Brasilien | Nummer 389 - November 2006

„Eine Alternative zum Kapitalismus“

Paul Singer über die Perspektiven der Solidarischen Wirtschaft

In Brasilien ist die Solidarische Wirtschaft seit den 80er Jahren im Aufwind. In Europa führten ArbeiterInnen die Solidarische Wirtschaft zu Beginn des Industriekapitalismus als eine Antwort auf die Armut und die Arbeitslosigkeit ein, die sich am Anfang des 19. Jahrhunderts aus der „deregulierten“ Verbreitung der Maschinen und des Dampfmotors ergaben. Solidarische Unternehmen lehnen die Trennung zwischen Arbeit und Besitz der Produktionsmittel ab, sodass bei ihnen die ArbeiterInnen gleichzeitig UnternehmensbesitzerInnen sind. 2003 wurde unter der Lula-Regierung die Behörde für Solidarische Wirtschaft SENAES gegründet, für die Paul Singer als Staatssekretär für Solidarische Ökonomie im Arbeitsministerium zuständig ist.
LN sprach mit ihm über die Aussichten der Solidarischen Wirtschaft und ihren potenziellen Beitrag für die Überwindung des Kapitalismus.

Martin Ling, Dinah Stratenwerth

Wie arbeitet die Behörde für Solidarische Wirtschaft?

Sie arbeitet mit einer Vielzahl an Programmen zu Solidarischer Ökonomie und kooperiert mit anderen Behörden. Zum Beispiel bildet sie in Zusammenarbeit mit der Abteilung für geistige Gesundheit des Gesundheitsministeriums soziale Kooperativen mit Menschen, die aus psychiatrischen Anstalten kommen. Ein anderes Beispiel ist ein mit der Behörde für Rassengleichheit SEPIR entwickeltes Programm zur solidarischen Lokalentwicklung in Quilombo-Gemeinden. Das sind ländliche Gemeinden mit schwarzer Bevölkerung, die weitgehend isoliert sind. Im Juni 2006 hat SENAES eine erste Nationalkonferenz der Solidarischen Ökonomie veranstaltet.

Viele der solidarisch organisierten Betriebe sind informell. Sie sind nicht gemeldet und zahlen keine Steuern. Ist es ein Ziel der Behörde, sie zu formalisieren und zu besteuern?

Unsere Bestandsaufnahme hat gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Unternehmen informell sind. Vermutlich aufgrund der finanziellen Hürden, die eine Legalisierung bedeutet. Informelle Unternehmen sind dazu verdammt, nur von anderen informellen kaufen und an sie verkaufen zu können, während wegen der fiskalischen Anforderungen die formellen nur untereinander agieren können. Darum würden fast alle informellen Unternehmen sich gern legalisieren. Aber dafür ist es notwendig, dass ihre Steuerpflichten reduziert werden. Dem Nationalkongress liegt ein Gesetzentwurf vor, der genau das regeln soll. Der Entwurf heißt Gesetz für Mikro- und Kleinunternehmen und bezieht die größeren Unternehmen, die durch Verbände in Selbstverwaltung geführt werden, nicht ein. Es soll vor allem den organisierten Kleinstproduzenten und selbstverwalteten Kooperativen zugute kommen.
In welchen Sektoren sind die solidarisch organisierten Betriebe tätig?
Solidarische Ökonomie ist fast in allen Wirtschaftssektoren vertreten, besonders in der Landwirtschaft und bei extraktiven Aktivitäten, auch im Recycling von Feststoffen. Die kleinen, armen solidarischen Unternehmen arbeiten in Marktnischen, in denen marktwirtschaftliche Privatunternehmen fehlen. Aber es gibt auch Konkurrenz, zum Beispiel in der Landwirtschaft.

Welche Konsequenzen hat diese Konkurrenz für die solidarisch organisierten Betriebe?

Die Konkurrenz zu kapitalistischen Unternehmen zwingt die solidarisch organisierten Betriebe dazu, auf ihre Produktions-, Vertriebskosten und auch auf Qualität zu achten. Die Selbstbestimmung wird dadurch komplizierter. Und es wird notwendiger, die solidarischen Betriebe in Produktionsketten einzugliedern.

