Ein Jahr nach Chiapas
Scheinbare Rückkehr zur Normalität
Der Amtsantritt des neugewählten Präsidenten Ernesto Zedillo am 1. Dezember 1994 war so unspektakulär wie selten in der Geschichte Mexikos. Er sollte ein Bild von Normalität zeichnen und den Eindruck erwecken, Mexiko sei zur Tagesordnung zurückgekehrt und der Konflikt in Chiapas sei auf ein beiläufiges und lösbares Problem reduziert worden. Zu dem Aufstand nahm Zedillo in seiner Antrittsrede nur ganz am Rande und lakonisch Stellung: Auf dem Verhandlungswege solle eine friedliche Lösung gefunden werden. Interessant war nur, daß Zedillo nicht bekanntgab, wer die Friedensverhandlungen mit der EZLN-Guerilla für die Regierung leiten wird. Denn der Nachfolger von Manuel Camacho Solis, Jorge Madrazo, hatte kurz vor dem 1.Dezember sein Amt niedergelegt. Was hat nichts zu sagen hat, weil es in Mexiko ein ungeschriebenes Gesetz gibt, nach dem alle in höheren Regierungspositionen sitzenden Politiker vor dem Amtsantritt eines neuen Präsidenten ihr Amt kündigen müssen.
Vor den Präsidentschaftswahlen am 21. August hatte es noch Hoffnungen auf eine tiefgreifende Veränderung der politischen Verhältnisse in Chiapas und dem restlichen Mexiko gegeben. Sie wurden durch den erneuten Sieg der PRI (49 Prozent der Stimmen) und das schlechte Abschneiden der linken Opposition PRD (16 Prozent) zunichte gemacht. Das Wahlergebnis und die Ermordungen des ursprünglichen Präsidentschaftskandidaten der PRI, Colosio, sowie des PRI-Generalsekretärs Massieu, die mehrfachen Mordanschläge auf Zedillo und die Zunahme der Repression gegen Oppositionelle schürten die Angst vor einem unkontrollierten Hochschaukeln von Gewalt zur Lösung von Konflikten im ganzen Land. Auch in linken, intellektuellen und oppositionellen Kreisen mehrt sich die Kritik an Marcos und der EZLN und es wird offen gefragt, inwieweit der Aufstand, beziehungsweise die Aufständischen, in Chiapas nicht mitverantwortlich sind für die Zunahme der Gewalt.
Eine Doppelmacht im Staat?
Bei dem Versuch, ein Jahr nach dem Aufstand in Chiapas Bilanz zu ziehen, erscheint das Bild von der Normalität, das die neue PRI-Regierung beim Amtsantritt abgeben wollte, trügerisch. Denn der Aufstand erscheint als das tiefgreifendste und einschneidendste Ereignis der letzten Regierungszeit und überschattet alle ökonomischen und politischen Modernisierungsprojekte von Ex-Präsident Carlos Salinas de Gortari zum Anschluß Mexikos an die “Erste Welt” (Freihandelszone mit den USA und Kanada, neoliberale Wirtschaftsreformen, Verfassungs- und Wahlrechtsänderungen). In ihrer bis zum 1.1.1994 unbekannten Verbindung von traditionellen indigenen Strukturen und postsozialistischem Diskurs fällt die Bewegung in Chiapas aus allen gängigen politischen Rastern. Die Verhandlungen zwischen Staat und EZLN, und das Fortbestehen der EZLN als “kriegführender Partei” in einem lokal begrenzten und kleinen Gebiet des nationalen Territoriums hat indirekt zu einer Tolerierung einer zweiten Macht im Staat geführt, was jeden Nationalstaat mit seinem Gewaltmonopol und seinem ausschließlichen Machtanspruch in den Grundfesten erschüttern muß.
Konflikte auf allen Ebenen
Die sozialen Konflikte und bewaffneten Auseinandersetzungen in Chiapas haben das politische System ins Wanken gebracht und der Gesellschaft und Politik einen Spiegel vorgehalten. Durch den Konflikt wurde deutlich, daß der sogenannte soziale Liberalismus von Salinas, der die Institutionalisierte Revolution ablösen sollte, die Mehrheit der MexikanerInnen ausschloß.
