Aktuell | Literatur | Nummer 561 - März 2021

EINE POLITISCHE THEORIE DES FEMINISTISCHEN STREIKS

Verónica Gagos neues Buch ist ein Manifest mit dem Ziel, alles zu verändern

Pünktlich zum 8. März erscheint Verónica Gagos Für eine feministische Internationale in deutscher Übersetzung. Gago ist einer der großen Köpfe der feministischen Bewegung Argentiniens und zugleich eines ihrer aktivsten Herzen, sie ist präsent auf jeder Demo, moderiert Asambleas, besucht Versammlungen in besetzten Fabriken. Fast, könnte man sagen, ist sie durch ihre aktive Rolle in der Vernetzung der transnationalen Streikbewegungen (siehe LN 526) auch Botschafterin des feministischen Streiks. Ausgehend von einer bestimmten Einzigartigkeit der argentinischen Erfahrung, schreibt die Politikwissenschaftlerin in ihrem aktuellen Buch das auf, was die neue feministische Welle auch über Argentinien hinaus losgetreten hat und gibt den praktischen alltäglichen Erfahrungen der Bewegung einen analytischen Rahmen.

Von Caroline Kim

Foto: Unrast Verlag

Für eine feministische Internationale ist vieles und vor allem eine Hommage an den feministischen Streik. Geschrieben zwischen hitzigen Debatten der feministischen Asambleas, liefert es eine situierte Analyse inmitten eines kollektiven Prozesses, der immer andauert. „Aktivistische Forschung“ nennt Gago ihr Vorhaben, das zu systematisieren und theoretisieren, was in den Versammlungen gemeinsam diskutiert wird und die Praktiken und das Wissen anzuerkennen, das in den Slogans, Aktionen und in der Bewegung selbst verkörpert werden.

Mit dem feministischen Streik als „Linse“ geht die Autorin dem nach, was feministische Handlungsmacht ausmacht, immer geleitet von dem Wunsch alles zu verändern als radikalem Horizont. Der Streik dient ihr als Forschungsfrage, um neu zu definieren, was Arbeit, was Streiken, was Wertproduktion in jeglicher Lebens- und Überlebenssituation bedeutet. Wie kann gestreikt werden, wenn es keinen Lohn oder formellen Arbeitgeber gibt? Wie, wenn niemand mitbekommt, dass ich meine Arbeit niederlege? Wer darf zum Streik aufrufen und wer gehört zur Arbeiterklasse? Wie kann ich streiken, wenn ich gar nicht streiken kann? Gago führt aus, wie die feministische Bewegung in Argentinien den Streik von innen heraus revolutioniert, sich ihn als radikales Instrument angeeignet hat, und wie sie dieses Instrument nutzt, um den aktuellen Herausforderungen der feministischen Bewegung durch ein grundlegendes Problem auf den Grund zu gehen: Der hierarchischen Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion und der damit verbundenen geschlechtlich konstruierten Arbeitsteilung, die die Abwertung und Nicht-Anerkennung feminisierter Arbeit erst ermöglicht.

Anhand verschiedener Beispiele aus der Genealogie argentinischer Kämpfe und aktueller feministischer Bewegungen weltweit (aber vor allem aus Lateinamerika) zeigt die Autorin, wie diese Problematik im Einzelnen angegangen werden kann. Sie zeigt, wie die konstruierten hierarchischen Grenzen zwischen Leben und Arbeit oder Zuhause und Straße durch verschiedene Formen der sozialen Kooperation, gesellschaftlicher oder politischer Anerkennung und kommunitäre Netzwerke in Frage gestellt, manchmal überwunden werden können. Und so feministische Politik gemacht und feministische Geschichte geschrieben werden kann.

Wie kann Reproduktion nicht-ausbeuterisch organisiert werden?

Es sind neue, im Streik aufgekommene Perspektiven auf Ausbeutung, auf Arbeit und auf Körper, auf Macht und auf das Verständnis von Macht, die hier verhandelt werden. Dem zentralamerikanischen Konzept Cuerpo-Territorio widmet Gago dabei als weiteres Analyseinstrument ein ganzes Kapitel. Es entsteht in dem von Frauen angeführten depatriarchalen und dekolonialen Widerstand gegen extraktivistische Ausbeutung, die nicht nur als Wirtschaftsmodus, sondern als politisches Regime verstanden wird, in dem Plünderung, Enteignung und Eroberung zusammenkommen. Die Idee des Körper-Territoriums verknüpft dabei machistische und politische Gewalt durch die Ausbeutung von individuellen und kollektiven Körpern bzw. Gemeingütern. Gago verwendet sie ebenso zur Analyse der argentinischen Abtreibungsdebatte als auch, um eine neue Form der Ausbeutung, einen „finanziellen Extraktivismus“ über die Verschuldung von Haushalten und feminisierter Ökonomien zu erklären.

