Indigene | Nummer 553/554 - Juli/August 2020 | Umwelt & Klima | Venezuela

“EIN OFFENES GEHEIMNIS”

Ein Gespräch mit Luis Betancourt Montenegro über illegalen Bergbau und die Rechte von Indigenen in Venezuela

Der Bundesstaat Amazonas im Süden Venezuelas grenzt im Westen an Kolumbien und im Süden an Brasilien. Auf dem Gebiet des Bundesstaates leben 21 indigene Völker, der Großteil davon in der Umgebung der Hauptstadt Puerto Ayacucho. Er beinhaltet außerdem einen Großteil des venezolanischen Amazonas-Regenwalds und den Ursprung des Orinoco, dem wichtigsten Fluss des Landes. Die LN sprachen mit Luis Bentancourt Montenegro über die Rechte der indigenen Bevölkerung und den illegalen Goldbergbau im Amazonas.

Interview: John Mark Shorack, Übersetzung: Ulrike Geier

Luis Betancourt Montenegro
forscht im Bereich sozio-ökologische Rechtslage des Amazonasgebietes und ist Aktivist für die Rechte der indigenen Bevölkerung. Er untersucht die gesundheitliche, sozio-kulturelle und Bildungssituation der Indigenen im venezolanischen Amazonasgebiet.
Seit 2019 koordiniert er die Amazonas-Forschungsgruppe (Grupo de Investigaciones sobre la Amazonía), die Forschung zu den Rechten der indigenen Bevölkerung und den Umweltrechten im Süden Venezuelas durchführt.
(Foto: privat)


Wie ist die aktuelle Situation in Puerto Ayacucho und im Süden Venezuelas?
Puerto Ayacucho hat eine sehr schwache Wirtschaft, die hauptsächlich auf illegalem Benzinverkauf, Bergbau und Schmuggel beruht. Früher, Ende der 1990er Jahre, war das anders, da gab es eine starke Tourismusindustrie mit Restaurants und einer Service-Infrastruktur. Durch die wirtschaftliche und politische Krise im Land hat sich das aber alles verändert. In der Umgebung von Puerto Ayacucho gibt es außerdem viele indigene Gemeinschaften, z.B. die Piaroa, Jivi und Kurripako.

Wie ist die Ernährungslage der indigenen Gemeinschaften?
Ob sie sich selbst versorgen können, hängt von der Region ab, in der sie leben. In der Nähe von Puerto Ayacucho zum Beispiel ist das Land sehr fruchtbar, im Südosten gibt es viel landwirtschaftliche Produktion und die dort lebenden indigenen Gemeinschaften können alles zu ihrer Selbstversorgung anbauen. Die Yanomami aber, die mit ca. 16.000 Personen die größte indigene Gruppe des venezolanischen Amazonasgebietes bilden, besiedeln Gebiete in der Kommune Alto Orinoco und dort sind die Böden eher sauer und dadurch nicht besonders fruchtbar. Aussaat oder Ernte ist hier fast unmöglich. Sie sind daher von wirtschaftlicher Unterstützung und den sehr unregelmäßigen Lieferungen der Regierung abhängig.

Bevor es solche Unterstützung durch die Nationalregierung gab, haben sie doch auch dort gelebt.
Ja, das Gebiet Alto Orinoco ist schon immer ihr Lebensraum. Und aufgrund der Unfruchtbarkeit der Böden sind sie nur teilweise sesshaft. Das heißt, dass sie oft weiter ziehen und sich in Gegenden niederlassen, die etwas fruchtbarer sind. Wenn dann nach einiger Zeit die Böden eines Gebiets ausgelaugt sind, ziehen sie wieder weiter in Gegenden mit besseren Bedingungen. So bewegen sie sich durch den gesamten Raum des Alto Orinoco.

Wie ist die Beziehung zwischen der Regierung und den indigenen Gemeinschaften?
Vor 1999 wurden die indigenen Gruppen Venezuelas weitgehend unsichtbar gemacht. Als es 1999 den revolutionären Verfassungsprozess gab, wurden die Indigenen zu Verbündeten von Hugo Chávez und der neuen Verfassung, an deren Ausarbeitung sie auch beteiligt waren. So sehr, dass das Kapitel VIII ausschließlich den Rechten der indigenen Bevölkerung gewidmet ist. Es gibt also eine sehr wichtige Anerkennung der indigenen Gruppen Venezuelas auf verfassungsmäßiger und rechtlicher Ebene. Ihnen wird das Recht auf eigene Bildung, Selbstbestimmung, auf ihr Territorium und interkulturelle Gesundheitsversorgung (die Berücksichtigung der Kultur der Patient*innen im Behandlungsprozess unter Einbeziehung ihres spezifischen medizinischen Wissens, Anm. d. Red.) garantiert. Diese Rechte wurden bis zum Jahr 2010 auch umgesetzt, danach begann es aber zu bröckeln, das heißt, alle Programme, die in den ersten zehn Jahren entwickelt worden waren, wurden immer mehr vernachlässigt. Vor allem die Gesundheits­pro­gramme, die ein sehr wichtiger Teil waren, weil sie auch die entferntesten Ecken des venezolanischen Amazonasgebiets erreichten, um die indigene Bevölkerung zu versorgen, gingen zurück. Ein Gesundheitsprogramm, der sogenannte Plan de Salud Yanomami, wurde mittlerweile leider eingestellt, weil es keine staatliche Unterstützung mehr gibt.

