Ein Präsident unter Zugzwang
Alberto Fujimori muß Flexibilität zeigen, wenn die Geiselnahme von Lima unblutig ausgehen soll
Was ist passiert? Ein Kommando einer Guerillaorganisation, deren Untergang von Präsident Fujimori längst als Erfolg verbucht worden ist, landet den perfekten Coup: Der japanische Kaiser hat Geburtstag, die diplomatische und politische High Society Limas findet sich zum Empfang des japanischen Botschafters in dessen Villa ein. Keine Telenovela hätte es phantasievoller ausmalen können: In Frack und Abendkleid, mit dem Sektglas in der Hand sehen sich die hohen Gäste auf einmal kaum zwanzig schwer bewaffneten Guerilleros und Guerilleras gegenüber. Sogar Mutter, Bruder und Schwester des Präsidenten sind anfangs unter den Geiseln, bis das MRTA-Kommando als erste Maßnahme alle Frauen und Alten aus der Residenz entläßt.
Eine solche Aktion beinhaltet ein anderes Maß an Peinlichkeit für den peruanischen Präsidenten als jeder Bombenanschlag auf eine staatliche Institution. Fujimori, dessen größter Pluspunkt in der Öffentlichkeit immer der Sieg über den Terrorismus war, wird vorgeführt. Ausgerechnet die Residenz des Botschafters aus demjenigen Land wird zum Ziel, das für die politischen Pläne des bekanntermaßen selbst japanischstämmigen Präsidenten strategische Bedeutung als Kapitalgeber hat. Gleich mehrere, für die MRTA ideale Faktoren kommen da zusammen: Die Geiseln sind teilweise international und/oder prominent, Medieninteresse ist also garantiert; die Geiseln sind so hochrangig, daß tatsächlich eine Hemmschwelle für eine gewaltsame Stürmung bestehen muß und vor allem: Das Gelände ist exterritorial, Fujimori darf ohne Zustimmung Japans gar nicht stürmen lassen.
Und es gibt sie doch
Peinlich ist für Fujimori dazu, wer der Gegner ist. Die MRTA spielte in der Antiterrorpolitik Fujimoris immer eine untergeordnete Rolle. Der Hauptfeind war Sendero Luminoso, der “Leuchtende Pfad”. Die Auseinandersetzung mit Sendero kulminierte 1993 in einer großen Inszenierung: Sendero-“Präsident” Abimael Guzmán schrieb aus dem Gefängnis seine berühmten Briefe an Fujimori, in denen er das Ende des bewaffneten Kampfes anbot. Fujimori schloß de facto ein Abkommen mit ihm, von Präsident zu Präsident. Als dagegen MRTA-Chef Víctor Polay nach seinem Ausbruch wieder verhaftet wurde, präsentierte Fujimori dieses zwar selbstverständlich als großen Erfolg, nie aber erreichten Polay und die MRTA, von Fujimori als starker Gegner so anerkannt zu werden, wie das mit Guzmán und Sendero Luminoso geschah. Fujimori und Guzmán kämpften in der gleichen Gewichtsklasse, die erfolgreiche Botschaftsbesetzung der MRTA aber läßt Fujimori wie einen Schwergewichtsboxer erscheinen, dem ein wendiges Leichtgewicht gerade eine schallende Ohrfeige verpaßt hat.
Für einen Präsidenten wie Fujimori, der sich in der öffentlichen Meinung ganz auf das Image vom starken Präsidenten stützt, muß ein Vorfall wie dieser ein Desaster sein. Umso wichtiger für Fujimori, ob er wenigstens beim Ausgang der Geiselnahme das Gesicht wahren kann. Er hat letztlich die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder verärgert er wichtige internationale Partner, oder er zeigt innenpolitisch fatale Schwäche.
Es darf angenommen werden, daß Fujimori, hätte er die Entscheidung selbst in der Hand, wohl eine Stürmung versucht hätte. Entebbe und Mogadishu stünden Pate. Eigene oder ausländische Spezialeinheiten könnten dies zweifellos schaffen, nicht aber ohne Tote unter den Geiseln. Vor allem aber sperrt sich offensichtlich Japan gegen diese Option. Gegen den erklärten japanischen Willen das Gelände der Residenz zu stürmen, hieße, internationale Regeln zu verletzen und Japan auf eine Art und Weise zu brüskieren, die zukünftige Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik wohl unmöglich machen würde. Kein Wunder, daß Fujimori angesichts der ökonomischen Bedeutung Japans bisher auf diese Option verzichtet.
