Nummer 272 - Februar 1997 | Peru

Ein Präsident unter Zugzwang

Alberto Fujimori muß Flexibilität zeigen, wenn die Geiselnahme von Lima unblutig ausgehen soll

Seit über einem Monat sitzen Geiselnehmer und Geiseln in der Residenz des japani­schen Botschafters in Lima und warten. Ebenso warten die Eliteeinheiten der perua­nischen Streitkräfte, die immer mal wieder demonstrativ vor die Residenz ziehen müssen, warten die noch verbliebenen Fernsehteams, die inzwischen von den Behör­den von den Dächern mit dem besten Blick vertrieben worden sind. Alle warten vor allem darauf, daß Präsident Alberto Fujimori sich politisch bewegt. Alle Optionen, wie die Geiselkrise zuende gehen könnte, haben den Nachteil, daß der Präsident da­bei keine gute Figur machen wird. Aber Fujimori wird sich damit abfinden müssen, wie auch immer die Geiselnahme ausgeht, daß er politisch schwer beschädigt worden ist.

Ulrich Goedeking

Was ist passiert? Ein Kom­mando einer Guerillaorganisa­tion, deren Untergang von Präsi­dent Fujimori längst als Erfolg verbucht worden ist, landet den perfekten Coup: Der japanische Kaiser hat Geburtstag, die di­plomatische und politische High Society Limas findet sich zum Empfang des japanischen Bot­schafters in dessen Villa ein. Keine Telenovela hätte es phan­tasievoller ausmalen können: In Frack und Abendkleid, mit dem Sektglas in der Hand sehen sich die hohen Gäste auf einmal kaum zwanzig schwer bewaff­neten Guerilleros und Guerilleras gegenüber. Sogar Mutter, Bruder und Schwester des Präsidenten sind anfangs unter den Geiseln, bis das MRTA-Kommando als erste Maßnahme alle Frauen und Alten aus der Residenz entläßt.
Eine solche Aktion beinhaltet ein anderes Maß an Peinlichkeit für den peruanischen Präsidenten als jeder Bombenanschlag auf eine staatliche Institution. Fuji­mori, dessen größter Pluspunkt in der Öffentlichkeit immer der Sieg über den Terrorismus war, wird vorgeführt. Ausgerechnet die Residenz des Botschafters aus demjenigen Land wird zum Ziel, das für die politischen Pläne des bekanntermaßen selbst japanischstämmigen Präsidenten strategische Bedeutung als Ka­pitalgeber hat. Gleich mehrere, für die MRTA ideale Faktoren kommen da zusammen: Die Gei­seln sind teilweise international und/oder prominent, Medienin­teresse ist also garantiert; die Geiseln sind so hochrangig, daß tatsächlich eine Hemmschwelle für eine gewaltsame Stürmung bestehen muß und vor allem: Das Gelände ist exterritorial, Fujimori darf ohne Zustimmung Japans gar nicht stürmen lassen.

