Argentinien | Nummer 477 - März 2014

Ein Ort der Bewegung

Vor zehn Jahren öffnete die Regierung Kirchner in Argentinien das größte geheime Haftzentrum der Militärdiktatur als Gedenkstätte

Die Mechanikerschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires erlangte traurigen Ruhm als bedeutendstes geheimes Haftzentrum während der Militärdiktatur von 1976-1983. Vor zehn Jahren wurde das Gelände öffentlich an die Stadt zurückgegeben. Heute ist die ehemalige ESMA zur Gedenkstätte für die Opfer des Staatsterrorismus und einem Ort der Erinnerung und Verteidigung der Menschenrechte geworden.

Matías Cerezo, Valeria Durán, Übersetzung: Sebastian Henning

Am 24. März 2004 jährte sich der letzte Militärputsch in Argentinien zum 28. Mal. Zwei Ereignisse markierten diesen Tag: In der Nationalen Militärschule im Westen des Großraums Buenos Aires hängte der damalige Armeechef Roberto Bendini auf Anordnung von Präsident Néstor Kirchner die Porträts zweier Massenmörder ab: Jorge Rafael Videla und Reynaldo Benito Bignone. Beide waren während der letzten Militärdiktatur (1976-1983) zu verschiedenen Zeiten Leiter der Streitkräfte gewesen. Zeitgleich wurde vor der Mechanikerschule der Marine (ESMA), in der sich eines der wichtigsten geheimen Haftzentren des Landes befunden hatte, eine öffentliche Gedenkfeier abgehalten. In Anwesenheit von Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und vor Tausenden von Zuschauer_innen begingen Néstor Kirchner und der damalige Bürgermeister von Buenos Aires, Aníbal Ibarra, die Rückgabe des Grundstücks an die Stadt. Ziel war es, einen Ort der Erinnerung und der Förderung und Verteidigung der Menschenrechte zu errichten. Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Argentiniens war im Kirchnerismus endlich zu einem wichtigen Eckpfeiler der staatlichen Politik geworden.
Jener 24. März vor zehn Jahren stellt einen Schlüsselmoment in der Geschichte des ESMA-Geländes dar. Der Kampf um die Rückgabe des Grundstücks hatte bereits einige Jahre zuvor begonnen. Anfang 1998 hatte der damalige Präsident Carlos Menem ein Dekret unterzeichnet, durch das die Verlegung der ESMA in eine Marinebasis im Süden der Provinz Buenos Aires verfügt wurde. Das historische Gebäude der ESMA sollte abgerissen werden, um einem Denkmal der „nationalen Einheit“ Platz zu machen. Daraufhin setzten sich Menschenrechtsorganisationen gegen den Abriss und für die Errichtung eines Gedenkortes ein. Eine Verfassungsbeschwerde, die zwei Angehörige ehemaliger Gefangener des geheimen Zentrums eingereicht hatten, führte schließlich zum Erfolg. Im Juli desselben Jahres erklärte der Richter Ernesto Marinelli den entsprechenden Artikel des Dekrets für verfassungswidrig. Er berief sich darauf, dass die ESMA zum nationalen kulturellen Erbe gehöre und daher für die zukünftigen Generationen zu erhalten sei. Das Urteil wurde im Jahr 2001 durch den Obersten Gerichtshof unterzeichnet und der frühere Beschluss des Präsidenten verworfen. Einige Jahre später wurde das Offizierskasino, in dem sich das Haftzentrum befunden hatte, zum Nationalen Historischen Denkmal erklärt; das Grundstück und die übrigen Gebäude erlangten den Status eines Nationalen Historischen Orts.
Die Öffnung der Pforten der ESMA im März 2004 für Tausende von Besucher_innen war ein ergreifender Moment für ehemalige Inhaftierte, Widerstandskämpfer_innen, Angehörige und große Teile der Gesellschaft. Und es war ebenso ein politischer Akt, der den Stellenwert der ESMA als Symbol des Kampfes um die Erinnerung besiegelte. Die dunkle Seite der argentinischen Vergangenheit wurde nun beleuchtet. Orte, die bedeutende Schauplätze des repressiven Regimes gewesen waren, wurden zurückerobert, umgedeutet und zu Beweismitteln der Justiz.
Die ESMA war nicht irgendeines der ungefähr 500 geheimen Haftzentren, die in ganz Argentinien existiert hatten. Die Bedeutung der Anlage ergibt sich nicht nur aus der großen Zahl der etwa 5.000 Verhafteten, die hier eingekerkert waren. Von der ESMA gingen auch die „Todesflüge“ aus, auf denen betäubte Gefangene aus Flugzeugen über dem Río de la Plata oder dem Atlantik abgeworfen wurden. Zudem fungierte der Ort als geheime Entbindungsstation, in der den inhaftierten schwangeren Frauen nach der Geburt die Kinder geraubt und an regimetreue Familien zur Adoption weitergegeben wurden. Die meisten der damaligen Inhaftierten sind bis heute „verschwunden“. Es gibt nur einige Überlebende, die von den Menschenrechtsverletzungen berichten können.
Die Eröffnung der ESMA als Gedenkstätte stellte einen Wendepunkt im langen Kampf der Menschenrechtsorganisationen für die Aufarbeitung der Vergangenheit dar. Und zugleich den Beginn einer intensiven Debatte um die konkrete Ausgestaltung des Ortes. Welches Konzept sollte das geplante Museum vertreten? Welchen Namen tragen? Wie viel von dem 17 Hektar großen Gelände und den über dreißig Gebäuden das Museum einnehmen? Wer sollte wann und auf welche Art am Entscheidungsprozess teilhaben dürfen? Die Diskussion dieser Fragen, so komplex wie notwendig, dauert bis heute an.