Wie ist das Lohnniveau im Vergleich mit den Privatunternehmen?

In den Angestelltenverbänden sind die Gewinnbeteiligungen in etwa gleich hoch oder höher als die in diesem Bereich gezahlten Durchschnittslöhne. In den Marktnischen, in denen die ärmsten der solidarischen Unternehmen arbeiten, sind die Auszahlungen etwa gleich oder niedriger als der Mindestlohn – also als das, was kapitalistische Unternehmen zahlen würden.

Solidarische Ökonomie ist bisher eine Produktionsweise innerhalb des kapitalistischen Systems. Kann sie auf lange Sicht zu einem Gegenentwurf werden?

Ich denke ja und vielleicht schon in absehbarer Zeit. In Brasilien, wo sich die Solidarökonomie erst seit zwei Jahrzehnten entwickelt, stellt sie schon eine Alternative zum Kapitalismus dar, wenn es um die Wiedereröffnung von Unternehmen (als solidarisch organisierte Betriebe, Anm. d. Red.) geht. Ich glaube, dass in bestimmten Wirtschafts- und Finanzzweigen in einigen Jahren das Gleiche passieren kann.

Wenn die Solidarische Ökonomie als Produktionsweise im Kapitalismus hegemonial würde, wäre das dann noch Kapitalismus (mit sozialem Antlitz), weil die Kreditfinanzierung von Produktion Überschüsse (Profite/Mehrwertaneignung durch die solidarischen Betriebe) erfordert? Oder ist es Sozialismus, obwohl sich die ArbeiterInnen als ProduktionsmittelbesitzerInnen den Mehrwert selbst abknöpfen, sich also quasi selbst ausbeuten?

Mit dieser Darstellung stimme ich nicht überein. Der Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus liegt nicht in der Finanzierung von Investitionen sondern im Klassenunterschied. Bei einem solidarischen Wirtschaftssystem, in dem die ArbeiterInnen die einzigen BesitzerInnen des Kapitals und des Produktes ihrer Arbeit sind, ist die dazugehörige Gesellschaft sozialistisch.
Die Frage, ob Kapitalismus immer noch Kapitalismus wäre, wenn die Solidarische Wirtschaft hegemonial würde, ist für mich sinnlos. Würde die solidarische Wirtschaft hegemonial in einem sozio-ökonomischen System, das aus verschiedenen Produktionsweisen besteht, wäre das System deswegen sozialistisch, weil die vorherrschende Produktionsweise sozialistisch wäre.
Was Sie sagen, ist paradox: Wenn die ArbeiterInnen die Produktionsmittel besitzen, können sie einen Teil des Gewinns (an)sparen, was normal ist. Aber das kann man natürlich nicht als Selbstausbeutung bezeichnen, weil es dann keine andere Klasse gibt, die sich den Mehrwert aneignet.

Die gesellschaftliche Produktion wird in Brasilien nach wie vor – wie im Kapitalismus üblich – über Preise koordiniert, sei es Lohn, Zins oder Profit. Wie kann ein alternativer Koordinationsrahmen aussehen?

Diese Frage wird sich klären, sobald sich die Produktionsketten der Solidarischen Ökonomie vermehren. Soweit ich weiß, wurden in manchen Wirtschaftszweigen Foren gebildet, um gerechte Preise zu verhandeln. Auch im Fairen Handel und in den Tauschringen wird die Festlegung von Werten, um die Preisbildung zu koordinieren, diskutiert – wer weiß, vielleicht schon mit einem Ergebnis.

Wie wichtig ist ein Wahlsieg von Lula für die weitere Entwicklung der Solidarischen Wirtschaft?

Ich denke, das ist entscheidend. Bis jetzt hat sich nur die PT (Arbeiterpartei) und die PT-Regierungen politisch für die Förderung der Solidarischen Ökonomie stark gemacht. Seit der Nationalkonferenz der Solidarischen Ökonomie, zeigen auch Gouverneure anderer Parteien Interesse daran. Aber bis dieses Interesse in konkrete Aktionen umgesetzt wird, wird es noch dauern.

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