Brasilien | Nummer 228 - Juni 1993

Ein Virus kennt keine Grenzen

Vom 7. – 11. Juni 1993 findet in Berlin der IV. Welt-AIDS-Kongreß statt, u.a. werden sich seine TeilnehmerInnen mit der sozialen Antwort auf die HIV-/AIDS-Problematik zu beschäftigen haben. Während in den Industrieländern die Steigerungsrate von HIV-Neuinfektionen abflacht und eine gesundheitliche Grundversorgung gesichert erscheint, birgt HIV/AIDS für die Länder des Südens neben dem medizinischen vor allem sozialen und politischen Sprengstoff.

Stefan Rosowski

In Brasilien stieg die Zahl der AIDS-Erkrankten von 1000 im Jahre 1986 auf 31.949 Ende 1992. Die Zahl der Neuinfizierten wird von der WHO, ebenso wie von der interdisziplinären brasilianischen Vereinigung gegen AIDS, ABIA (Associacâo brasileira interdisciplinar de AIDS) auf 500.000 – 700.000 Menschen geschätzt.
Lange Zeit hat der brasilianische Staat das Problem ignoriert und zum Problem von Randgruppen degradiert; der öffentliche Gesundheitssektor verweigerte sich. Als Reaktion gründeten sich verschiedene Selbsthilfeorganisationen, wie das Betreuungsprojekt “Fazenda da Esperança” (Hof der Hoffnung), der “Grupo PELA VIDDA” (Gruppe Kampf für das Leben) und im Juni 1991 der “Coalizao Global de Políticas contra AIDS” (Globale Koalition der Politiker gegen AIDS).

Das Virus unterscheidet zwischen Norden und Süden

Seit 1981 wurden 5,6 Milliarden US-$ für die Bekämpfung des Virus ausgegeben. Davon entfiel ein Anteil von 97 Prozent auf die Industrienationen. Pro Person wurden 1991 in den USA 2,7 US-$, in Europa noch 1,18 US-$ verwendet, während in Afrika 0.07 US-$ und in Lateinamerika ganze 0.03 US-$ zur Verfügung standen.
Eine AZT-Behandlung (Azidothymidin – gegenwärtig die einzige medizinische Behandlungsmethode, die den Krankheitsverlauf verlängert) wird mit ca. 2.500 US-$ pro Jahr veranschlagt. Unbezahlbar für die meisten Menschen im Süden, wo das Bruttonationalprodukt pro Person durchschnittlich bei 700 US-$ liegt. AIDS ist nur ein Problem unter vielen, nebensächlich selbst im Gesundheitssektor. Dabei verdoppelt sich die Zahl der Infizierten alle 3-4 Jahre, in Deutschland hingegen alle 6-8 Jahre. Das Virus unterscheidet zwischen Norden und Süden.

….zwischen arm und reich

Solange AIDS in Brasilien als Krankheit der homosexuellen Elite galt, konnten Randgruppen stigmatisiert werden. Mittlerweile ist AIDS eine Gefahr für die Ärmsten des Landes geworden. Die Ober- und Mittelklasse Brasiliens besteht überwiegend aus Weißen. Mischlinge, Schwarze und Indios bilden die große Mehrheit der benachteiligten Schichten; Klassenschranken erweisen sich als Rassenschranken. Dies spiegelt sich auch im Erziehungs- und im Gesundheitssektor wider. Während die Oberschicht und die wohlhabenden Teile der Mittelschicht dank ihrer besseren Ausbildung empfänglicher für die Aufklärungsarbeit gegen AIDS sind, herrscht in den weniger gebildeten, oftmals des Lesens und Schreibens unkundigen unteren Schichten ein mit groben Fehlinformationen durchsetztes Halbwissen vor. Die Ansicht, daß derjenige, der ein Kondom benutzt, infiziert sei, ist gerade in den Favelas fest verwurzelt, eine Präventionsarbeit somit erschwert.
Personen, die in einer teueren privaten Krankenversicherung Mitglied sind, können im privatwirtschaftlichen medizinischen Sektor nach westlichem Standard behandelt werden, während die Versorgung im öffentlichen Sektor auf Notfälle beschränkt bleibt. Konsequenz: Für Angehörige der Unterschicht beträgt die Überlebenszeit nach einer AIDS-Diagnose 1-2 Monate, für jene der Mittelklasse hingegen 1 1/2 – 2 Jahre . Das Virus unterscheidet zwischen arm und reich.

Doch eine Intelligenz besitzt es nicht !

Diese strukturellen politischen und sozialen Mißstände veranlaßte die “Coalizâo Global de Políticas contra AIDS” eine neue Strategie für die neunziger Jahre zu formulieren: effektivere Prävention, angepasst an die örtlichen Verhältnisse. Eine Betreuung und Behandlung aller HIV-Infizierten und AIDS-Erkrankten, da oftmals AIDS-Erkrankte in öffentlichen Hospitälern abgewiesen werden. Verlangt wird der Abbau von sozialen Schranken im Erziehungs- und Gesundheitsbereich.
Wirksame Präventionsarbeit wird von der Qualität des sozialen System bestimmt: Nur wenn offen und ohne Vorurteile gegenüber anderen Lebensmodellen diskutiert werden kann, kann sie erfolgreich sein. Das soziale Klima Brasiliens steht dem jedoch im Wege – so dokumentierte die brasilianische Schwulengruppe “Grupo Gay de Bahia” 1.200 Morde in den achtziger Jahre an Schwulen und Lesben.
Im März 1989 gründete sich die “Grupo PELA VIDDA”, die gegen diesen “morte social” kämpft und die offizielle AIDS-Politik kritisch begleitet. Ihr Hauptziel ist es, das Leben der Infizierten und Erkrankten zu garantieren und ihre Lebensqualität zu verbessern. Zudem versucht sie mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit die politische und soziale Dimension von HIV/AIDS zu thematisieren und die Betroffenen von ihrem Stigma zu befreien. Neben Frauentreffen, Gymnastik- und Kunstunterricht bieten sie psychologische Erstberatung und juristische Hilfe an. Ein monatlich erscheinendes Bulletin soll zur Diskussion anregen: Mittlerweile existieren in fünf weiteren brasilianischen Städten ähnliche Gruppen – in Sâo Paulo, Caritiba, Vitória, Goiânia und Niterói.

Land der Hoffnung

Vornehmlich drogengebrauchende Straßenkinder finden seit 1983 auf der “Fazenda da Esperança” die Möglichkeit zum Entzug sowie medizinische Betreuung bei AIDS-Erkrankung.
Der Franziskanerpater Frei Hans Stapel und der damals neunzehnjährige Nelson Giovanelli begannen zunächst im Umfeld des Pfarrhauses Stapels in Guaratiguetá mit der Betreuung von Straßenkindern. Seit Beginn des Projekts wird auf überwiegende Eigenfinanzierung gesetzt. Anfangs schnitten die Jungs und Mädchen die Hecken der Reichen der Stadt, pflegten deren Gärten und hüteten deren Kinder. Dank einiger Landschenkungen in der näheren Umgebung Guaratinguetás, darunter ein riesiges Bergbauareal in der Serra de Mantiquiera, gewann das Projekt rasch an Eigendynamik. Heute, neun Jahre nach Beginn, leben ca. 270 Personen in den verschiedenen Häusern des Sozialwerkes, darunter ca. 90 HIV-Infizierte und AIDS-Erkrankte, von denen sich 21 Personen im Endstadium befinden.
Sie verwalten sich selbst und wählen bei regelmäßigen Versammlungen die zweiköpfige Leitung eines ihrer jeweiligen, nach Geschlechtern getrennten Gemeinschaftshäusern.
Verschiedene Produktionszweige, wie Möbelschreinerei, Schweine- und Geflügelzucht, eine Brauchwasser-Produktion, eine Müllverarbeitung finanzieren nicht nur das Projekt, sondern erhöhen und festigen das Selbstwertgefühl der ehemaligen Straßenkinder.
Mit einem eigenen LKW holen die Arbeiter der Obra den sortierten Müll von 30.000 Haushalten Guaratinguetás ab, der zuvor von rund 60 Familien aus einem Elendsviertel der Stadt eingesammelt wurde. Glas wird zerkleinert, Papier und Dosenblech werden zu tonnenschweren Frachtquadern gepreßt, Kunststoff sortiert, “gebacken” und zu Granulat verarbeitet. Die erzielten Gewinne fließen immer dorthin, wo Mangel herrscht. Das Fazenda-Projekt ist, sich für den täglichen Bedarf nicht auf Spenden zu verlassen, sondern ihn selbst zu erarbeiten und zu erwirtschaften. Das “Prinzip Hoffnung” mag für die Errichtung der Infrastruktur gereicht haben und noch reichen, für die tägliche Versorgung wäre ein Verlaß darauf sträflich.
HIV-Infizierte sind in die Arbeitsprozesse integriert, selbst die Erkrankten entscheiden sich bei zwischenzeitlicher Genesung in der Regel zur Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit, ggf. wird ihnen eine leichtere Arbeit, z.B. die Pflege der Gemeinschaftshäuser übertragen. Arbeit, Mitarbeit schafft Kommunikation, Herumsitzen bedeutet Isolation.

Anläßlich des Welt-AIDS-Tages 1991 der WHO unter dem Motto “Sharing the challenge” (Die Herausforderung gemeinsam annehmen – weltweit) ging die Berliner AIDS-Hilfe mit der “Fazenda da Esperança ein Partnerschaftsprojekt ein.

Spendenkonto:
Berliner AIDS-Hilfe
Sonderkonto Brasilien
Bank für Sozialwirtschaft
BLZ 100 205 00
Konto-Nr. 3 132 203)

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