Dossier 20 - Sein oder Schein? | Gewalt und Staat | Mexiko

„EINE DER SCHWERSTEN MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN“

Interview mit der mexikanischen Menschenrechtsanwältin Sofía de Robina über gewaltsames Verschwindenlassen

Andrés Manuel López Obrador (AMLO) übernahm 2018 die Regierungsverantwortung für ein Land, das sich in einer schweren Menschenrechtskrise befindet. Die Anwältin Sofía de Robina, die Angehörige von gewaltsam Verschwundenen begleitet, analysiert im Interview mit LN Fortschritte und Widersprüche der Menschenrechtspolitik unter AMLO.

Interview und Übersetzung: Steffi Wassermann

Mexiko befindet sich in einer schweren Menschenrechtskrise, was sich in besonderem Maße an den erschreckenden Zahlen an gewaltsam Verschwundenen zeigt. Wie stellt sich die Situation aktuell dar?
Offizielle Angaben gehen derzeit von mehr als 105.000 Verschwundenen in Mexiko aus. Und das, ohne die Fälle zu berücksichtigen, die nicht zur Anzeige gebracht wurden. Diese Krise ist auch eine forensische Krise. Nach inoffiziellen Angaben gibt es 52.000 nicht identifizierte Leichen. Viele von ihnen wurden von Familienangehörigen von Verschwundenen gefunden.

Wer sind die Opfer der Verbrechen?
Es sind vor allem junge Menschen, die gewaltsam verschwinden. Obwohl die meisten von ihnen Männer sind, werden auch immer mehr Frauen Opfer. Diese Verbrechen werden meist im Kontext anderer Straftaten, wie Menschenhandel oder Sexualverbrechen, begangen. Diese geschlechtsspezifischen Charakteristika erfüllen uns mit zusätzlicher Sorge.

Welche Folgen haben diese Verbrechen für die Angehörigen?
Das Verschwindenlassen ist eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen, da eine Vielzahl von Rechten betroffen ist. Nicht nur die Rechte der verschwundenen Person, die Unversehrtheit des Lebens und der Freiheit, sondern auch die Rechte der Angehörigen werden verletzt, auch weil der Verbleib der verschwundenen Person nicht bekannt ist.
Es sind meist Frauen, die ihre Angehörigen suchen. Sie sind Mütter oder Schwestern, die auf die Suche gehen, oft unter sehr schwierigen und unsicheren Bedingungen. Als Frauen sind sie mit besonderen Problemen konfrontiert, in Bezug auf die staatlichen Institutionen, aber auch in Bezug auf die eigenen Communities. In den letzten Jahren wurden 13 Suchende ermordet. Das zeigt auch, dass der Staat nicht in der Lage ist, diejenigen zu schützen, die die Aufgabe der Suche ausführen.

Warum verschwinden Menschen in Mexiko gewaltsam? Und welche strukturellen Bedingungen begünstigen diese Verbrechen?
Die Situation ist seit 2006 und dem sogenannten Krieg gegen die Drogen eskaliert. Die damalige Regierung von Präsident Felipe Calderón militarisierte das Land, was zu keinem Rückgang der Gewalt geführt hat. Im Gegenteil, es gab einen enormen Anstieg von Morden und Menschenrechtsverletzungen, darunter das Verschwindenlassen. Die beteiligten Akteure und die Motive, die hinter dem Verschwindenlassen stehen, sind vielfältig und komplex. Die organisierte Kriminalität spielt eine wichtige Rolle, aber auch die Sicherheitskräfte, die auf verschiedenen Ebenen an vielen dieser Verbrechen beteiligt sind. Manchmal arbeiten sie mit dem organisierten Verbrechen direkt zusammen, manchmal lassen sie es in bestimmten Regionen operieren, ohne einzugreifen. Das UN-Komitee gegen Gewaltsames Verschwindenlassen hat in seinem Bericht anlässlich seines Besuchs im April 2022 deutlich gemacht, dass es zu einem großen Teil genau diese Sicherheitspolitik ist, die das Verschwindenlassen begünstigt und ermöglicht.