Wenn keine gewaltsame “Lösung” angesteuert werden soll, bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder spielt der Präsident auf Zeit und versucht, die Besetzer zu zermürben, oder es werden Verhandlungen tatsächlich mit der Absicht geführt, zu einem Ergebnis zu kommen. Beide Optionen schließen sich nicht aus, im Moment fünf Wochen nach der Besetzung, scheinen jedenfalls von Seiten der Regierung beide Elemente im Spiel zu sein. Die Frage ist nur, wo die Prioritäten des Präsidenten liegen. Bisher ließ er nur andeuten, daß freies Geleit für die Geiselnehmer und deren Abreise in ein Exilland eine Option sein könnten. Für das MRTA-Kommando ist das eine sicherlich inakzeptable Position, ihnen geht es schließlich um das Schicksal der inhaftierten MRTA-MitkämpferInnen.
Dazu stellt sich die Frage, welche Folgen es hätte, würden zumindest einige der MRTA-Gefangenen freigelassen und mit den Geiselnehmern ins Exil geflogen. Abgesehen vom prinzipiellen Problem, keine Nachahmungen provozieren zu wollen, wäre das politische Risiko aus der Sicht der peruanischen Regierung überraschend gering. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden die Freigelassenen im Exilland bleiben und vielleicht einmal später, nach dem Ende der Ära Fujimori, die Gelegenheit nutzen, eine legale politische Kraft in Peru aufzubauen. Denn vieles spricht dafür, daß die Geiselnehmer sich der Tatsache bewußt sind, daß eine bewaffnete politische Option wie die MRTA in der peruanischen Gesellschaft keinen Rückhalt und gegenwärtig auch keine Zukunftsaussichten hat.
Das MRTA-Kommando will mit der Geiselnahme wohl wirklich “nur” die Inhaftierten oder wenigstens einige von ihnen freipressen. Die Forderungen der Geiselnehmer sind nur an dem einzigen Punkt der Freilassung ihrer Gesinnungsgenossen konkret. Alles, was an politischen Forderungen von der Presse verbreitet wurde, ist von unverbindlicher Allgemeinheit. Nicht einmal der Sturz der Regierung bzw. des Präsidenten taucht auf der Liste auf.
Diese Beschränkung läßt sich historisch erklären. Die MRTA hat seit ihrer Gründung die Erfahrung machen müssen, daß sie in Peru zu einer politischen Nebenrolle verurteilt ist. Die ideologisch durchtrainierte ultra-maoistische Konkurrenz von Sendero Luminoso sorgte mit ihrem kompromißlosen Kampf dafür, daß sich die MRTA nicht nur gegenüber der Verfolgung durch staatliche Behörden, sondern auch im revolutionären Spektrum verteidigen mußte. In ihrer besten Zeit verfügte die MRTA über nennenswerten Einfluß in einigen Regionen im Osten Perus am Übergang der Anden zum amazonischen Regenwald, besonders im nordöstlichen Departement San Martín. Dazu kam eine gewisse Basis in der Hauptstadt Lima. Dabei blieben sie allerdings immer eine Minderheit, obwohl sie doch für sich in Anspruch nahmen, Interessen “des Volkes” zu vertreten.
Sendero Luminoso hatte es einfacher, mit fehlender Unterstützung der Massen umzugehen. Durch ideologische Radikalität ließ es sich gut von der Realität abstrahieren. Die Senderisten glaubten sich im Besitz der einzig seligmachenden historischen Wahrheit. Wenn nicht die Mehrheit des Volkes mit ihnen kämpfte, war das kein Problem der Ideologie, sondern eines der richtigen Erziehung – oder besser gesagt: Indoktrinierung – der Massen, die durch Gewalt zu ihrem “Glück” gezwungen werden sollten.
Guerilla ohne Zukunft?
