Berlinale | Brasilien

Ein Roadtrip durch den Amazonas

Der dokumentarisch-fiktionale Film Iracema zeigt die wahre Bedeutung des „Developmentalismus“ der brasilianischen Militärdiktatur

Karina Tarasiuk
© Archive Jorge Bodanzky IMS

Aus dem Vorspann ertönt das Geräusch eines Bootsmotors. Wir sehen Indigene Menschen, die schweigend einen Amazonasfluss überqueren, bis die Kamera sich auf ein junges Mädchen konzentriert, das aus dem Fenster schaut: Iracema (Edna de Cássia). Wir hören Nachrichten im Lokalradio, während wir beobachten, wie die Menschen auf dem Boot mit den Indigenen Gemeinschaften am Flussufer interagieren. Weiter mit dem Geräusch des Motors. Noch keine Dialoge.

Der Anfang von Iracema, uma transa amazônica (Iracema) ist fotografisch. Er kontextualisiert das Geschehen in der Umgebung und zeigt Iracemas Ankunft in Belém do Pará, im Norden Brasiliens. Erst mit dem Auftauchen von Tião (Paulo Cesar Pereio), einem weißen Mann in den Vierzigern, treten die Dialoge in den Vordergrund.

Tião ist ein Lastwagenfahrer, der illegales Holz aus dem Amazonasgebiet transportiert. Eine Tätigkeit, die mit dem Bau der Transamazônica, einer von der zivil-militärischen Regierung 1964 begonnenen Autobahn, die den Norden des Landes von Paraíba (im Osten) bis Amazonas (im Westen) durchschneidet, bekannt wurde. Die Transamazônica war das Aushängeschild für die entwicklungspolitischen Diskurse, die die Regierung während der Militärzeit mit Schlagwörtern wie „Brasilien kann nur vorwärts gehen“, „Niemand kann dieses Land aufhalten“ und „Brasilien: Liebe es oder verlasse es“ zu betonen suchte.

Iracema wird Prostituierte und lernt Tião auf einer Party kennen. Beeinflusst von einer Kollegin beschließt sie, Tião mitzunehmen, um ihre Reise fortzusetzen. Auf diesem Weg zeigt sich das wahre Gesicht des transamazonischen „Developmentalismus“: das Abbrennen von Wäldern, die Abholzung für den illegalen Verkauf von Holz und auch die wirtschaftliche Ausbeutung der lokalen Bevölkerung, die in Ermangelung anderer Arbeitsalternativen gezwungen ist, sich an diesen Praktiken zu beteiligen, oft auch in Form von Sklavenarbeit.

Ein wichtiges Motiv des Films ist die Verwendung von Brandszenen. Als Übergänge im Roadtrip erklären sie auf eine sehr visuelle und explizite Art, was hinter den Diskursen über die Expansion des Transamazonas und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen steckt.

Iracema und Tião sind sehr symbolische Figuren des amazonischen „Developmentalismus“. Während Iracema als Indigene Jugendliche die Unschuld, die Natur und den Wald repräsentiert, steht Tião für den Kolonisator, den Mann aus der Stadt, der den Fortschritt durch die „Erforschung“ des Unbekannten sucht. Die auf sexueller Ausbeutung basierende Beziehung zwischen den beiden symbolisiert auch genau diese Ausbeutung der Natur. Der ursprüngliche Name des Films entstammt einem Wortspiel zwischen Transamazônica, der Autobahn, und „einem amazonischen transa“ – transa ist im brasilianischen Portugiesisch ein informeller Begriff für Geschlechtsverkehr –, was auf Iracemas sexuelle Verwicklung mit Tião hinweist.

Obwohl die Figuren im historischen Kontext des Brasiliens der 1970er Jahre spielen, erklärt die Dynamik der kolonialen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der indigenen Völker einen wichtigen Teil der Geschichte des Landes seit der portugiesischen Invasion im Jahr 1500.

Der Film zeigt die Kraft der unabhängigen Produktion des Cinema Novo, basierend auf dem Motto „eine Kamera in der Hand und eine Idee im Kopf“ von Glauber Rocha, dem Filmregisseur, der einer ihrer Hauptvertreter war. Die Hauptidee des Cinema Novo bestand darin, die Mittel der künstlerischen Produktion in den Dienst der gesellschaftlichen Veränderung zu stellen. Im Fall von Iracema wurde das Format des Roadtrips verwendet, um die illegale Abholzungsroute und die damit verbundene soziale Ausbeutung – Sklavenarbeit und Prostitution – zu zeigen. Der Film von Jorge Bodanzky und Orlando Senna ist ein Porträt des Amazonasgebiets, das vor 50 Jahren entstanden ist, aber genauso gut heute hätte entstehen können, auch wenn sich der politische Kontext des Landes geändert hat. Nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985 und vier Jahren rechtsextremer Verdrängung des Themas ist das Amazonasgebiet auch mit einer aktuellen Präsidentschaft, die offiziell behauptet, sich um die Umwelt zu kümmern, noch immer mit den Problemen der sozialen Ausbeutung und der illegalen Abholzung und Brandrodung konfrontiert.

Iracema, uma transa amazônica wurde zu Recht noch einmal in das Programm der Berlinale aufgenommen., Das Thema ist bis heute von dringender Aktualität und unterstreicht die Bedeutung des Kinos (und der Kunst), wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten aufzudecken, Veränderungen zu bewirken und neue Debatten anzuregen – insbesondere in Zeiten der Klimakrise und der Bedrohung indigener Völker und lokaler Gemeinschaften. Neben der kritischen und anklagenden Botschaft des Films besticht die Erzählung aber auch durch ihre humorvollen Momente und ihre soziale Darstellung. 

Iracema, uma transa amazônica (Iracema), Brasilien, Bundesrepublik Deutschland 1975, 96 Minuten, Berlinale-Sektion Forum Special; Regie: Jorge Bodanzky, Orlando Senna, Portugiesisch mit englischen Untertiteln

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Termine auf der Berlinale:

Mittwoch, 19.2. 19:00, Arsenal


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