Mit der jüngsten Reform der Nationalgarde wurde die öffentliche Sicherheit noch weiter militarisiert. Die Militarisierung der Sicherheitspolitik ist ein Teil des Problems. Ein weiteres Problem ist die Straflosigkeit. Sie ist einer der wesentlichen Faktoren, die Verschwindenlassen begünstigen. Und das dritte Element ist das Fehlen einer ganzheitlichen Politik, die die verschiedenen Stellen koordiniert, im Bereich der Sicherheit und im Bereich der Bekämpfung des Verschwindenlassens.

Welche Maßnahmen hat die Regierung von AMLO ergriffen, um das Problem zu bekämpfen?
Die Regierung hat die Krise anerkannt. Das war sehr wichtig und wir hatten Hoffnung, dass die Anerkennung auch zu angemessenen Schritten führen würde. In den ersten Jahren dieser Regierung wurden einige Maßnahmen erlassen, die den Eindruck erweckten, dass es in diesem Zusammenhang Verbesserungen geben könnte. Es wurden einzelne Maßnahmen ergriffen, wie die Stärkung der Nationalen Kommission zur Suche nach Verschwundenen, der Sondermechanismus zur forensischen Identifizierung (Mecanismo Extraordinaria de la Identificación Forense) oder die Schaffung des Nationalen Zentrums zur menschlichen Identifizierung (Centro Nacional de Identificación Humana). Diese und weitere Initiativen sind aber eher isolierte Maßnahmen und werden einem ganzheitlichen Ansatz der Politik nicht gerecht. Zudem wurden Maßnahmen erlassen, die in die entgegengesetzte Richtung gehen. Aus unserer Sicht ist die erwähnte Militarisierung eine der besorgniserregendsten Entwicklungen. Die Streitkräfte sind darauf trainiert, den Feind zu bekämpfen. Ein Großteil der Truppe ist weit davon entfernt, die Menschenrechte zu verteidigen, und sie ist auch sehr resistent gegen Transparenz und Rechenschaftspflicht, und Straflosigkeit ist ein großes Problem.

Im August wurde ein Bericht der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa veröffentlicht. Darin wurde die Komplizenschaft zwischen Militärkräften und organisiertem Verbrechen klar benannt. Von 83 ausgestellten Haftbefehlen in dem Fall betreffen nun 20 Militärs. Wie bewerten Sie den Bericht?
Der jüngste Bericht beinhaltet wichtige Elemente. Er zeigt deutlich, wie die Untersuchungen behindert wurden, um sie schnell abzuschließen und die „historische Wahrheit“ zu konstruieren. Es gab eine staatliche Politik, die darauf ausgerichtet war. Und er benennt deutlich, dass aufgrund der Verwicklung verschiedener staatlicher Institutionen von einem Staatsverbrechen gesprochen werden muss. In diesem Sinne ist der Bericht sehr relevant.
Es muss aber gesagt werden, dass dieser Bericht kein Bericht der Wahrheitskommission zum Fall Ayotzinapa ist, sondern nur der ihres Vorsitzenden Alejandro Encinas Rodríguez. Weder andere Mitglieder der Kommission noch Fachleute der GIEI (Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Expert*innen zum Fall Ayotzinapa, Anm. d. Red.) waren an der Erstellung und Bewertung beteiligt. Deshalb sind wir besorgt, dass die Veröffentlichung des Berichts vor allem politischen Gründen geschuldet ist. Familienangehörige haben den Bericht zwar ebenfalls begrüßt, fordern aber eine tiefere Analyse des genauen Tathergangs. Bisher haben sie noch immer noch keine Antwort darauf, wo ihre Söhne verblieben sind.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.


SOFÍA DE ROBINA ist Juristin im internationalen Bereich des Menschenrechtszentrums Miguel Agustín Pro Juárez A.C. (Centro Prodh). Die Organisation setzt sich für die Verteidigung der Menschenrechte ein und begleitet Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen, darunter Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen.
(Foto: Privat)

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren