Film | Nummer 407 - Mai 2008

Ein geiler Job mit dicken Wummen

Peter Lilienthals Film Camilo – Der lange Weg zum Ungehorsam

„Ich war in dem Moment frei, als sie mir die Handschellen anlegten.“ Ein Jahr verbrachte Camilo Mejía im Militärgefängnis, denn er wollte nicht zurück. Zurück in den Irak, zurück in den Krieg. Also tauchte er unter, als er auf Heimaturlaub in den USA war und verweigerte den Kriegsdienst. Als er nach fünf Monaten wieder aus der Anonymität auftauchte, wurde er verhaftet und verurteilt. Trotzdem fühlte Camilo sich befreit. Frei von der drückenden Last seines Gewissens. Nach der Haft begann er gegen den Schrecken und die Kriegsverbrechen im Irak zu protestieren.

Olga Burkert

Camilo Mejía war der erste Deserteur der US-amerikanischen Armee, der nach seiner Kriegsdienstverweigerung in einem Interview die Gründe für seinen Gewissenskonflikt bekannt gab. Seine Geschichte erzählt der neue Dokumentarfilm Camilo – Der lange Weg zum Ungehorsam von Peter Lilienthal. Als kleiner Junge floh Camilo mit seiner Mutter vor den Kriegswirren aus Nicaragua in die USA. Dort studierte er mit einem Militärstipendium Psychologie und Spanisch und zog als US-Sergeant in den Irak. Nachdem er seine Haftstrafe abgesessen hatte, beendete er sein Studium, schrieb seine Erfahrungen in einer Autobiographie nieder und wurde zur schillernden Figur der Antikriegsbewegung. „Camilos Entscheidung steht treu zu der Aufstandsgeschichte seines Volkes“, fasst Lilienthal an einer Stelle des Films die Beweggründe der Hauptfigur zusammen. Camilo selbst sagt im Film, dass er die Gewalt aus seinem Leben noch immer nicht komplett abgeschüttelt habe, diese beherrsche ihn nach wie vor. „Auch wenn ich tausendmal vor Leuten gesagt habe, dass ich Pazifist und Kriegsdienstverweigerer bin, stelle ich mir selbst immer wieder die Frage, lehne ich Gewalt wirklich ab?“
Auch der zweite Protagonist des Films, der Mexikaner Fernando del Solar, ist auf traurige Weise mit dem Irakkrieg verbunden. Sein Sohn Jesús trat nur eine Woche nach Kriegsbeginn auf eine Landmine und starb. Jesús wurde mit jungen 13 Jahren in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana, wo er mit seinem Vater lebte, vom US-amerikanischen Militär rekrutiert. Nach jahrelangem Drängen des Jungen, der eine glorreiche und bessere Zukunft als in Mexiko vor sich sah, gab der Vater schließlich nach, verkaufte sein Geschäft und zog mit ihm in die USA. Nach dem Tod des Sohnes fuhr Fernando del Solar zunächst in den Irak, um die Umstände von Jesús‘ Tod zu erfahren, später dann durch die USA, um vorrangig an Schulen Jugendliche über die Gefahren und Nachteile eines Armeeeintritts aufzuklären. Damit begibt er sich, ebenso wie Camilo, auf eine läuternde Reise der Selbstkritik und stellt sich seiner Verantwortung als Vater.
Seine Nachforschungen finden im Film ihren traurigen Höhepunkt auf Jesús‘ Beerdigung: Unter Tränen erzählt Fernando, wie er den in eine Galauniform gekleideten Körper seines Sohnes auszog und den Betrug des US-Militärs entdeckte. Ihm war als Todesursache stets ein Kopfschuss mitgeteilt worden – als er den Sarg öffnet, sieht er jedoch zunächst das unversehrte Gesicht des Sohnes und anschließend den verstümmelten und verbrannten Körper. Er weiß nun mit Gewissheit, was er zuvor nicht hatte wahrhaben wollen: Jesús starb durch eine US-Mine und nicht durch einen feindlichen Schuss. Eine offizielle Stellungnahme hat er bis heute nicht erhalten.

