Ein Glas klaren Wassers
Das poetische Lebenswerk von José Gorostiza (1901-1971)
Was muß dieser Gorostiza für ein Skeptiker gewesen sein. Obwohl sein erstes Gedichtbändchen Canciones para cantar en las barcas (Lieder, in Booten zu singen) von 1925, in nur 200 Exemplaren gedruckt, begeisterte Aufnahme fand, ließ er eine Nachauflage nicht zu. Er verkündete sogar, da ihm seine Jugendgedichte mittelmäßig erschienen, gar nichts mehr schreiben zu wollen. Zum Glück ist er dabei nicht geblieben. Aber die Episode ist ein beredtes Zeugnis dafür, wie sehr Gorostiza mit seiner Materie gerungen haben muß, bevor sie, durchsichtig und einfach, so auf dem Blatt stand, wie sie heute zu lesen ist.
Jetzt liegt ein Großteil seiner Gedichte auch auf deutsch vor – in einer zweisprachigen Ausgabe des Aachener Rimbaud Verlags. In Muerte sin fin (1939; „Endloser Tod“), das seiner Länge und Komplexität wegen Gorostizas größtes Werk ist, behandelt er vor allem die uralte philosophisch-theologische Frage „Was ist der Mensch?“ Die zentrale Metapher ist ein Glas Wasser. Das Wasser, „das nichts aufweist außer dem leeren Gesicht“, ein „unvergänglicher Taumel“, wird vom Glas umgrenzt und eingeengt und nimmt so Gestalt an. Das gebändigte, gestillte Wasser wird zum Spiegel, in dem sich der Mensch erkennen kann.
Muerte sin fin ist zugleich ein Gedicht über die Erscheinungen der Welt, die er als „Bänder von Überraschungen“ beschreibt, als Ausflüsse oder Träume eines ewig ruhenden, schlafenden Kerns (daher der Titel). Gorostiza läßt allerdings die Welt nicht in einer siebentägigen Schöpfungsgeschichte entstehen, wie dies die Bibel vorgibt, sondern er läßt sie vergehen wie ein sich auflösendes Gespinst, bis sie wieder bei dem ist, den auch Gorostiza „Gott“ nennt. Diese Vergehensgeschichte – die ja doch eine Erschaffungsgeschichte ist, weil die Dinge mit Worten vergegenwärtigt werden, ans Licht gebracht –, sie wirkt wie eine Erlösung des Dichters: endlich mit hängendem Zügel durch die ganze Pracht und Schändlichkeit der Welt galoppieren zu können, nachdem er jahrelang bedenkenvoll Schritt vor Schritt gesetzt hat auf der Suche nach dem angemessenen Wort.
Diese Suche ist auf lustreiche Weise in der Gedichtsammlung Canciones para cantar en las barcas nachzusehen. Sie enthält die unter selbem Titel 1925 veröffentlichten Jugendgedichte sowie eine Reihe weiterer, verstreut publizierter. Aber dieses Buch ist beileibe nicht nur ein Studienbuch zum besseren Verständnis von Muerte sin fin. Schon als knapp Zwanzigjähriger schrieb Gorostiza hervorragende Verse, die es verdienen, als eigenständig wahrgenommen zu werden.
In ihnen arbeitet er an poetischem Tiefgang, statt nach wortgewaltiger Breite zu suchen. Ihn interessiert, die einfachen Wortbilder auszuloten und ihren inneren Reichtum vorzuzeigen. So etwa in „La orilla del mar“ (Das Ufer des Meeres): Hier steht das Ufer für den Ort der Berührung zwischen Sand und Wasser. In seiner Eigenschaft jedoch, genau genommen weder Sand noch Wasser zu sein, sondern just der Moment, an dem sich beide treffen, wird das Ufer zur Metapher für eine Begegnung. Das Wasser wie auch der Sand für sich sind einsame Orte: „Ich allein betrachte mich / als eine tote Sache; allein, verlassen / wie in einer Wüste.“ Denn: „Weder Wasser noch Sand / ist das Ufer des Meeres.“
Dieser als Refrain wiederkehrende Vers besitzt im Spanischen eine Musikalität, die ein besonders ausgeprägtes Gespür Gorostizas für sinnliche Metrik verrät: „No es agua ni arena la orilla del mar.“ Zugleich klingt mit dem Meer und seiner Begrenzung bereits die Idee vom Glas Wasser an, die er auch in anderen Gedichten nach vielen Seiten wendet.
José Gorostiza hat einen für lateinamerikanische Dichter typischen Berufsweg durchlaufen: nach einigen Jahren als Hochschullehrer für Literatur und Geschichte war er Diplomat, Funktionär im mexikanischen Außenministerium und in den sechziger Jahre sogar einmal Außenminister. Dem politischen Projekt der Institutionalisierten Revolution, der sich in den zwanziger Jahren viele Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle seiner Generation anschlossen, blieb er jedoch fern. Als Mitglied der Dichtergruppe „Los Contemporáneos“ sorgte er dafür, daß in ihrer gleichnamigen Zeitschrift (1928-1931) wichtige moderne Schriftsteller aus Europa und Lateinamerika zu Wort kamen. Ihn und seine Freunde interessierten Kunst und Literatur an sich weitaus mehr als deren Verwendbarkeit für die Lösung sozialer Probleme. Das schuf ihm in Mexiko scharfe Kritiker; die Anerkennung kam vor allem aus dem Ausland.
Daß ein längst verstorbener, mit seinem schmalen Werk unauffälliger Dichter aus Mexiko jetzt umfassend, in präziser Übersetzung und schlicht-schönem Gewand ediert, ja im Wortsinne heraus-gegeben wird, ist einem kleinen Verlag zu danken, der sich offensichtlich um Marktanteile nicht viel zu scheren braucht. Bleibt zu hoffen, daß er den Mut zu weiteren Projekten dieser Art hat.
José Gorostiza: Endloser Tod / Muerte sin fin. Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf. Rimbaud Verlag, Aachen 1995, 104 S., 35,- DM. (ca. 18 Euro)
José Gorostiza: Bootsgesänge / Canciones para cantar en las barcas. Aus dem Spanischen von Curt Meyer-Clason. Rimbaud Verlag Aachen 1999, 140 S., 38,- DM. (ca. 19 Euro)
KASTEN:
Máscara
Ya no me engaño, flor,
cuando apareces en la rama fruto.
¿Por qué me engañaría
si tú – para cambiar de cara –
cambiaras un día
de edad?
El rostro de mañana,
fruto de las doncellas
líneas de hoy,
ha de traer un hueco necesario
a tus ojos de siempre ¡eternos!
en tan justa medida que la máscara
sea sin embargo tu cara.
Maske
Ich täusche mich nicht mehr, Blüte,
wenn du auf dem Ast als Frucht erscheinst.
Warum sollte ich mich täuschen,
wenn du – um das Gesicht zu wechseln –
eines Tages
das Alter wechselst?
Das Gesicht von morgen,
Frucht der jungen Mädchen
Linien von heute,
muß deinen schon immer ewigen Augen
einen notwendigen Hohlraum bringen!
In so genauem Maß, daß die Maske
dennoch dein Gesicht sei.
Übersetzung: Curt Meyer-Clason, aus dem besprochenen Band Canciones para cantar en las barcas. Erstmals 1927 in der Revista de Revistas erschienen.