Ein Teil der Seele von Buenos Aires
Im Barrio von San Telmo wächst die Solidarität
Am Eingang ruft Estela Fourmantin: „Du, komm mit in die Küche, wir können jemanden gebrauchen, der Kartoffeln schält.“ Und zu den Wartenden vor der Tür:„Los Jungs, die Tische müssen noch aufgestellt werden!“ Sie stehen in der Schlange zum Comedor, an die Häuserwand gelehnt, quatschen, trinken Matetee aus einem Joghurtbecher und warten darauf, dass in einer Stunde das Essen ausgeteilt wird. Alte Männer mit faltigen Gesichtern, junge Mütter mit Kindern. Viele in zerschlissener Kleidung und barfuss. Ein paar tragen auch Markenkleidung, die noch aus der Zeit stammt, als der Peso eins zu eins zum US-Dollar stand und es noch Arbeit für sie gab.
Am Eingang des Comedors und Kulturzentrums der Asamblea de San Telmo – Plaza Dorrego steht ein großes Schild, auf dem die Aktivitäten für diesen Tag angeschlagen sind: 10 Uhr Verteilung von Lebensmittelpaketen; 13 Uhr Essensausgabe; 14.30 Uhr: Bildungsworkshop; 17 Uhr Kommission der Arbeitslosen; täglich 12 bis 17 Uhr: Kleiderverkauf; Montag und Mittwoch: Brotverkauf. Gut gelaunt schiebt Estela ihren massigen Körper über den kleinen Vorhof, wo in einem großen Lehmofen Brot gebacken wird. Hier ist es heiß und sehr stickig durch das brennende Holz im Ofen. Im großen Gemeinschaftssaal, in dem in einer halben Stunde das Essen ausgeteilt werden soll, herrscht Chaos. „Heute sind wir etwas im Stress, weil die Lebensmittelkartons so spät geliefert wurden und wir mit der Austeilung später anfangen mussten.“ 520 Lebensmittelpakete, die der Comedor von der Stadt erhält, werden im Monat an rund 200 Familien verteilt. Die Voraussetzung für den Erhalt eines solchen Paketes mit Reis, Nudeln, Matetee und Gemüse ist die aktive Teilnahme an den Aktivitäten des Comedors, erzählt die arbeitslose Historikerin. Über die Hälfte der Bevölkerung Argentiniens gilt als arm. Die Preise für Grundnahrungsmittel stiegen seit der Abwertung des Pesos um nahezu 80 Prozent. Viele Menschen treibt es aus den nördlichen Provinzen in die Hauptstadt.
Armutsflüchtlinge aus der Provinz
In der Küche sind 10 Personen beim Gemüse schneiden. Fanny ist heute die Küchenchefin. Die kleine Frau auf Krücken kam vor vier Monaten aus der Provinz Tucumán nach Buenos Aires in der Hoffnung, sich hier operieren zu lassen. Nach zwei Monaten, in denen sie auf der Straße lebte, traf sie auf die Leute der Asamblea, die sich ihres Problems annahmen und in der Nachbarschaft Gelder für die zur Operation nötigen Medikamente und Blutkonserven sammelten. Ein Arzt aus dem benachbarten Krankenhaus bot an, Fanny kostenlos zu operieren. Seitdem hilft sie täglich in der Küche mit. Sie erinnert sich: „Als ich zum ersten Mal in den Comedor kam, waren es die Leute aus der Asamblea, die das Essen für uns kochten. Inzwischen sind wir es, die Arbeits- und Obdachlosen und ein paar Kartonsammler, die das Essen zubereiten. Dieses Haus ist auch für uns gebaut worden. Hier trägt jeder seinen Teil dazu bei, dass die Sache läuft. Ich gehöre zum Beispiel zur Kommission der Arbeitslosen. Meine Gruppe backt täglich das Brot für den Comedor. Zweimal pro Woche verkaufen wir Brot an die Bewohner des Viertels und verdienen uns so ein bisschen Geld dazu.“
Beim Kartoffelschälen erzählt Estela die Entstehungsgeschichte des Projektes und der Asamblea: „Am 4. Januar 2002 haben wir uns zum ersten Mal getroffen, also kurz nach den Ereignissen im Dezember 2001. Wir waren etwa 30 Nachbarn aus dem Viertel, die durch die politische und soziale Situation im Land wachgerüttelt worden waren. Wir wollten sehen, wie wir den Protest vorantreiben könnten, auch für die Interessen unseres Viertels. Zuerst veranstalteten wir viele Protestaktionen, mobilisierten die Nachbarschaft und nahmen an den großen Demonstrationen teil, die im ganzen Land stattfanden. Später beschlossen wir, „ollas populares“ (öffentliche Essensausteilungen) für die Kartonsammler zu organisieren, die nachts durch San Telmo ziehen. Anfangs kochten wir mit nur einem Gaskocher und Lebensmitteln, die die Nachbarn spendeten. Das war spannend, weil wir mitten auf der Straße kochten“, berichtet sie schwärmend. „Mit einem nahe gelegenen Krankenhaus führten wir Impfaktionen für die Kartonsammler durch, die sehr wichtig sind, weil sie sich beim Durchsuchen des Mülls häufig an spitzen Gegenständen verletzen. Wir verteilten Flugblätter, merkten aber bald, dass viele von denen, die zum Essen kamen, gar nicht in der Lage waren, ein Flugblatt zu lesen, auf dem stand, wo und wann sie sich impfen lassen konnten. Also führten wir viele Gespräche und wurden auf eine ganz andere Realität im Stadtteil aufmerksam. Dann brach unter uns die Diskussion los, ob es nicht möglich wäre, ein eigenes Haus zu bauen, in dem wir Essen austeilen und soziale Arbeit für das Viertel machen könnten. Wir wussten, dass viele andere Asambleas, die Häuser besetzt hatten, sich täglich mit einer möglichen Räumung konfrontiert sahen. Wir wollten etwas Eigenes aufbauen und nicht abhängig sein von den Launen der Regierung.“
Raus aus der Misere
Sie organisierten Festivals, erbaten bei Organisationen Spendengelder und halfen alle beim Bau mit: „Unser Ziel ist es, dass dieses Gebäude nicht nur als Comedor genutzt wird, sondern ein Zentrum ist für alle Bedürfnisse des Viertels. Im Sinne von Bildung, um den Sprachlosen eine Stimme zu geben. Es soll ein Ort sein, wo jemand hingehen kann und fragen kann: ‘Wie komme ich aus dieser Misere heraus?’ Wir können ihm nicht sagen, wie er sich als Einzelner helfen kann, aber wir können versuchen, gemeinsam unsere Situation zu verbessern,“ sagt Estela.
So ist auch der Bau ein Ergebnis gemeinsamer Arbeit mit den Leuten für die Leute. Es wird gemeinschaftlich gekocht und die Bildungs- und die Alphabetisierungswerkstatt sind für die Leute des Viertels. „Es kommen auch Mitglieder von anderen Asambleas, um zu sehen, wie wir das machen. Wir haben einen Teil Solidarität geschaffen in einem System, in dem das Netz der Solidarität auseinander gebrochen ist. Sei es, dass viele Händler des Viertels Lebensmittel spenden oder dass Impfaktionen durchgeführt werden und sich Menschen, die sich vorher fremd waren, zusammenschließen, um sich mit denen zu solidarisieren, denen es schlechter geht als ihnen,“ ergänzt Estela.
Das Erdgeschoss steht, aber es werden dringend Gelder benötigt, um ein erstes Stockwerk zu errichten. Dort sollen Räume entstehen, in denen Alphabetisierung und politische Bildung stattfinden können und die Arbeitslosenprojekte ausreichend Platz für kleine Werkstätten hätten.
Inzwischen ist das Essen fertig. An jedem Tisch steht ein Verantwortlicher oder eine Verantwortliche auf, um eine Terrine mit Eintopf abzuholen. Die Verantwortlichen müssen nach dem Essen darauf achten, dass das Geschirr abgewaschen wird. Estela sagt stolz: „San Telmo ist sehr klein, aber es ist auch ein Teil der Seele von Buenos Aires. Wir hoffen, dass wir auch in Sachen Solidarität ein Zeichen setzen können, um anderen Vierteln Mut zu machen, etwas ebenso wichtiges aufzubauen, wie wir es getan haben.“
Spenden erbitten wir auf das Konto: Ökumenisches Zentrum, GLS Bank, BLZ 43060967,KtoNr. 802 592 3000, Stichwort: Asamblea