Seit dem Aufstand haben sich innerhalb der PRI die Konflikte zwischen den “PRInosauriern” und den Technokraten verschärft und zu einer bedrohenden Gewaltzunahme in den innerparteilichen Auseinandersetzungen geführt. Doch nicht nur in der PRI, sondern auch innerhalb der Linken – den sozialen Bewegungen und der PRD – hat Chiapas zu neuen Polarisierungen geführt. Auf der einen Seite hat die soziale Frage eine neue Aufwertung erfahren, auf der anderen Seite sind auch Differenzen über die Mittel des Kampfes für soziale Gerechtigkeit entstanden. Während die einen sich radikalisieren und den bewaffneten Kampf als das einzig noch bleibende Mittel propagieren, sind andere durch die Zunahme von Gewalt eingeschüchtert und warten ab. Von der Euphorie der über sechstausend Delegierten der CND (des Demokratischen Nationalkonvents), die sich Anfang August in der Selva Lacandona in Aguascalientes trafen und dem massiven öffentlichen Interesse ist nicht viel übriggeblieben. Das zeigt sich auch in den heftigen Positionskämpfen in den Versammlungen der CND. In der PRD, die mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Cárdenas vor den Wahlen Hoffnungsträgerin für ein baldiges Ende der PRI-Regierung war, sieht es nicht besser aus. Bis zu den Wahlen waren die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Partei weitgehend unter Kontrolle. Seit der Wahlniederlage und den offensichtlichen Wahlbetrügereien ist bei vielen PRD-Mitgliedern das Vertrauen in die Urnen erschüttert. Die Kompromisse, die die PRD während der Wahl eingegangen war, erscheinen im Nachhinein als unnütz, und das Setzen auf Wahlen für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft ist infrage gestellt. Diese Polarisierungen innerhalb der PRD gefährden nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch die Existenz der PRD als immerhin drittgrößter Partei des Landes.
Wer ist für das Klima von Gewalt verantwortlich?
Schließlich hat der bewaffnete Aufstand der EZLN im Zusammenhang mit den Attentaten auf Colosio und Massieu inzwischen auch das linke Lager der Intellektuellen gespalten. Auch wenn sie sich von Gewalt als Mittel der Politik distanzierten, hatten sie doch geschlossen hinter den Aufständischen gestanden. Heute mehren sich die Stimmen, die den bewaffneten Aufstand für das Klima von Gewalt, das sich im Land ausbreitet veranwortlich machen.. Chiapas hat die mexikanische Gesellschaft verändert, ohne daß sich in Chiapas selbst etwas grundlegend geändert hätte. Weiterhin ist keine friedliche Lösung des Konfliktes absehbar.
Kasten:
Tägliche Auseinandersetzung in Chiapas
Am 20. November 1994 gab es Demonstrationen, Kundgebungen, Straßenblockaden und Besetzungen von Bürgermeisterämtern in neun Regionen des Bundesstaates als Protest gegen den Wahlbetrug und die Einsetzung des PRI-Gouverneurs Eduardo Robledo Rincón. 20.000 Menschen waren an diesen Aktionen beteiligt. Dabei wurden sieben Personen verletzt, vier davon schwer durch Gummigeschosse. Zehn Personen verschwanden.
Sowohl in Comitán als auch in San Cristóbal, wo der Hauptplatz von DemonstrantInnen besetzt wurde, gab es Provokateure. Sie bewarfen die Polizisten mit Steinen, woraufhin diese Tränengas und später auch Schußwaffen einsetzten und dabei von den Steinewerfern unterstützt wurden.
Eine Gruppe von Geschäftsleuten aus San Cristobal, die sich als “coletos auténticos” bezeichnen und sich über extremen Rassismus gegenüber den Indígenas definieren, begann eine Hetzjagd auf DemonstrationsteilnehmerInnen durch das Zentrum der Stadt: DemonstratInnen wurden überwältigt und anschließend der Polizei übergeben.
Der Rat der Indígena-RepräsentantInnen der Region “Altos”, CRIACH, protestierte gegen das Vorgehen der Polizei im Vorort “La Hormiga” von San Cristobal. Auch dort war massiv Tränengas eingesetzt und ein fünfjähriges Mädchen schwer verletzt worden. Dem Polizeichef wurde vorgeworfen, seine Einheiten zunächst nicht gegen die Provokateure eingesetzt zu haben. Mit diesem Vorgehen habe er die Hetzjagd der “coletos auténticos” provoziert.
Am 8. Dezember, dem Tag des Amtsantritts von Robledo, demonstrierten 10.000 Campesinos auf dem Hauptplatz der Bundeshauptstadt Tuxtla Gutierrez. Die offizielle Zeremonie, an der auch der neue Präsident Ernesto Zedillo teilnahm, mußte deshalb in einem anderen Gebäude als dem Regierungspalast stattfinden.
Der Hauptplatz war von schwer bewaffneter Polizei und Militär umstellt. Die Campesinos ließen sich nicht provozieren und es kam nicht zu den befürchteten Zusammenstößen.
Die Campesinos begleiteten Amado Avendaño – den Gegenkandidaten der Zivilgesellschaft, der als Parteiloser auf der PRD-Liste angetreten war – nach San Cristóbal. Dort bildete dieser mit Unterstützung der EZLN eine Gegenregierung. Avendaño wurde aufgefordert, für die “befreiten Zonen”, zu denen weder das mexikanische Militär noch PRI-Funktionäre Zugang haben, Programme für eine zukünftige Politik zu entwickeln.
Die Situation wurde allgemein als “sehr angespannt, aber noch ruhig” bezeichnet. Viele Indígenas verließen ihre Dörfer aus Angst vor Angriffen durch das Militär.