Die Aufteilung der Räume löste gleich zu Beginn eine der heftigsten Debatten aus. Die Vorstellung, den Ort der Erinnerung mit der Marine zu teilen, war für viele der beteiligten Organisationen nicht akzeptabel. Ab März 2004 wurde das Gelände von einer Kommission der argentinischen Regierung und der Stadt Buenos Aires verwaltet, die ein öffentliches Vorschlagverfahren für die Einrichtung des Museums einleitete. Zu den wichtigsten Auseinandersetzungen zählte die Frage, welcher historische Zeitraum im Museum Platz finden sollte. Nach der ersten Übergabe des Grundstücks an die Stadt im März 2004 dauerte es drei Jahre, bis die Marine es vollständig verließ. Seither liegt die Verwaltung des Grundstücks in den Händen der nationalen öffentlichen Körperschaft „Ort der Erinnerung und der Förderung der Menschenrechte“, die sich aus Repräsentant_innen der argentinischen Regierung, der Stadt Buenos Aires und der Menschenrechtsorganisationen zusammensetzt. Jede von ihnen ist durch eine Person im Vorstand der Einrichtung vertreten.
Im Lauf der vergangenen zehn Jahre füllte sich das Gelände nach und nach. Heute haben hier zahlreiche Menschenrechtsorganisationen ihren Sitz, darunter die verschiedenen Organisationen der Mütter der Plaza de Mayo sowie die Großmütter der Plaza de Mayo und H.I.J.O.S., die Organisation der Kinder der gewaltsam Verschwundenen. Auch andere zivilgesellschaftliche und staatliche Institutionen für Menschenrechte und Erinnerungskultur finden ihren Platz. Im Jahr 2013 nahmen an den vielfältigen Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsveranstaltungen auf dem Gelände 150.000 Menschen teil. Auch die Anzahl der Besuche am historischen Ort, dem ehemaligen Offizierskasino, das schon eröffnet wurde, als die Marine das Gelände noch nicht vollständig verlassen hatte, hat stetig zugenommen. Im Jahr 2006 kamen 1.300 Besucher_innen, 2009 knapp 8.000 und 2013 über 24.000. Derzeit wird von der Verwaltung ein neues Ausstellungskonzept erarbeitet, das in den kommenden Monaten umgesetzt werden soll.
Der zehnjährige Prozess der Umwidmung der ESMA in einen Ort der Erinnerung und Menschenrechte war von zahlreichen Spannungen geprägt. Judith Said, Leiterin des Archivo Nacional de la Memoria (Nationales Archiv für das Gedenken) erzählt von der schwierigen Frage, wie der Horror dargestellt, wie von dem Leiden der Opfer, die in dem Gefängnis des Offizierskasinos Qualen und menschlicher Demütigung ausgeliefert waren, erzählt werden kann. „Wie können wir als Zeitzeugen diesen Ort schaffen? Wir, die wir als Großmütter, Mütter, Kinder, Angehörige und Aktivisten ebenso wie die gesamte Gesellschaft unter den Folgen des Staatsterrorismus und unter den langen Jahren der Straflosigkeit zu leiden hatten?“ Wie auch an anderen symbolischen Orten der Brutalität der Macht bestehe die pädagogische Aufgabe der ESMA im Aufzeigen und in der Anklage des Staatsterrorismus sowie in der Verteidigung des Rechtsstaats, fügt Said hinzu. Aus all diesen Gründen sei die Herstellung des Gedenkens kein friedlicher Prozess: „Es gibt einen Kampf um die Erinnerung, da es noch einen anderen Diskurs gibt – den jener Kreise, die den Putsch unterstützt haben“.
Für Eduardo Jozami, den Leiter des Kulturzentrums für die Erinnerung Haroldo Conti, hat das ESMA-Gelände nach einem langsamen Prozess der Schaffung neuer Einrichtungen heute sehr viel an Dynamik gewonnen, ersichtlich nicht nur an dem deutlichen Anstieg der Besucher_innenzahlen, sondern auch an der Entstehung vielfältiger Initiativen. „Für uns ist der plurale Dialog zwischen Kultur und Erinnerung eine produktive Grundlage für die Schaffung eines ästhetisch-politischen Konsenses“, so Jozami. Dieser mache es möglich, weitergehende Interventionen auf dem Gelände anzugehen. Auch Judith Said glaubt, dass die Gebäude der ESMA nun einen Eindruck vermitteln, was durch den Staatsterror ausgelöst wurde: „Die Opfer werden nun gewürdigt, ebenso wie ihre Kämpfe und deren Gründe. Und zwar durch verschiedene kulturelle Mittel, die uns in unserer Identität stützen“.
Trotz der in den vergangenen zehn Jahren erreichten großen Fortschritte bleibt es für Jazomi eine Herausforderung, „den Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit aus den Händen des entschädigenden Staates hin zu einem darüber hinaus auch symbolischen Ort zu überführen.“ Nach einem Jahrzehnt und weit davon entfernt, ein Ort der verdinglichten Erinnerungen zu sein, bleibt die frühere ESMA also ein Ort der andauernden Bewegung und Umwidmung.

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