Mexiko | Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994

Eine Tragikomödie

Die Nachwehen der “demokratischsten Wahlen in der Geschichte Mexikos”

Die mexikanischen Wahlen sind vorbei: Die Ergebnisse tragen einen offiziellen Stempel. Abgesehen von einigen Unregelmäßigkeiten waren sie sauber, so je­denfalls urteilt die Mehrzahl der ausländischen BeobachterInnen. “Die demo­kratischsten Wahlen in der Geschichte Mexikos” jubelten die Medien und lob­ten das politische Bewußtsein, das rund 80 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen zog. 17 Millionen der 46 Millionen stimmberechtigten Mexikaner ent­schieden sich für “más de lo mismo”, “mehr vom gleichen”, für die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die seit 65 Jahren an der Macht ist. Sie entschieden sich für die politsche und wirtschaftliche Stabilität, für einen Wan­del ohne Risiko, so die Wahlpropaganda. Applaus, auch aus dem Ausland, der Vorhang fällt und die Börse steigt. Ausländische Investoren freuen sich auf die Fortsetzung der Wirtschaftpolitik von Präsident Salinas de Gortari. Regierungs­chefs beglückwünschen Ernesto Zedillo zu seinem Wahlsieg, noch bevor dieser vom neuen mexikanischen Kongreß abgesegnet wird. Kein Wunder, denn sowohl der Kongreß als auch der Senat stehen weiterhin unter der Kontrolle der PRI.

