Brasilien | Nummer 324 - Juni 2001

Ein Land im Halbdunkeln

Energiekrise in Brasilien: Regierung zwingt Bevölkerung zum Stromsparen

Misswirtschaft der Regierung und ausbleibende Regenfälle sind der Grund für die Energiekrise und die „dunklen Zeiten“, die dem Land nun bevorstehen. Im Süden Brasiliens steht bereits der Winter vor der Tür – und auch dort wird der Strom abgeschaltet werden.

Stefan Kunzmann

Plötzlich wurde es dunkel in den Straßen São Paulos. Genau zwei Wochen früher als erwartet erloschen die Lichter der 18-Millionen-Metropole. Die brasilianische Regierung hatte für den 1. Juni drastische Maßnahmen zum Stromsparen angekündigt, um der seit Wochen schwelenden Energiekrise Herr zu werden. Doch bereits am 17. Mai wurden 35 Prozent der Lichter in den Städten abgeschaltet.
„So stelle ich mir ein Land im Krieg vor“, sagt der Journalist Márcio Senne de Moraes. Die Regierung hat kurzerhand Fußballspiele und andere Veranstaltungen nach 18 Uhr verboten. Die BewohnerInnen von São Paulo waren die Ersten, die einen Vorgeschmack auf das bekamen, was noch bis Dezember andauern soll: Das Viertelfinalspiel um die Copa Brasil zwischen Corinthians São Paulo und Atlético Paranaense wurde kurzerhand von 20.30 auf 15 Uhr vorverlegt.
Bis zu vier Stunden pro Tag soll der Strom abgeschaltet werden. „Es macht keinen Sinn mehr, ins Restaurant oder ins Kino zu gehen, wenn der Strom abgeschaltet wird“, meint Rui Cesar Melo. Der Kommandant der Militärpolizei von São Paulo ist sich sicher: „Die Bevölkerung muss ihre Gewohnheiten ändern. Sie soll sich daran gewöhnen, abends früher nach Hause zu gehen. Das gemeinsame Bier mit Freunden in der Kneipe fällt flach.“
KritikerInnen bezeichnen die Energiesparmaßnahmen schon als verfassungswidrig und warnen vor einer Flut von juristischen Prozessen, die auf die Regierung von Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso zukommen kann. Über das Risiko, dass eine große Zahl derer, die durch die Stromkürzungen geschädigt werden, vor Gericht gehen, meint Fabio Konder Comparato, Juraprofessor an der Universität von São Paulo: „Man kann dem Kunden nicht das Licht abschalten, wenn er seine Rechnungen pünktlich bezahlt.“

In der Dunkelheit vereint

Von allen Seiten hagelt es Proteste: Gewerkschaften und Verbraucherschützer laufen bereits Sturm gegen die staatlich verordneten Stromausfälle und drohen mit Streiks oder gerichtlichen Schritten. Unterstützung bekommen sie dabei von ungewohnter Seite: Der Industriellenverband von São Paulo (FIESP) warnt vor den negativen Folgen der Energiesparmaßnahmen für die Wirtschaft. Der FIESP-Vorsitzende Horacio Lafer Piva erwartet einen Stopp der ausländischen Investitionen in Brasilien.
WirtschaftsexpertInnen prognostizieren, dass die Industrieproduktion zurückgehen und die wirtschaftliche Wachstumsrate für das Jahr 2001 geringer ausfallen wird als erwartet. Dabei sollen nach ihrer Schätzung bis zu 860.000 Arbeitsplätze verloren gehen. Luiz Gonzaga Belluzzo, Professor an der Universität von Campinas, rechnet damit, dass das industrielle Wachstum statt der von der Regierung veranschlagten vier Prozent in diesem Jahr nur 2,1 Prozent betragen wird.
Hart treffen wird es vor allem die Telekommunikationsbranche. So ist es kein Wunder, dass ein Internet-Provider in Taubate, einer Stadt 130 Kilometer östlich von São Paulo, als Erster gegen die Energiesparmaßnahmen der Regierung Klage einreichte.
Privathaushalte sind ebenso betroffen wie Kinos und Theater, Beleuchtungen öffentlicher Gebäude und Denkmäler.
KritikerInnen der staatlich verordneten Stromausfälle befürchten, dass mit der Verdunkelung die bereits unter einer hohen Kriminalitätsrate leidende Metropole noch tiefer in Gewalt und Chaos versinken wird. Deshalb hat die Polizei von São Paulo vorsorglich ihre Patrouillen verstärkt, während die VerkehrspolizistInnen in ständiger Bereitschaft sind, um bei ausgefallenen Ampeln den jetzt schon kaum zu bändigenden Straßenverkehr in Griff zu bekommen. Im Notfall sollen Sperrstunden eingeführt werden.
Doch das ist erst der Anfang. Von den Sparmaßnahmen sind auch öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser, Schulen, Einkaufszentren, Supermärkte und die U-Bahn betroffen. Staatspräsident Cardoso wandte sich im Fernsehen an die Bevölkerung und bat um Verständnis. Seine Empfehlung: weniger duschen, das Licht im Haus abschalten, nicht bügeln und keine Tiefkühlkost kaufen, da diese verderben könne.

