Literatur | Nummer 480 - Juni 2014

Ein Rembrandt in Kuba

In seinem neuen Roman Ketzer thematisiert Leonardo Padura das Streben nach individueller Freiheit

Mit Ketzer ist dieses Jahr der mittlerweile achte Band um den kubanischen Ermittler Mario Conde erschienen. Doch das neue Buch von Leonardo Padura ist durchaus mehr als ein weiterer Krimi um den eigenwilligen Ex-Polizisten, der sich als Antiquar durchs Leben schlägt. Für das große Thema Freiheit spannt der Autor einen Bogen vom Amsterdam des 17. Jahrhunderts bis ins Havanna der Gegenwart.

Tobias Lambert

Zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs versucht der Überseedampfer MS St. Louis 1939 in den Hafen von Havanna einzulaufen. An Bord befinden sich 937 aus Europa geflüchtete Juden und Jüdinnen, darunter der Arzt Jesaja Kaminsky, seine Frau Esther Kellerstein und deren Tochter Judith. Doch das Schiff darf nicht anlegen. Die Kaminskys hoffen bis zuletzt, dass sie das mitgebrachte Christus-Porträt von Rembrandt retten wird, das sich seit Jahrhunderten in Familienbesitz befindet. Doch vergebens, das Gemälde wechselt zwar den Besitzer, doch die Kaminskys werden von einem korrupten Polizisten betrogen und zusammen mit den anderen Passagier_innen zurück ins Verderben geschickt. Am Hafen wartet Jesayas Sohn Daniel mit seinem Onkel Joseph vergeblich auf seine Familie.
Im Jahr 2007 wird besagtes Rembrandt-Bild auf einer Auktion in London angeboten. Daniels Sohn, der Maler Elias Kaminsky, reist von seinem Wohnort Miami nach Havanna. Dort will er den Weg des Gemäldes rekonstruieren und herausfinden, warum sein Vater im Jahr 1958 schlagartig Kuba verlassen hat. Elias vermutet, dass Daniel in jenem Jahr einen Mord begangen hat. In Havanna wendet er sich vertrauensvoll an Mario Conde, den Ex-Polizisten, der sich mittlerweile mäßig erfolgreich als Antiquar durchschlägt. Er erzählt ihm die Geschichte der aschkenasischen Familie Kaminsky und Conde macht sich an die Arbeit.
Ketzer ist der achte Conde-Roman des kubanischen Schriftstellers Leonardo Padura. Mit den Kriminalgeschichten fand der frühere Journalist, der nach wie vor in Havanna lebt, in den wirtschaftlich schwierigen 1990er Jahren eine passende Form, um die Entwicklungen in der kubanischen Gesellschaft und Politik kritisch darzustellen. Inner- und außerhalb Kubas sorgte Padura zudem 2011 mit Der Mann, der Hunde liebte, einer genialen Doppelbiografie von Leo Trotzki und seinem Mörder Ramón Mercader für Aufsehen. Nachdem der letzte Conde-Fall Der Schwanz der Schlange eher einer etwas aufgeplusterten Kurzgeschichte glich, meldet sich der Ex-Polizist mit seinem bisher umfangreichsten Fall nun fulminant zurück.
Ketzer besteht aus drei Strängen, die jeder für sich einen kleinen Roman darstellen. Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte, in denen Padura historische Fakten mit Fiktion vermischt. Für sein neues Buch hat der Autor wie gewohnt akribisch recherchiert.
Das Buch Daniel handelt von Elias‘ Suche nach dem Rembrandt und der Wahrheit über seinen Vater. Mit Rückblenden in die 1930er und 1950er Jahre widmet sich Padura der jüdischen Geschichte in Kuba. Dreh- und Angelpunkt von Condes Recherchen für Elias ist das Jahr 1958. Wer auch immer den korrupten Ramón Mejias getötet hat, der Mord hat direkt mit der MS St. Louis und dem verschwundenen Rembrandt-Gemälde zu tun.
Doch eigentlich beginnt die Geschichte bereits im Jahr 1642 im Amsterdam. Im Kapitel Das Buch Elias erzählt Padura von der Entstehung des Christus-Bildes, für das Rembrandts Schüler, der sephardische Jude Elias Ambrosius, trotz des Götzenverbots im Judentum Porträt steht. Entgegen aller Widerstände ist er bei dem Meister in Lehre gegangen, der sich seinerseits von den künstlerischen Zwängen seiner Zeit befreien will. Von der jüdischen Gemeinde verschmäht, muss Elias Ambrosius den Niederlanden den Rücken kehren. Das Christus-Bild nimmt er als Geschenk von Rembrandt mit, bis es schließlich in den Besitz der Familie Kaminsky übergeht, die es erst Jahrhunderte später bei dem missglückten Bestechungsversuch im Hafen Havannas verliert.
Im dritten Kapitel Das Buch Judith begibt sich Padura in das Havanna des Jahres 2008 und lässt erneut Mario Conde ermitteln. Bei den Recherchen für Elias Kaminsky hatte dieser dessen entfernte Verwandte Yadine kennengelernt, eine jugendliche Emo. Ein Jahr später bittet sie Conde um Hilfe, um ihre verschwundene Freundin Judith zu finden. Conde, der nichts von den düster gekleideten Emos versteht und Yadine zunächst für eine Gothic hält, macht sich auf die Suche. Während er der Lösung von Judiths Verschwinden näher kommt, lernt er einiges über die gepiercten, schwarz angemalten Jugendlichen, deren Frisur die Hälfte des Gesichtes verdeckt und die entgegen gesellschaftlicher Erwartungen einfach auf der Straße rumhängen.
Das Verbindende der drei Geschichten ist die Suche nach individueller Freiheit. Das Bild des Ketzers zieht sich durch den Roman, von dem Juden Daniel, der zum Katholizismus konvertiert, über Elias, der sich über das Bilderverbot hinwegsetzt bis hin zu Yadine, die sich als Emo den gesellschaftlichen Normen widersetzt. Conde ist ohnehin ein Ketzer, der die Rolle als Polizist nicht ohne Grund aufgegeben hat. Er und seine alten Freund_innen stehen für die zerplatzten Träume und enttäuschten Hoffnungen in einem Land, das nicht das ist, was sich seine Bewohner_innen früher einmal erhofft hatten. Doch Padura ist weit mehr gelungen als „nur“ ein weiterer Kuba-Roman. Durch die Verknüpfung mit der Ketzerei im eigentlich liberalen Amsterdam des 17. Jahrhunderts zeigt er die Universalität auf, die dem Streben nach individueller Freiheit innewohnt.

Leonardo Padura // Ketzer // Aus dem Spanischen von Hans Joachim Hartstein // Unionsverlag // Zürich 2014 // 651 Seiten // 24,95 Euro // www.unionsverlag.com


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