Sybille Flaschka

“Tragikomödie” nennt der Schriftsteller José Augustín das Wahlspektakel. Cuauhtémoc Cárdenas, Kandidat der Par­tei der Demokratischen Revolution (PRD), der eigentlich der zweite Haupt­darsteller war, muß sich nun mit einer Statistenrolle zufriedengeben geben. Er wird von den Wahlsiegern als der ewige Nörgler, der immer Beleidigte an der Spitze einer frustrierten Linken abgestem­pelt. Er ist jedoch nicht bereit, die “Geburt der neuen Demokratie” als solche zu be­zeichnen, sondern redet, wie schon so oft, von Wahlbetrug.
Diego Fernández de Cevallos, Kandidat der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) zeigt sich hingegen ein­sichtig und akzeptiert noch in der Wahl­nacht, vor Bekanntgabe der offiziellen Er­gebnisse, seinen zweiten Platz.
Doch das Bild von weitgehend sauberen Wahlen hat sich inzwischen getrübt. Die mit 60.000 Mitgliedern größte Wahlbeob­achterorganisation “Alianza Cívica” stellt die Qualität der Wahlen in Frage. Millio­nen von MexikanerInnen seien massiv von Regierungsmitgliedern und Gewerk­schaften zugunsten der PRI unter Druck gesetzt worden.
Auf dem Land wurden die VertreterInnen der Oppositionsparteien von den Wahlti­schen verjagt. PRI-Vertreter hätten, so wurde berichtet, den WählerInnen über die Schultern geschaut und Zögernden so manches Mal die Hand geführt. Das Tin­tenfaß mit der unauslöschlichen Tinktur war oft leer, oder aber sie konnte rasch wieder vom Daumen gewischt werden. Viele MexikanerInnen konnten nicht wählen, weil ihre Namen nicht auf den Li­sten auftauchten, an ihrer Stelle wählten andere, die nicht auf der Liste standen.
Eine Gruppe von Journalisten wühlte sich im Archiv des mexikanischen Wahlinsti­tuts (IFE) durch die Akten der Stimmab­gabe. Ergebnis: bei 30 Prozent der über­prüften Dokumente paßten die Daten nicht zusammen. Oppositonsstimmen waren mit Korrekturstift ausgelöscht worden, zwi­schen Stimmzetteln und Endauszählung klaffte ein Unterschied bis zu 700 Stim­men.
Ein mißlungenes Experiment
Fehlende wissenschaftliche Methoden warfen die Wahlsieger den Journalisten vor. Ein hoher Angestellter des Wahlin­stituts versuchte, die Angriffe zu entkräf­ten und seinerseits die Akten zu überprü­fen. Nachdem zwei von drei Wahlunterla­gen “Unregelmäßigkeiten” aufwiesen, brach er jedoch das Experiment mit dem Hinweis ab, es habe den Verantwortlichen an der notwendigen Schulreife gefehlt oder sie seien schlichtweg müde gewesen.
Der Nationale Rundfunk- und Fernsehrat schickte ein Memorandum an alle mexi­kanischen Medienstationen mit der Em­pfehlung, das Wort “Wahlbetrug” aus dem Vokabular der Nachrichtensendungen zu streichen und durch “Unregelmäßigkeiten” zu ersetzen. Man solle die Aktivitäten des PRD-Kandidaten Cárdenas weitgehend ignorieren, ebenso wie jegliche negative Berichterstattung bezüglich der vergange­nen Wahlen. In mehreren Bundesstaaten kam und kommt es immer noch zu Pro­testaktionen von PRD und PAN, Demon­strationen, Straßenblockaden und Beset­zungen von Rathäusern. In Chiapas, dem einzigen Bundesstaat, in dem gleichzeitig vorgezogene Gouverneurswahlen statt­fanden, haben sich der PRI-Kandidat Eduardo Robledo und der PRDler Amado Avedaño zum Sieger erklärt. Tausende von Bauern halten Farmen und Lände­reien besetzt, um gegen den Wahlbetrug an Avedaño zu protestieren, während Sub-Commandante Marcos verlauten ließ, Chiapas würde in einem Blutbad ertrin­ken, wenn Robledo sich nicht zurückzieht. Hektische Besprechungen zwischen Re­gierung und Oppositionsparteien, der Friedenskommision und Samuel Ruiz, dem Bischof von San Cristóbal sind an der Tagesordnung angesichts der Gefahr, daß die Situation in Chiapas völlig außer Kontrolle gerät. Aus den sogenannten in­formierten Kreisen ist zu hören, daß man in Chiapas auf eine Lösung zurückgreifen werde, die in den vergangenen sechs Jah­ren mehrmals auf Bundesstaatsebene an­gewendet wurde: eine Übergangsregie­rung, die im Laufe der nächsten 18 Mo­nate zu Neuwahlen aufrufen muß.
“Säuberung der Wahlen”
Während die “Nationale Demokratische Konvention” an einem Aktionsprogramm des zivilen Widerstands für die nächsten Wochen bastelt, wurde der PAN-Kandidat Fernández de Cevallos von seiner eigenen Parteibasis überholt, die in drei Bundes­staaten von einem massiven Wahlbetrug spricht. Ein Sonderparteitag der PAN er­gab, daß an die Wahl jetzt als “nicht demokratisch” bezeichnen werde. Cuauh­témoc Cárdenas rief die militante Basis sei­ner Partei auf, einen kühlen Kopf zu be­wahren. Er könne sich nicht zum Sieger dieser Wahlen erklären, aber das könne keiner, der poliitsch verantwortlich han­delt. Sein Ziel sei es, die Wahlen zu säu­bern, Beweise zusammenzutragen, um den enormen Wahlbetrug zu dokumentie­ren, noch bevor der neue Kongress am 1. No­vember seine Arbeit aufnimmt. Eine neu­gegründete Kommission der Wahr­heitsfindung hat sich zusammengesetzt, in der sowohl Ex-Priisten, Mitglieder der PAN, der PRD und unabhängige Persön­lichkeiten vertreten sind.
“Säuberung der Wahlen” ist das Schlag­wort, das momentan politische Kreise zieht. Der unabhängige Bürgerrat, mit Sitz in dem von der Regierung kontrollierten Wahlrat, drängt – bislang vergeblich – dar­auf, den Oppositionsparteien alle Wahl­unterlagen zugänglich zu machen. “Für zukünftige Wahlen ist es problematisch, wenn wir die heute existierenden Zweifel nicht ausräumen können”, argumentierte Santiago Creél, Mitglied des Rates.
So diskutiert man nicht nur innerhalb der PRD darüber, ob es überhaupt Sinn ergibt, unter den aktuellen Bedingungen an den bevorstehenden regionalen Wahlen teilzu­nehmen. Es gibt Gruppen im Land, be­waffnet oder auch nicht, die allmählich den Glauben daran verlieren, das politi­sche System mit einem Gang zur Wahl­urne verändern zu können, meint einer der Berater von Cárdenas.
Trotz des Wahlbetrugs hätte die PRI gewonnen
Allerdings geht man selbst in den Kreisen der PRD davon aus, daß der Wahlbetrug zwar be­deutend, aber nicht entscheidend für den Ausgang der Prä­si­dent­schafts­wahlen war. “Ich bin überzeugt, daß Er­ne­sto Zedillo gewonnen hat, nur nicht mit 49 Pro­zent der Stimmen”, meint Jorge Casta­ñeda, re­nommierter mexikanischer Politikwissen­schaftler. Er ist nicht allein mit der Auf­fassung, daß es für die politi­sche Zukunft des Landes gesünder gewe­sen wäre, auf eine starke Opposition im Kongress und auch im Senat hin­zu­ar­bei­ten.
Die Frage bleibt, ob der traditionelle Sieg der PRI dem zukünftigen Präsidenten Ze­dillo Grund gibt, die Reformen durch­zu­füh­ren, die er während seines Wahl­kamp­fes versprach: Demokratisierung und tief­grei­fende Reformen seiner Partei.

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