Die MRTA dagegen, orientiert an den revolutionären Erfahrungen in Kuba und Mittelamerika, war aus ihrem Verständnis von Volksbewegung und Revolution darauf angewiesen, die Massen wirklich zu gewinnen. Damit scheiterte die MRTA auf der ganzen Linie. Peru in den 80er und 90er Jahren war und ist nicht ein Staat in Familienbesitz wie das somozistische Nicaragua. Dort wurde die Revolution möglich, weil von Bauern bis Bürgertum in fast allen Sektoren der Gesellschaft Konsens herrschte, daß Somoza weg muß. In Peru konnte die MRTA sogar auf der politischen Linken nur eine kleine Minderheit für sich einnehmen, ganz zu schweigen von anderen gesellschaftlichen Kräften. Als die MRTA Mitte der 80er Jahre auf der Bildfläche erschien, war die linke politische Welt in Peru dicht bevölkert von Parteien, Basisgruppen, selbstorganisierten Strukturen, die gar nicht daran dachten, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Genauer gesagt, die MRTA entstand aus diesem Spektrum als Ausdruck einer Minderheit, die nicht an die Handlungsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie glaubte und eine bewaffnete Option dagegen setzen wollte. Währenddessen befand sich die Vereinigte Linke, “Izquierda Unida” auf dem Höhepunkt ihres Einflusses und sammelte einen großen Teil des linken Spektrums in ihrem Umfeld. Vorherrschend war in dieser Zeit der Kampf um Mehrheiten bei Wahlen, die Suche nach Einigung der Linken in einem Wahlbündnis, en vogue war Selbstorganisation auf lokaler Ebene – nicht aber bewaffneter Kampf.
Das Wahlbündnis Izquierda Unida sollte nach 1985 schnell seinen Einfluß verlieren. Nach 1990 ereilte es das Schicksal aller traditionellen politischen Parteien: der Absturz in die Bedeutungslosigkeit gegenüber dem übermächtigen Präsidenten Fujimori. Für die MRTA brachte dies allerdings keinen politischen Raumgewinn mit sich. Im Gegenteil: Je schneller sich die Gewaltspirale im Lande zwischen Militär und Polizei, Sendero Luminoso und der MRTA drehte, umso mehr wuchs in großen Teilen der Bevölkerung der Wunsch nach Frieden und – angesichts des Vormarsches der Senderisten – auch die Bereitschaft, die Regierung beim “Kampf gegen die Subversion” zu unterstützen.
Präsident Fujimori hätte sich des Problems MRTA also schon lange elegant entledigen können, entweder über Gespräche mit den Inhaftierten in Richtung auf Amnestie und Wiedereingliederung ins politische Leben – das mittelamerikanische Modell – oder durch eine frühzeitige Exilregelung für die MRTA-Spitzen. Fujimori hat es nicht für nötig gehalten. Rache an den “Terroristen” war ihm wichtiger als der politische Ausgleich, nun hat er die Quittung bekommen. Es bleibt nur zu hoffen, daß Fujimori bei der letztlichen Entscheidung über das weitere Vorgehen in der Geiselkrise seine persönlichen politischen Interessen und Eitelkeiten zurückstellt und pragmatisch handelt. Oder sollte er doch darauf hoffen, nach langer Zermürbung die Besetzer entweder zur Aufgabe zu bewegen oder mit minimalen Verlusten die Botschaft stürmen lassen zu können? Ein hochriskantes Spiel. So, wie es zu Redaktionsschluß dieser Ausgabe aussieht, könnte nur ein Verhandlungskompromiß zwischen Regierung und Geiselnehmern für ein unblutiges Ende der Besetzung sorgen.
KASTEN
Die MRTA – wer ist das und was will sie?
Eine sozialistische Gesellschaft, die unabhängig von ausländischem Kapital ist, das will die Movimiento Revolucionario Tupac Amaru (Revolutionäre Bewegung Tupac Amaru, MRTA). 1984 von Victor Polay Campos mitgegründet, ideologisch in der Tradition von Kuba und Mittelamerika stehend, kämpft die MRTA seit über einem Jahrzehnt gewaltsam gegen den peruanischen Staat. Ihr Kampf soll in eine “…kontinentale Revolution münden, die als Teil der Weltrevolution…” verstanden wird.
Mit ihrem Namen beruft sich die Bewegung auf den mestizischen Inka-Nachkommen Tupac Amaru II, eigentlich José Gabriel Condorcanqui (*1743, +1781), einer der wichtigsten Führer der Indígena-Aufstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundets.
Die Mitglieder der MRTA stammen aus der marxistischen Linken aus Abspaltungen verschiedener Parteien. Hinsichtlich der militärischen Strategie geht die MRTA davon aus, daß “der Krieg von den Massen gemacht wird, … der revolutionäre Krieg und der Aufstand verflechten sich zu einem einzigen Prozeß”. Deswegen will die MRTA die Selbstverteidigung des Volkes und die Entstehung von bewaffneten Milizen vorantreiben. Die Massen sollen über die Unterstützung der Gewerkschaften und durch Gründungen von Nachbarschaftsinitiativen erreicht werden.
Die “Blütezeit” der MRTA war gegen Ende der 80er Jahre, vor allem allem im Nordosten Perus: Im November und Dezember 1988 wurden verschiedene Dörfer, hauptsächlich im Departement San Martín, eingenommen. Zur Strategie der MRTA gehört es, daß auf gewaltsame Aktionen, wie die Einnahme von Dörfern, friedliche Kundgebungen folgen, in denen die Bevölkerung über Vorgehen und Absichten der Rebellen informiert wird.
Die MRTA operierte sowohl auf dem Land wie in der Stadt. So wurde in Lima am 22. November 1988 die Präfektur von Lima mit Raketenwerfern attackiert, Luxusrestaurants wurden bombardiert, nachdem kurz zuvor, zusammen mit streikenden Gewerkschaftern, ein Anschlag auf das Büro der Nationalen Minengesellschaft stattgefunden hatte.
Das Jahr 1989 begann schlecht für die MRTA-Revolutionäre. Am 3.Februar wurde ihr Anführer Victor Polay Campos festgenommen, und zwei Monate später geriet eine Gruppe der MRTA in einen Hinterhalt des Militärs. Es gab 45 Tote auf Seiten der Rebellen. Kurz darauf fiel Ex-Verteidigungsminister General Albujar auf offener Straße einem MRTA-Anschlag zum Opfer, außerdem entführte die MRTA wirtschaftlich oder politisch hochstehende Persönlichkeiten. Diese Aktionen wurden von Anschlägen auf US-amerikanische Erdölfirmen begleitet.
Das durch gelungenen Entführungen zur Verfügung stehende Geld diente zur Ausrüstung der Guerilla, ebenso fanden aber auch immer wieder Verteilungen von Lebensmitteln in den Armenviertel Limas statt.
Am 9. Juli 1990 floh Victor Polay Campos zusammen mit anderen Häftlingen durch einen 300 m langen, von außen gegrabenen Tunnel aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Lima; einer der spektakulärsten Erfolge der MRTA in den 90er Jahren.
Während des Wahlkampfes um die Präsidentschaft 1990 verübte die MRTA unter anderem einen Anschlag auf Mario Vargas Llosa und seine Familie, den diese jedoch unbeschadet überstanden.
Nachdem Fujimori die Wahlen von 1990 gewonnen hatte, verlangte die MRTA auf ihrem 3. Treffen des Zentralkomitees die Vereinigung aller progressiven Kräfte gegen eine Regierung, die “… nur die Interessen der großen Monopole und die des Imperialismus” vertritt. Sendero Luminoso hingegen bezeichnete die MRTA als konterrevolutionär, als zuwenig radikal, so wie alle Organisationen, die sich nicht Sendero unterordnen wollten.
Fujimori löste 1992 das Parlament auf, in dem die Opposition die Mehrheit hatte, setzte die Verfassung außer Kraft und räumte dem Militär mehr Freiraum ein. Unter dieser Anti-Terror-Politik nahmen die Anschläge seitens der MRTA 1993 bis 1995 stark ab, zudem wurde 1992 der Anführer der MRTA Victor Polay Campos wieder festgenommen.
Polay Campos wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Nestor Cerpa Cartolini, der letzte noch in Freiheit befindliche Führer der MRTA, übernimmt das Kommando. Er ist gegenwärtig der Anführer der Rebellen, die die Residenz des japanischen Botschafters besetzt halten.
Kathleen Newill