Und es gibt sie doch

Peinlich ist für Fujimori dazu, wer der Gegner ist. Die MRTA spielte in der Antiterrorpolitik Fujimoris immer eine unterge­ordnete Rolle. Der Hauptfeind war Sendero Luminoso, der “Leuchtende Pfad”. Die Ausein­andersetzung mit Sendero kul­minierte 1993 in einer großen In­szenierung: Sendero-“Präsident” Abimael Guzmán schrieb aus dem Gefängnis seine berühmten Briefe an Fujimori, in denen er das Ende des bewaffneten Kampfes anbot. Fujimori schloß de facto ein Abkommen mit ihm, von Präsident zu Präsident. Als dagegen MRTA-Chef Víctor Polay nach seinem Ausbruch wieder verhaftet wurde, präsen­tierte Fujimori dieses zwar selbstverständlich als großen Er­folg, nie aber erreichten Polay und die MRTA, von Fujimori als starker Gegner so anerkannt zu werden, wie das mit Guzmán und Sendero Luminoso geschah. Fujimori und Guzmán kämpften in der gleichen Gewichtsklasse, die erfolgreiche Botschaftsbeset­zung der MRTA aber läßt Fuji­mori wie einen Schwergewichts­boxer erscheinen, dem ein wen­diges Leichtgewicht gerade eine schallende Ohrfeige verpaßt hat.
Für einen Präsidenten wie Fujimori, der sich in der öffentli­chen Meinung ganz auf das Image vom starken Präsidenten stützt, muß ein Vorfall wie die­ser ein Desaster sein. Umso wichtiger für Fujimori, ob er we­nigstens beim Ausgang der Gei­selnahme das Gesicht wahren kann. Er hat letztlich die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder verärgert er wichtige internationale Partner, oder er zeigt innenpolitisch fatale Schwäche.
Es darf angenommen werden, daß Fujimori, hätte er die Ent­scheidung selbst in der Hand, wohl eine Stürmung versucht hätte. Entebbe und Mogadishu stünden Pate. Eigene oder aus­ländische Spezialeinheiten kön­n­ten dies zweifellos schaffen, nicht aber ohne Tote unter den Geiseln. Vor allem aber sperrt sich offensichtlich Japan gegen diese Option. Gegen den erklär­ten japanischen Willen das Ge­lände der Residenz zu stürmen, hieße, internationale Regeln zu verletzen und Japan auf eine Art und Weise zu brüskieren, die zu­künftige Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik wohl unmög­lich machen würde. Kein Wun­der, daß Fujimori angesichts der ökonomischen Bedeutung Japans bisher auf diese Option verzich­tet.
Wenn keine gewaltsame “Lö­sung” angesteuert werden soll, bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder spielt der Präsident auf Zeit und versucht, die Besetzer zu zermürben, oder es werden Verhandlungen tatsächlich mit der Absicht geführt, zu einem Ergebnis zu kommen. Beide Op­tionen schließen sich nicht aus, im Moment fünf Wochen nach der Besetzung, scheinen jeden­falls von Seiten der Regierung beide Elemente im Spiel zu sein. Die Frage ist nur, wo die Priori­täten des Präsidenten liegen. Bisher ließ er nur andeuten, daß freies Geleit für die Geiselneh­mer und deren Abreise in ein Exilland eine Option sein könn­ten. Für das MRTA-Kommando ist das eine sicherlich inakzep­table Position, ihnen geht es schließlich um das Schicksal der inhaftierten MRTA-Mitkämpf­er­In­nen.
Dazu stellt sich die Frage, welche Folgen es hätte, würden zumindest einige der MRTA-Ge­fangenen freigelassen und mit den Geiselnehmern ins Exil ge­flogen. Abgesehen vom prinzi­piellen Problem, keine Nachah­mungen provozieren zu wollen, wäre das politische Risiko aus der Sicht der peruanischen Re­gierung überraschend gering. Mit großer Wahrscheinlichkeit wür­den die Freigelassenen im Exil­land bleiben und vielleicht ein­mal später, nach dem Ende der Ära Fujimori, die Gelegenheit nutzen, eine legale politische Kraft in Peru aufzubauen. Denn vieles spricht dafür, daß die Gei­selnehmer sich der Tatsache be­wußt sind, daß eine bewaffnete politische Option wie die MRTA in der peruanischen Gesellschaft keinen Rückhalt und gegenwär­tig auch keine Zukunftsaussich­ten hat.
Das MRTA-Kommando will mit der Geiselnahme wohl wirk­lich “nur” die Inhaftierten oder wenigstens einige von ihnen freipressen. Die Forderungen der Geiselnehmer sind nur an dem einzigen Punkt der Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen kon­kret. Alles, was an politischen Forderungen von der Presse ver­breitet wurde, ist von unverbind­licher Allgemeinheit. Nicht ein­mal der Sturz der Regierung bzw. des Präsidenten taucht auf der Liste auf.
Diese Beschränkung läßt sich historisch erklären. Die MRTA hat seit ihrer Gründung die Er­fahrung machen müssen, daß sie in Peru zu einer politischen Nebenrolle verurteilt ist. Die ideologisch durchtrainierte ultra-maoistische Konkurrenz von Sendero Luminoso sorgte mit ih­rem kompromißlosen Kampf da­für, daß sich die MRTA nicht nur gegenüber der Verfolgung durch staatliche Behörden, son­dern auch im revolutionären Spektrum verteidigen mußte. In ihrer besten Zeit verfügte die MRTA über nennenswerten Ein­fluß in einigen Regionen im Osten Perus am Übergang der Anden zum amazonischen Regenwald, besonders im nordöstlichen De­partement San Martín. Dazu kam eine gewisse Basis in der Haupt­stadt Lima. Dabei blieben sie allerdings immer eine Minder­heit, obwohl sie doch für sich in Anspruch nahmen, Interessen “des Volkes” zu vertreten.
Sendero Luminoso hatte es einfacher, mit fehlender Unter­stützung der Massen umzugehen. Durch ideologische Radikalität ließ es sich gut von der Realität abstrahieren. Die Senderisten glaubten sich im Besitz der ein­zig seligmachenden historischen Wahrheit. Wenn nicht die Mehr­heit des Volkes mit ihnen kämpfte, war das kein Problem der Ideologie, sondern eines der richtigen Erziehung – oder besser gesagt: Indoktrinierung – der Massen, die durch Gewalt zu ih­rem “Glück” gezwungen werden sollten.