Auch der Regierung fehlen Leuchten

Fachleute geben der Regierung die Schuld an der Energiekrise. Sie habe Hinweise, die schon vor zwei Jahren auf eine Wasserknappheit hindeuteten, schlichtweg ignoriert – in einem Land, in dem mehr als zwei Drittel der Energie aus Wasserkraftwerken stammt. Selbst Cardoso nannte die Krise „unverzeihlich“, entschuldigt sich jedoch unter anderem damit, dass ihn seine Berater nicht rechtzeitig informiert und die Meteorologen das Ausbleiben der Regenfälle nicht vorausgesagt hätten.
Unterdessen gestand Wirtschaftsminister Pedro Malan, dass die Regierung die Energiekrise nicht vorausgesehen hatte: „Es mangelte an Kommunikation und Koordination zwischen unterschiedlichen Teilen der Regierung.“
Der Staatspräsident gerät in Erklärungsnotstand. Die Energiekrise hat seine Regierung bereits härter getroffen als die zahlreichen Korruptionsskandale. Politische BeobachterInnen sehen kaum noch eine Chance für einen Kandidaten oder eine Kandidatin aus dem jetzigen Regierungslager bei der 2002 stattfindenden Präsidentschaftswahl. Cardoso selbst kann nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten.
Für erneute Verwirrung sorgte die Ankündigung, dass jenen Haushalten eine Erhöhung der Stromgebühren um 50 bis 200 Prozent aufgebrummt und für drei bis sechs Tage der Strom abgeschaltet werden soll, in denen nicht mindestens 20 Prozent des Verbrauchs eingespart würde.
Wirtschaftswissenschaftler Rogerio Rocha hält dies für nicht durchführbar: „Es bedürfte einem ganzen Bataillon von HelferInnen, die das kontrollierten.“ Auch Superintendent José Alves von der Nationalen Elektrizitätsgesellschaft wies darauf hin, dass die Stromversorger weder das Personal noch die technische Kapazität besäßen, um die Stromversorgung aller, die das vorgeschriebene Limit überschreiten, zu unterbrechen. Deshalb wähle man die Haushalte nach dem Zufallsprinzip aus. Allerdings bemerkte Alves nicht, dass ein solches Vorgehen ein demokratisches Grundprinzip verletzen würde: die Gleichheit vor dem Gesetz.
Eines steht fest: Die Lebensgewohnheiten der BrasilianerInnen vor allem in den großen Städten werden sich ändern. Dazu gehört die ständige Gefahr, ohne Strom dazustehen. In den vergangenen beiden Wochen deckten sich viele mit Strom sparenden Halogenlampen ein. Derweil steigt der Unmut in der Bevölkerung. Denn während die Mehrheit der BrasilianerInnen den Gürtel enger schnallen muss, werden tagtäglich neue Fälle von Korruption in den politischen Führungsetagen aufgedeckt.
Kritisch für die Regierung wird es, wenn es im südbrasilianischen Winter erst richtig kühl wird. „Denn es ist schwierig“, so Gilberto Jannuzzi, Experte für Energieplanung an der Universität von Campinas, „einen Menschen dazu zu bringen, im Winter ein kaltes Bad zu nehmen.“

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren