“EIN VORBILDHAFTES EXPERIMENT FEMINISTISCHER POLITIK”
Interview zur Rolle feministischer Bewegungen im verfassunggebenden Prozess in Chile
Javiera Manzi (Foto: privat)
Javiera, wo befinden wir uns gerade auf dem Weg zu einer feministischen Verfassung für Chile?
Wir stehen kurz vor der Abstimmung der einzelnen Artikel in den verschiedenen Kommissionen des Verfassungskonvents. Wir kommen also der Festschreibung einer feministischen Agenda in der Verfassung immer näher. Der breiten feministischen Bewegung ist es gelungen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Verfassungskonvents politische Allianzen gegen die zunehmende Prekarisierung des Lebens zu bilden. Innerhalb des Verfassungskonvents wird die feministische Bewegung durch Politiker*innen, indigene Feminist*innen sowie durch Aktivist*innen repräsentiert, die gemeinsam eine paritätische, plurinationale Demokratie für dieses neue Chile aufbauen.
Ausgangspunkt dieses neuen politischen Systems ist die Idee einer paritätischen Demokratie, die nicht nur die Sichtbarkeit von Frauen sondern auch von trans und nicht-binären Personen garantiert. Damit haben wir eine transformatorische Alternative zu den klassischen Strukturen politischer Repräsentation geschaffen. Dass es nie wieder einen Kongress geben wird, der nur zu 23 Prozent aus Frauen besteht, ist dem feministischen Engagement im Verfassungsprozess zu verdanken.
Welche Forderungen der Bewegung fließen in den Verfassungskonvent ein?
Wir haben zentrale Forderungen der feministischen Bewegung umsetzen können, angefangen bei der Anerkennung der sexuellen und reproduktiven Rechte. Dies wird die erste Verfassung weltweit sein, in der das Recht auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch verankert ist. Außerdem soll die neue Verfassung die Anerkennung von Fürsorgearbeit, das Recht auf ein Leben frei von sexualisierter Gewalt und das Grundrecht auf Wasser garantieren.
Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie die feministische Bewegung die historischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte hinsichtlich demokratischer Rechte von Frauen und Minderheiten zu beheben sucht und gleichzeitig neue Räume des politischen Handelns schafft.
Wie beurteilst du die diesjährige Mobilisierung für den 8. März? Inwiefern beeinflusst sie den verfassunggebenden Prozess?
Mit der Coordinadora 8M, die aus einer Serie feministischer Proteste weltweit hervor ging, haben wir es geschafft, am 8. März 2019 für die größte Demonstration seit Ende der Diktatur in Chile zu mobilisieren. Diese Mobilisierung stellt für uns einen Meilenstein dar, weil sie großen Einfluss auf die im Oktober 2019 einsetzende Revolte hatte. Die feministische Bewegung war von Beginn an die treibende Kraft im Kampf gegen das undemokratische neoliberale System.
Wir vertreten einen Feminismus, der sich nicht nur für Frauen einsetzt, sondern der die kapitalistischen, patriarchalen, rassistischen und kolonialen Strukturen aus einer intersektionalen Perspektive hinterfragt.
Am vergangenen 8. März ging es darum, ein letztes Mal vor Ende der Amtszeit Piñeras ein Zeichen gegen die Straflosigkeit des Regimes und die systematischen Menschenrechtsverletzungen zu setzen und deutlich zu machen: Die feministische Bewegung macht sich für eine neue gemeinsame Zukunft stark, um der Pinochet-Verfassung ein Ende zu setzen. Auch die baldige Abstimmung über die neue Verfassung war ein wichtiges Thema der Mobilisierung für den 8. März dieses Jahres. Denn wir wissen, dass es vor allem die Frauen und Minderheiten sind, die diese neue demokratische Verfassung tragen.
Ziel der feministischen Bewegung ist es, den verfassunggebenden Prozess aktiv zu gestalten. Wie würdest du diese Erfahrung aus Perspektive der sozialen Bewegung beschreiben?
Wir haben bewusst einen radikal-aktivistischen Standpunkt innerhalb der Bewegung eingenommen. Und dabei erkennen wir neben dem politischen Aktivismus innerhalb der Parteien auch das Engagement innerhalb der Kollektive und der verschiedenen sozialen Gruppen an. Von dieser gemeinschaftlichen Perspektive ausgehend wollen wir Netzwerke knüpfen, die unsere gesamte Diversität abbilden. Unser Feminismus ist eine Politik der Allianzen verschiedener Feministinnen mit unterschiedlichen politischen Schwerpunkten. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, die autoritären neoliberalen Strukturen abzubauen und stattdessen eine nachhaltige Demokratisierung der Politik zu erzeugen. Die stärkste politische Mobilisierung in Chile geht heute von den feministischen Gruppen aus. Wir sehen uns als Teil einer weltweiten Bewegung und glauben, dass der verfassunggebende Prozess in Chile ein bedeutendes und vorbildhaftes Experiment feministischer Politik ist.
Inwiefern bringen die sozialen Bewegungen die Vielfalt der feministischen Forderungen in den Verfassungskonvent ein?
Wir spüren noch immer die Folgen der Pandemie. Sie hat es uns unmöglich gemacht, auf die Straße zu gehen und im öffentlichen Raum zu agieren, wie wir es die Jahre zuvor getan haben; vor allem bei der sozialen Revolte 2019. Für uns ist es von großer Bedeutung, dass die Fortschritte des Verfassungskonvents von einer permanenten politischen Mobilisierung begleitet werden, was nicht leicht ist, denn viele umweltpolitische und gewerkschaftliche Gruppen sind derzeit geschwächt. Die neue chilenische Verfassung muss dem extremen Neoliberalismus und der extraktivistischen Gewalt, die ganze Gemeinschaften und Gebiete zerstört hat, Einhalt gebieten. In diesen ökologischen Themen überschneiden sich die Ökofeministinnen mit den Vertreter*innen anderer politischer Gruppen. Es ist unbedingt notwendig, dass der verfassungsgebende Prozess von dieser Art politischen Drucks begleitet wird.
Wie könnte sich die Rolle der feministischen Bewegungen mit der neuen Regierung unter der Präsidentschaft von Gabriel Boric verändern?
Die feministische Mobilisierung spielte während der Kampagne für die Stichwahl eine wichtige Rolle. Denn uns allen war klar, dass die neue Regierung die Bedingungen für den Aufbau der neuen chilenischen Verfassung gestalten würde. Unsere Kampagne trug Früchte: Es waren vor allem die Stimmen von jungen Frauen, die Boric zum Sieg verhalfen. Aber trotz dieses Erfolgs werden wir sehr genau beobachten, ob die neue Regierung ihre Versprechen umsetzt und wir werden nicht aufhören, auf die Straße zu gehen. Die sozialen Bewegungen müssen ihre Autonomie bewahren und sich weiterhin jenseits der politischen Institutionen engagieren, ohne dabei den historischen politischen Transformationsprozess, der Antwort auf die Krise der sozialen Reproduktion ist, aus den Augen zu verlieren.
Der Stand des verfassunggebenden Prozesses in Chile
Seit Anfang April steht fest, dass das Abschlussplebiszit über die neue Verfassung am 4. September stattfinden wird. Die Abstimmung fällt damit auf einen höchst symbolischen Termin, denn es war auch ein 4. September, an dem Salvador Allende im Jahr 1970 die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte.
Für die Abstimmung über die neue Verfassung herrscht zum ersten Mal seit 2009 wieder Wahlpflicht: Alle Menschen mit Wohnsitz und Wahlrecht in Chile, die über 18 Jahre alt sind, müssen abstimmen. Für Chilen*innen im Ausland ist die Abstimmung freiwillig.
Doch bis dahin bleibt noch viel zu tun: Spätestens am 4. Juli muss der Verfassungskonvent dem Präsidenten den fertigen Verfassungstext aushändigen. Derzeit steckt der Verfassungskonvent in der Abstimmung der letzten Beschlüsse aus den Kommissionen (siehe LN 572), bereits über 300 Artikel hat das Plenum bestätigt. Ab Mitte Mai soll die Harmonisierungsphase beginnen, in der die beschlossenen Artikel aufeinander abgestimmt werden.
Unterdessen sorgten im April Umfragen verschiedener Meinungsforschungsinstitute für Aufruhr: Zum ersten Mal gab die Mehrheit der Befragten an, für ein Rechazo, also die Ablehnung der neuen Verfassung, stimmen zu wollen. Dazu kommt die Uneinigkeit zwischen rechten und linken, aber selbst zwischen den progressiven Gruppen im Konvent, die Beschlüsse mit breiter Zustimmung wiederholt verhinderte. Wachsender Zeitdruck lässt das Vertrauen in den Verfassungskonvent zusätzlich schwinden. Daneben dürften dafür auch die zahlreichen Delegitimierungs- und Desinformationskampagnen der Rechten verantwortlich sein. Präsident Gabriel Boric zeigte sich besorgt und rief dazu auf, breite Kompromisse zu suchen, um die neue Verfassung nicht zu gefährden. Derweil mobilisieren zahlreiche soziale Bewegungen und feministische Organisationen, darunter die Coordinadora 8M, bereits jetzt für ein starkes Apruebo de Salida („Ja im Abschlussreferendum“). // Susanne Brust
Javiera Manzi ist Soziologin und feministische Aktivistin der Coordinadora Feminista 8M. Lange war Manzi Sprecherin der Organisation, die jedes Jahr zahlreiche feministische Mobilisierungen und Versammlungen veranstaltet und als deren Vertreterin Alondra Carrillo in den Verfassungskonvent gewählt wurde. Derzeit arbeitet Javiera Manzi für Alondra Carrillo sowie an der Kampagne für ein „Ja“ zur neuen Verfassung im Abschlussplebiszit.