Mit Ihrer Amazonas-Forschungsgruppe haben Sie den illegalen Bergbau angeprangert. Wie ist die aktuelle Situation im Bundesstaat Amazonas?
Es gibt den legalen Bergbau, der durch ein Gesetz oder einen Erlass geregelt ist und vom Staat oder demjenigen, dem er die Konzession erteilt, verwaltet wird. Es gibt aber auch das Dekret 269 aus dem Jahr 1989, welches jegliche Bergbauaktivitäten im Bundesstaat Amazonas verbietet. Das bedeutet, dass alle diese Aktivitäten dort illegal sind. Das heißt nicht, dass es keinen Bergbau gibt, sondern lediglich, dass er illegal betrieben wird.

Wer ist daran beteiligt und was wird abgebaut?
Soweit bekannt, handelt es sich hauptsächlich um Gold und die Akteure, die es dort abbauen, sind einzelne bewaffnete Gruppen. In den meisten Fällen kommen sie aus Kolumbien, in anderen aus Brasilien und nur in ganz wenigen Fällen aus Venezuela selbst. Es ist ein offenes Geheimnis. Alle wissen, was sich dort abspielt, aber die Regierung hat durch ihre Nachlässigkeit zugelassen, dass sich diese Gruppen dort etablieren. Sie hat es versäumt, sich ihnen entgegenzustellen.

Gibt es eine Verbindung zwischen der Regierung oder den Polizei- und Militärbehörden und den illegalen Gruppen, die im Amazonasgebiet Bergbau betreiben?
Objektiv gesehen kann ich Ihnen nicht im Detail sagen, worin die Verbindung besteht, aber wenn ich mir ansehe, wie der venezolanische Staat über alle seine Institutionen hinweg eine nachlässige, nahezu einvernehmliche Haltung gegenüber den illegalen Bergbaugruppen einnimmt, ist es offensichtlich, dass es irgendeine Art der Komplizenschaft geben muss. Ich würde sagen, dass es das vor 1999 nicht gab. Die Justiz ging noch Anfang der 2000er Jahre sehr entschieden gegen die illegalen Gruppen vor. Es wurden Dekrete gegen ihre Präsenz erlassen und das Militär bekämpfte sie, aber seit etwa 2010 wurde nichts mehr gegen sie unternommen. Vielmehr glaube ich, dass ihnen der Zugang zu den Gebieten noch erleichtert wurde.

Indigene arbeiten auch im illegalen Bergbau…
Von der schweren politischen und wirtschaftlichen Krise, die das Land durchlebt, sind die Indigenen mit am stärksten betroffen. Das Fehlen von Treibstoff im gesamten venezolanischen Amazonasgebiet birgt große Probleme für sie, weil sie ihre Produkte nicht mehr nach Puerto Ayacucho bringen können, um sie dort zu verkaufen, so wie sie es immer getan haben. Daher sahen sich die meisten von ihnen in Ermangelung dieses wirtschaftlichen Austausches leider dazu gezwungen, im Bergbau zu arbeiten, um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu bestreiten.

Welche Auswirkungen hat der Bergbau auf die Gemeinden im Amazonasgebiet?
Die Folgen sind sehr ernst. Am meisten leidet die indigene Bevölkerung, denn durch das Eindringen des Bergbaus und der bewaffneten Gruppen in ihr Territorium werden ihre sozio-ökonomischen und politischen Strukturen beeinträchtigt. Es hat sich eine Abhängigkeit entwickelt, denn die Lebensgrundlage wird jetzt nicht mehr durch die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse erwirtschaftet, sondern durch den Abbau von Gold und dem Handel damit bzw. mit allem, was mit dem Bergbau zu tun hat.

Gibt es Indigene, die aus ihren Gebieten vertrieben werden?
Natürlich. Es gab Fälle, in denen ganze Gemeinschaften ihr Gebiet verlassen mussten auf der Flucht vor der Gewalt, die von den bewaffneten Gruppen ausgeht. Es ist aber nicht nur die Gewalt, sondern es gibt auch gesundheitliche Gefahren, denn die Bergleute kommen aus städtischen Gebieten und bringen eine Reihe von Krankheitserregern mit, die für die Indigenen neu sind und damit eine Gesundheitsgefahr für sie darstellen.

Gab es Widerstand in der Region?
Ja, einige indigene Organisationen im Amazonasgebiet haben Erklärungen abgegeben, in denen sie die Präsenz der bewaffneten Gruppen in ihren Gebieten verurteilen und die Beendigung des Bergbaus fordern. Es geht ihnen darum, ihre Territorien und heiligen Stätten zu erhalten und zu schützen. Genau in diesen Gebieten agieren diese Gruppen. Bislang haben die Organisationen noch keine Antwort vom venezolanischen Staat erhalten. Hier zeigt sich die Komplizenschaft zwischen dem Staat und diesen illegalen Gruppen.

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