„Ich stelle mir selbst immer wieder die Frage, lehne ich Gewalt wirklich ab?“

In den mit ruhig geführter Kamera gedrehten Film sind immer wieder Originalaufnahmen aus dem Irak eingestreut. Die wackeligen Bilder von schreienden US-Kommandeuren, die ihre Untergebenen und vor allem irakische Gefangene und Zivilisten demütigen und schikanieren, unterstreichen auf beeindruckende Weise die jeweiligen Aussagen der beiden Hauptfiguren, die die Politik der Regierung im Irak anprangern. Die gleichen kahlgeschorenen Männer malen in den USA den militärischen Drill und die Gefahren des Kriegseinsatzes mit schillernden Euphemismen bunt und versprechen den Jugendlichen neben einem guten Abschluss und Verdienst, einen „geilen Job mit dicken Wummen und Reisen in ferne Länder“. Alte Vietnam-Veteranen, die in Camouflage-Uniform gekleidet, Kaugummi schmatzend, zwischen Wahnsinn und Verherrlichung taumelnd, ihre Erinnerungen an vergangene Kriegstaten in die Kamera krakeelen, sind hier nur das letzte Glied in der Kette einer absurden Kriegsbegeisterung. Ein Jugendlicher aus der Anfangsszene bringt die allgegenwärtige Präsenz der Gewalt in der US-amerikanischen Gesellschaft in einer Diskussionsrunde, bei der ein Ex-Soldat die Anwesenden gerade von den Gefahren des Krieges zu überzeugen sucht, erschreckend auf den Punkt: „Sie gehen so oder so in den Krieg. Entweder töten sie sich hier auf der Straße oder eben im Irak. Da kann man es doch mal ausprobieren.“
Lilienthals Antikriegsfilm, der Anfang 2008 seine Weltpremiere feierte und ab dem 24. April in Deutschland im Kino zu sehen ist, klagt nicht nur die von der US-amerikanischen Armee begangenen Greueltaten im Irak an. Auch die widrigen Umstände der in den USA lebenden Latinos werden thematisiert. Deren ärmliche Lebensumstände sowohl in den USA als auch in den lateinamerikanischen Heimatländern würden ausgenutzt, um sie für die Kriegsmaschinerie des Landes zu gewinnen, so die Aussage des Films. Tatsächlich ist ein Großteil der US-amerikanischen Soldaten latein- oder afroamerikanischer Herkunft.
Der gelungene und übersichtliche Einstieg in den Film besteht aus zwei Erzählsträngen, in denen abwechselnd aus Camilos und Fernandos Leben berichtet wird. Oft reichen die Bilder und Erzählungen weit in die Vergangenheit zurück, um ein umfassendes Bild der beiden Charaktere sowie des toten Sohnes zu zeichnen. Auch wenn zuweilen in etwas kitschigen Szenen – beispielsweise als Fernando auf seiner Reise in den Irak eine zerbombte Schule besucht und die Kinder Wunschzettel für die Zukunft des Landes schreiben lässt – schafft es Lilienthal in diesem ersten Teil durch seine schlichte Beobachtung zu überzeugen.
Ab der Mitte des Films gibt es jedoch plötzlich viele gedankliche und szenische Sprünge. Neue Charaktere und Schauplätze werden eingeführt, die Thematik des Films auf einmal um die eine oder andere Ebene erweitert. Da ist zum Beispiel Edil Pérez, der als einer von 1.000 Fallschirmspringern begeistert in den Irak zieht. Mit breitem US-amerikanischen Akzent erzählt der noch fast kindlich wirkende junge Mann von seinem Kriegseinsatz. Die anfangs anklingenden leisen Zweifel verlieren sich schnell in hohlen Phrasen über die „Greuel der Iraker“. Mit wirklichen Gefühlen redet er nur über seinen neuen Hund, an dessen traurigem Gesicht er nicht habe vorbei gehen können.
So kommt der Regisseur in Camilo von einem Thema zum anderen: von den Kriegsverbrechen zum anti-militaristischen Kampf der beiden Hauptdarsteller; von Migration im Allgemeinen und an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenzen im Besonderen zum Sandinistischen Befreiungskampf in Nicaragua und den dortigen ärmlichen Lebensverhältnissen heute. Der Migrationsteil macht noch Sinn, da er das Schicksal vieler lateinamerikanischer SoldatInnen im US-amerikanischen Heer und die Hoffnung vieler Latinos auf ein besseres Leben beleuchtet und den nötigen Hintergrund für die Entscheidung liefert. Der letzte Teil des Films hat jedoch nur noch wenig mit den ursprünglichen zwei Geschichten zu tun – außer dass Camilo aus Nicaragua kommt. Der Film wirkt auf einmal unentschieden, dem Regisseur gelingt es nicht, die einzelnen Teile zu einem großen Ganzen zusammen zu fügen. Dennoch ist Camilo ein lohnender Film über perverse Spiralen der Gewalt, der die verheerenden Folgen der US-amerikanischen Invasionspolitik verurteilt.

Peter Lilienthal // Camilo – Der lange Weg zum Ungehorsam // 85 Min, Deutschland 2006 // Kinostart: 24. 04. 2008 // Bezug: www.filmwerkstatt.muenster.de

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