Guerilla ohne Zukunft?

Die MRTA dagegen, orien­tiert an den revolutionären Er­fahrungen in Kuba und Mittel­amerika, war aus ihrem Ver­ständnis von Volksbewegung und Revolution darauf angewie­sen, die Massen wirklich zu ge­winnen. Damit scheiterte die MRTA auf der ganzen Linie. Peru in den 80er und 90er Jahren war und ist nicht ein Staat in Familienbesitz wie das somozi­stische Nicaragua. Dort wurde die Revolution möglich, weil von Bauern bis Bürgertum in fast allen Sektoren der Gesellschaft Konsens herrschte, daß Somoza weg muß. In Peru konnte die MRTA sogar auf der politischen Linken nur eine kleine Minder­heit für sich einnehmen, ganz zu schweigen von anderen gesell­schaftlichen Kräften. Als die MRTA Mitte der 80er Jahre auf der Bildfläche erschien, war die linke politische Welt in Peru dicht bevölkert von Parteien, Ba­sisgruppen, selbstorganisierten Strukturen, die gar nicht daran dachten, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Genauer gesagt, die MRTA entstand aus diesem Spektrum als Ausdruck einer Minderheit, die nicht an die Handlungsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie glaubte und eine bewaffnete Op­tion dagegen setzen wollte. Wäh­renddessen befand sich die Ver­einigte Linke, “Izquierda Unida” auf dem Höhepunkt ihres Ein­flusses und sammelte einen großen Teil des linken Spek­trums in ihrem Umfeld. Vorherr­schend war in dieser Zeit der Kampf um Mehrheiten bei Wahlen, die Suche nach Eini­gung der Linken in einem Wahl­bündnis, en vogue war Selbstor­ganisation auf lokaler Ebene – nicht aber bewaffneter Kampf.
Das Wahlbündnis Izquierda Unida sollte nach 1985 schnell seinen Einfluß verlieren. Nach 1990 ereilte es das Schicksal al­ler traditionellen politischen Parteien: der Absturz in die Be­deutungslosigkeit gegenüber dem übermächtigen Präsidenten Fujimori. Für die MRTA brachte dies allerdings keinen politischen Raumgewinn mit sich. Im Ge­genteil: Je schneller sich die Gewaltspirale im Lande zwi­schen Militär und Polizei, Sen­dero Luminoso und der MRTA drehte, umso mehr wuchs in großen Teilen der Bevölkerung der Wunsch nach Frieden und – angesichts des Vormarsches der Senderisten – auch die Bereit­schaft, die Regierung beim “Kampf gegen die Subversion” zu unterstützen.
Präsident Fujimori hätte sich des Problems MRTA also schon lange elegant entledigen können, entweder über Gespräche mit den Inhaftierten in Richtung auf Amnestie und Wiedereingliede­rung ins politische Leben – das mittelamerikanische Modell – oder durch eine frühzeitige Exil­regelung für die MRTA-Spitzen. Fujimori hat es nicht für nötig gehalten. Rache an den “Terror­isten” war ihm wichtiger als der politische Ausgleich, nun hat er die Quittung bekommen. Es bleibt nur zu hoffen, daß Fu­jimori bei der letztlichen Ent­scheidung über das weitere Vor­gehen in der Geiselkrise seine persönlichen politischen Interes­sen und Eitelkeiten zurückstellt und pragmatisch handelt. Oder sollte er doch darauf hoffen, nach langer Zermürbung die Be­setzer entweder zur Aufgabe zu bewegen oder mit minimalen Verlusten die Botschaft stürmen lassen zu können? Ein hochris­kantes Spiel. So, wie es zu Re­daktionsschluß dieser Ausgabe aus­sieht, könnte nur ein Ver­hand­lungskompromiß zwischen Re­gierung und Geiselnehmern für ein unblutiges Ende der Be­set­zung sorgen.

KASTEN

Die MRTA – wer ist das und was will sie?

