weshalb?
Man darf nicht vergessen, dass in der PJ viele neoliberale Elemente enthalten sind. Es ist ja auch die Partei von Carlos Menem, der von 1989 bis 1999 als Präsident eine neoliberale Politik praktizierte. Die PJ hat den Neoliberalismus in Argentinien eingeführt, hoffähig gemacht und ein bedeutender Teil der Parteiführung unterstützt ihn immer noch. Wir dachten, dass die PJ ein Teil einer großen Allianz für die Transformation des Landes hätte sein können, wenn auch nicht der Kopf. Doch die Regierungen Kirchner haben mit dem wieder wachsenden Einfluss der Neoliberalen in der PJ zu kämpfen. Damit werden der Vertiefung des Reformkurses Fesseln angelegt. Das betrifft die Umverteilung des Reichtums ebenso wie die Eindämmung der Inflation oder den Ausbau der Partizipation der Bevölkerung. Das ist ein großes Problem. Deswegen fehlt auch die Kraft, der Agrarindustrie Einhalt zu gebieten. Im Unterschied zu Bolivien hat sich in Argentinien auf dem Land keine soziale Bewegung gebildet, die Druck auf Veränderung macht. In Bolivien stehen 60 Prozent der Bevölkerung hinter Evo Morales, damit er eine Landreform vorantreibt.
Die Kirchners haben also den Willen, eine radikalere Politik zu verfolgen, aber nicht die Durchsetzungskraft?
Ich glaube nicht so sehr an das Konzept des politischen Willens. Entscheidend sind die Tatsachen und die politische Praxis. In der Politik entscheidet letztlich die Art und Weise der Organisation, um etwas durchzusetzen. Das Problem besteht darin, dass aufgehört wurde, ein alternatives Projekt für Argentinien zu entwickeln und in den Grundzügen das neoliberale Modell beibehalten wurde. Wir müssen ein alternatives Projekt für Argentinien entwickeln. Das muss ein Projekt sein, an dem die Bevölkerung Lust hat, sich zu beteiligen.
Wie bewerten Sie die Menschenrechtsbilanz der Regierungen Kirchner?
Für mich sind die Menschenrechte vor allem die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. In Argentinien werden die Menschenrechte hingegen auf die Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Zeiten der Diktatur (1976-1983) eingegrenzt. Wenn in Argentinien offiziell über Menschenrechte geredet wird, dann nur darüber. In Bezug auf die Aufarbeitung der Diktatur war die Regierung von Néstor Kirchner die beste, die wir je hatten. Die Amnestien wurden aufgehoben, die Justiz konnte unbeschränkt gegen die Täter vorgehen. Ich konnte mir in meiner Jugend nie vorstellen, dass die Schergen der Diktatur je zur Rechenschaft gezogen werden. Die Militärs haben tausende ArgentinierInnen planmäßig ermordet, ohne dass sie dafür verurteilt wurden. Es ist für die Gesellschaft fundamental wichtig, dass sich das nun ändert. Die Regierung hat das einzig Richtige gemacht. Nun müssen wir diese Politik vertiefen und vor allem auch die Zeugen schützen, die von den Tätern bedroht werden. Nach 25 Jahren muss der Straflosigkeit endgültig ein Ende gesetzt werden.
Die MLS steht programmatisch für einen radikaleren Wandel als die Frente para la Victoria. Wie arbeiten Sie?
Das Wichtigste ist es, die Bevölkerung zu organisieren. Wir haben dafür unterschiedliche Formen. Zwar haben wir Abgeordnete auf den unterschiedlichsten Ebenen bis hin zum Kongress. Dort haben wir beispielsweise gerade eine Gesetzesinitiative zur Legalisierung der Abtreibung auf den Weg gebracht. Für uns ist aber klar, dass alle Gesetzesinitiativen letztlich nur fruchten, wenn sie Hand in Hand mit einer Beteiligung und Unterstützung durch die Bevölkerung gehen. Es gibt progressive Gesetze, die schlicht nicht umgesetzt werden. Beispielsweise sind die öffentlichen Krankenhäuser verpflichtet, Verhütungsmittel auszugeben. Aber die Bevölkerung weiß nicht mal, dass sie darauf Anspruch hat. Wenn eine Bevölkerung nicht ihre Rechte kennt, wenn sie nicht an der Ausarbeitung der Gesetze beteiligt wird, dann funktioniert das nicht. Deswegen ist es für einen Wandel der Gesellschaft fundamental, die Bevölkerung zu informieren und organisieren.
// Interview: Martin Ling
Victoria Donda
ist mit 31 Jahren Argentiniens jüngste Abgeordnete. Sie weiß erst seit fünf Jahren, dass sie Victoria Donda ist. Ihre Eltern waren bei der Stadtguerilla der Montoneros aktiv und sind seit der Militärdiktatur verschwunden. Donda wurde 1977 in der Folteranstalt ESMA geboren, wo der Bruder ihres Vaters maßgeblich mit grausame Regie führte. Victoria Donda ist das 78. der seit Ende der Diktatur aufgespürten Kinder, die während der Schreckensherrschaft zwangsadoptiert wurden.