Die transnationale Komponente zeigt Gago als Neuheit der aktuellen feministischen Bewegung auf, was auch an ihrer Fähigkeit liegt, Nähe zwischen sehr unterschiedlichen Konflikten und Kämpfen zu schaffen, hier Transversalität genannt. Diese Transversalität ist auch das ideologische Vermögen des Feminismus, Masse (trotz Radikalität!) aufzubauen, und über das, was gemeinhin als „die Linke“ erkennbar ist, hinauszugehen. Solidarität zwischen verschiedenen Kämpfen, in der nicht die Wahrung der eigenen Distanz zum anderen Kampf, sondern gerade das Gemeinmachen, die Verbindung unterschiedlicher Erfahrungen (unerwartete) Allianzen hervorruft, spielt dabei eine große Rolle. Eine Stärke der aktuellen Bewegung ist, dass sie dadurch Konflikte einbinden kann, die nicht zuallererst als „feministische“ Belange gelten, also eine feministische Problematisierung aller politischen Räume zu schaffen. Ausbrechen aus dem Gender-Ghetto nennt Gago das, dem einzig „legitimen“ Sprechort von Frauen und Queers als Opfer von sexualisierter Gewalt.

Acht Thesen für eine feministische Revolution als bekömmlicher Einstieg

Dabei macht sie klar, dass die praktischen Dilemmata des Alltags, die in der feministischen Analyse diskutiert werden, zugleich die drängenden Fragen der gesamten Gesellschaft sind. Und sie plädiert dafür, mit feministischer Ökonomie all das in den Blickwinkel zu nehmen, was eigentlich als nicht-wirtschaftlich gilt und damit eine Kritik an patriarchaler politischer Ökonomie zu formulieren. Und dabei nicht simple Gleichheit oder neoliberale Inklusion zu fordern, sondern zu schauen, wie Reproduktion nicht-ausbeuterisch organisiert werden kann und damit die Grundlagen für eine Neuorganisation der Gesellschaft zu schaffen.

Im Wunsch, alles zu verändern, im Begehren nach einem anderen möglichen Leben, liegt eine Radikalisierung, die den Konflikt in jeder einzelnen Alltagssituation anerkennt, aber seinen Zusammenhang mit den großen systematischen Problemen versteht. Es ist dieser Wunsch, der motiviert, gemeinsam zu denken, ohne genau schon wissen zu müssen, was „alles“ bedeutet. Es geht dabei um das Verschieben von Grenzen, der Grenzen dessen, was gemeinsam und in jedem einzelnen Körper als möglich wahrgenommen wird. Es geht um die Neudefinition und Neuerfindung und immer um Ungehorsam, Widerstand und Handlungsmacht als Gegenmacht. Das impliziert auch, (linke) Strukturen von innen heraus zu revolutionieren, den Staat zu fordern, sich aber nicht auf ihn zu verlassen und den Widerspruch zwischen Reform und Revolution aufzuheben.

Im Gegensatz zu all der situierten Analyse im Feld steht die hoch akademische Sprache des Buches, die in der deutschen Übersetzung zwangsläufig noch sperriger wird. Es ist schwer, sich durch manche Kapitel mit komplizierten Sätzen zu wühlen, was schade ist, wenn es doch in dem Buch darum gehen sollte, einen kollektiven Denk- und Austauschprozess weiterzuführen und die akademische Sprache viele Menschen davon ausschließt. Wer es dennoch schafft: Es lohnt sich. Allen anderen sei die Lektüre der im letzten Kapitel zusammengefassten acht Thesen für eine feministische Revolution als Einstieg empfohlen, die die vorangegangenen Ausführungen nochmal generalisieren und sprachlich einfacher bekömmlich sind.

Verónica Gago // Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern // aus dem Englischen übersetzt von Katja Rameil // Unrast Verlag // 2021 // 288 Seiten // 18 Euro

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