Eine sozialistische Gesellschaft, die unabhän­gig von ausländischem Kapital ist, das will die Mo­vi­miento Revolucionario Tupac Amaru (Re­vo­lu­tionäre Bewegung Tupac Amaru, MRTA). 1984 von Victor Polay Campos mitge­gründet, ide­ologisch in der Tradition von Kuba und Mit­tel­amerika stehend, kämpft die MRTA seit über ei­nem Jahrzehnt gewaltsam gegen den pe­ru­a­ni­schen Staat. Ihr Kampf soll in eine “…kontinentale Re­volution münden, die als Teil der Weltrevolu­tion…” verstanden wird.
Mit ihrem Namen beruft sich die Bewegung auf den mestizischen Inka-Nachkommen Tupac Ama­ru II, eigentlich José Gabriel Condorcanqui (*1743, +1781), einer der wichtigsten Führer der Indígena-Aufstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hundets.
Die Mitglieder der MRTA stammen aus der marxistischen Linken aus Abspaltungen verschie­dener Parteien. Hinsichtlich der militärischen Strategie geht die MRTA davon aus, daß “der Krieg von den Massen gemacht wird, … der revo­lu­tionäre Krieg und der Aufstand verflechten sich zu einem einzigen Prozeß”. Deswegen will die MRTA die Selbstverteidigung des Volkes und die Entstehung von bewaffneten Milizen vorantrei­ben. Die Massen sollen über die Unterstützung der Ge­werkschaften und durch Gründungen von Nach­barschaftsinitiativen erreicht werden.
Die “Blütezeit” der MRTA war gegen Ende der 80er Jahre, vor allem allem im Nordosten Pe­rus: Im November und Dezember 1988 wurden ver­schiedene Dörfer, hauptsächlich im Departe­ment San Martín, eingenommen. Zur Strategie der MRTA gehört es, daß auf gewaltsame Aktio­nen, wie die Einnahme von Dörfern, friedliche Kund­gebungen folgen, in denen die Bevölkerung über Vorgehen und Absichten der Rebellen in­formiert wird.
Die MRTA operierte sowohl auf dem Land wie in der Stadt. So wurde in Lima am 22. No­vember 1988 die Präfektur von Lima mit Rake­tenwerfern attackiert, Luxusrestaurants wurden bombardiert, nachdem kurz zuvor, zusammen mit streikenden Gewerkschaftern, ein Anschlag auf das Büro der Nationalen Minengesellschaft statt­gefunden hatte.
Das Jahr 1989 begann schlecht für die MRTA-Revolutionäre. Am 3.Februar wurde ihr Anführer Victor Polay Campos festgenommen, und zwei Monate später geriet eine Gruppe der MRTA in einen Hinterhalt des Militärs. Es gab 45 Tote auf Seiten der Rebellen. Kurz darauf fiel Ex-Verteidi­gungsminister General Albujar auf offe­ner Straße einem MRTA-Anschlag zum Opfer, außerdem ent­führte die MRTA wirtschaftlich oder politisch hochstehende Persönlichkeiten. Diese Aktionen wurden von Anschlägen auf US-ame­rikanische Erdölfirmen begleitet.
Das durch gelungenen Entführungen zur Ver­fü­gung stehende Geld diente zur Ausrüstung der Gue­rilla, ebenso fanden aber auch immer wieder Ver­teilungen von Lebensmitteln in den Armen­vier­tel Limas statt.
Am 9. Juli 1990 floh Victor Polay Campos zu­sam­men mit anderen Häftlingen durch einen 300 m langen, von außen gegrabenen Tunnel aus dem Hoch­sicherheitsgefängnis von Lima; einer der spek­takulärsten Erfolge der MRTA in den 90er Jah­ren.
Während des Wahlkampfes um die Präsident­schaft 1990 verübte die MRTA unter anderem einen Anschlag auf Mario Vargas Llosa und seine Familie, den diese jedoch unbeschadet überstan­den.
Nachdem Fujimori die Wahlen von 1990 ge­wonnen hatte, verlangte die MRTA auf ihrem 3. Treffen des Zentralkomitees die Vereinigung al­ler progressiven Kräfte gegen eine Regierung, die “… nur die Interessen der großen Monopole und die des Imperialismus” vertritt. Sendero Lumi­noso hingegen bezeichnete die MRTA als kon­ter­re­volu­tionär, als zuwenig radikal, so wie alle Or­ga­nisa­tionen, die sich nicht Sendero unter­ordnen woll­ten.
Fujimori löste 1992 das Parlament auf, in dem die Opposition die Mehrheit hatte, setzte die Ver­fassung außer Kraft und räumte dem Militär mehr Freiraum ein. Unter dieser Anti-Terror-Politik nahmen die Anschläge seitens der MRTA 1993 bis 1995 stark ab, zudem wurde 1992 der Anfüh­rer der MRTA Victor Polay Campos wieder fest­ge­nom­men.
Polay Campos wurde zu lebenslanger Haft ver­urteilt. Nestor Cerpa Cartolini, der letzte noch in Freiheit befindliche Führer der MRTA, über­nimmt das Kommando. Er ist gegenwärtig der Anführer der Rebellen, die die Residenz des ja­panischen Botschafters besetzt halten.
Kathleen Newill

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