Eine Tragikomödie
Die Nachwehen der “demokratischsten Wahlen in der Geschichte Mexikos”
“Tragikomödie” nennt der Schriftsteller José Augustín das Wahlspektakel. Cuauhtémoc Cárdenas, Kandidat der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), der eigentlich der zweite Hauptdarsteller war, muß sich nun mit einer Statistenrolle zufriedengeben geben. Er wird von den Wahlsiegern als der ewige Nörgler, der immer Beleidigte an der Spitze einer frustrierten Linken abgestempelt. Er ist jedoch nicht bereit, die “Geburt der neuen Demokratie” als solche zu bezeichnen, sondern redet, wie schon so oft, von Wahlbetrug.
Diego Fernández de Cevallos, Kandidat der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) zeigt sich hingegen einsichtig und akzeptiert noch in der Wahlnacht, vor Bekanntgabe der offiziellen Ergebnisse, seinen zweiten Platz.
Doch das Bild von weitgehend sauberen Wahlen hat sich inzwischen getrübt. Die mit 60.000 Mitgliedern größte Wahlbeobachterorganisation “Alianza Cívica” stellt die Qualität der Wahlen in Frage. Millionen von MexikanerInnen seien massiv von Regierungsmitgliedern und Gewerkschaften zugunsten der PRI unter Druck gesetzt worden.
Auf dem Land wurden die VertreterInnen der Oppositionsparteien von den Wahltischen verjagt. PRI-Vertreter hätten, so wurde berichtet, den WählerInnen über die Schultern geschaut und Zögernden so manches Mal die Hand geführt. Das Tintenfaß mit der unauslöschlichen Tinktur war oft leer, oder aber sie konnte rasch wieder vom Daumen gewischt werden. Viele MexikanerInnen konnten nicht wählen, weil ihre Namen nicht auf den Listen auftauchten, an ihrer Stelle wählten andere, die nicht auf der Liste standen.
Eine Gruppe von Journalisten wühlte sich im Archiv des mexikanischen Wahlinstituts (IFE) durch die Akten der Stimmabgabe. Ergebnis: bei 30 Prozent der überprüften Dokumente paßten die Daten nicht zusammen. Oppositonsstimmen waren mit Korrekturstift ausgelöscht worden, zwischen Stimmzetteln und Endauszählung klaffte ein Unterschied bis zu 700 Stimmen.
Ein mißlungenes Experiment
Fehlende wissenschaftliche Methoden warfen die Wahlsieger den Journalisten vor. Ein hoher Angestellter des Wahlinstituts versuchte, die Angriffe zu entkräften und seinerseits die Akten zu überprüfen. Nachdem zwei von drei Wahlunterlagen “Unregelmäßigkeiten” aufwiesen, brach er jedoch das Experiment mit dem Hinweis ab, es habe den Verantwortlichen an der notwendigen Schulreife gefehlt oder sie seien schlichtweg müde gewesen.
Der Nationale Rundfunk- und Fernsehrat schickte ein Memorandum an alle mexikanischen Medienstationen mit der Empfehlung, das Wort “Wahlbetrug” aus dem Vokabular der Nachrichtensendungen zu streichen und durch “Unregelmäßigkeiten” zu ersetzen. Man solle die Aktivitäten des PRD-Kandidaten Cárdenas weitgehend ignorieren, ebenso wie jegliche negative Berichterstattung bezüglich der vergangenen Wahlen. In mehreren Bundesstaaten kam und kommt es immer noch zu Protestaktionen von PRD und PAN, Demonstrationen, Straßenblockaden und Besetzungen von Rathäusern. In Chiapas, dem einzigen Bundesstaat, in dem gleichzeitig vorgezogene Gouverneurswahlen stattfanden, haben sich der PRI-Kandidat Eduardo Robledo und der PRDler Amado Avedaño zum Sieger erklärt. Tausende von Bauern halten Farmen und Ländereien besetzt, um gegen den Wahlbetrug an Avedaño zu protestieren, während Sub-Commandante Marcos verlauten ließ, Chiapas würde in einem Blutbad ertrinken, wenn Robledo sich nicht zurückzieht. Hektische Besprechungen zwischen Regierung und Oppositionsparteien, der Friedenskommision und Samuel Ruiz, dem Bischof von San Cristóbal sind an der Tagesordnung angesichts der Gefahr, daß die Situation in Chiapas völlig außer Kontrolle gerät. Aus den sogenannten informierten Kreisen ist zu hören, daß man in Chiapas auf eine Lösung zurückgreifen werde, die in den vergangenen sechs Jahren mehrmals auf Bundesstaatsebene angewendet wurde: eine Übergangsregierung, die im Laufe der nächsten 18 Monate zu Neuwahlen aufrufen muß.
“Säuberung der Wahlen”
Während die “Nationale Demokratische Konvention” an einem Aktionsprogramm des zivilen Widerstands für die nächsten Wochen bastelt, wurde der PAN-Kandidat Fernández de Cevallos von seiner eigenen Parteibasis überholt, die in drei Bundesstaaten von einem massiven Wahlbetrug spricht. Ein Sonderparteitag der PAN ergab, daß an die Wahl jetzt als “nicht demokratisch” bezeichnen werde. Cuauhtémoc Cárdenas rief die militante Basis seiner Partei auf, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er könne sich nicht zum Sieger dieser Wahlen erklären, aber das könne keiner, der poliitsch verantwortlich handelt. Sein Ziel sei es, die Wahlen zu säubern, Beweise zusammenzutragen, um den enormen Wahlbetrug zu dokumentieren, noch bevor der neue Kongress am 1. November seine Arbeit aufnimmt. Eine neugegründete Kommission der Wahrheitsfindung hat sich zusammengesetzt, in der sowohl Ex-Priisten, Mitglieder der PAN, der PRD und unabhängige Persönlichkeiten vertreten sind.
“Säuberung der Wahlen” ist das Schlagwort, das momentan politische Kreise zieht. Der unabhängige Bürgerrat, mit Sitz in dem von der Regierung kontrollierten Wahlrat, drängt – bislang vergeblich – darauf, den Oppositionsparteien alle Wahlunterlagen zugänglich zu machen. “Für zukünftige Wahlen ist es problematisch, wenn wir die heute existierenden Zweifel nicht ausräumen können”, argumentierte Santiago Creél, Mitglied des Rates.
So diskutiert man nicht nur innerhalb der PRD darüber, ob es überhaupt Sinn ergibt, unter den aktuellen Bedingungen an den bevorstehenden regionalen Wahlen teilzunehmen. Es gibt Gruppen im Land, bewaffnet oder auch nicht, die allmählich den Glauben daran verlieren, das politische System mit einem Gang zur Wahlurne verändern zu können, meint einer der Berater von Cárdenas.
Trotz des Wahlbetrugs hätte die PRI gewonnen
Allerdings geht man selbst in den Kreisen der PRD davon aus, daß der Wahlbetrug zwar bedeutend, aber nicht entscheidend für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen war. “Ich bin überzeugt, daß Ernesto Zedillo gewonnen hat, nur nicht mit 49 Prozent der Stimmen”, meint Jorge Castañeda, renommierter mexikanischer Politikwissenschaftler. Er ist nicht allein mit der Auffassung, daß es für die politische Zukunft des Landes gesünder gewesen wäre, auf eine starke Opposition im Kongress und auch im Senat hinzuarbeiten.
Die Frage bleibt, ob der traditionelle Sieg der PRI dem zukünftigen Präsidenten Zedillo Grund gibt, die Reformen durchzuführen, die er während seines Wahlkampfes versprach: Demokratisierung und tiefgreifende Reformen seiner Partei.