Chile | Nummer 377 - November 2005

Eingesperrt in Diktatur und Demokratie

Gespräch mit Belinda Zubicueta, Chiles letzter politischen Gefangenen der Pinochet-Diktatur

Es ist früh am Morgen in Santiago de Chile. Belinda Zubicueta hält sich an ihrer Kaffeetasse fest. Sie möchte dieses Gespräch und sie scheut es. Im Mittelpunkt steht die 49-Jährige ungern. Und den Schmerz, der aufbrechen wird, kann auch die Frühstücksidylle nicht mildern. 1986 wurde Belinda Zubicueta als Mitglied der bewaffneten Widerstandsgruppe Frente Revolucionario Manuel Rodríguez während der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990) festgenommen. Was folgten waren Folter, die Stigmatisierung als Kriminelle und ein geheimer Prozess, zu dem nicht einmal ihr Anwalt zugelassen wurde. Ihr drohte die Todesstrafe als Terroristin, dann hieß es lebenslänglich, später erhielt sie 15 Jahre Haft. Der Geheimdienst begann, ihre damals elf- und zwölfjährigen Kinder zu bedrohen, die daraufhin die Mutter und das Land verlassen mussten und in Dänemark aufwuchsen. Das Ende der Ära Pinochet erlebte Belinda Zubicueta 1990 im Gefängnis. Doch es sollte noch vier weitere Jahre dauern, bis sie überhaupt freigelassen wurde. Und erst im vergangenen Jahr erhielt sie, die für die Demokratie gekämpft hatte, ihre Rechte als chilenische Staatsbürgerin zurück. Gegen das „große Monster Gefängnis”, wie sie es nannte, schrieb Belinda mit Gedichten an, die sie damals aus den Mauern schmuggelte. Für die Enttäuschungen der Demokratie jedoch fehlen ihr die Worte. Ein Gespräch.

Antje Krüger

Belinda, als Sie nach acht Jahren aus dem Gefängnis kamen, herrschte in Chile schon Demokratie. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Eindruck?
Ich fühlte mich vollkommen fremd. Diese Gesellschaft und diese Leute waren so ganz anders als ich sie kannte. Niemand grüßte mehr auf der Straße. Im Gefängnis, in Grenzsituationen, hasst der Mensch entweder oder er antwortet mit Liebe. Wir haben uns untereinander sehr geholfen. Als ich dann rauskam, traf ich auf eine völlig desinteressierte und egoistische Gesellschaft. Dieser Individualismus, diese Kälte – das war wie eine Mauer.
Sie sind im Oktober 1994 von Präsident Patricio Aylwin begnadigt und daraufhin entlassen worden.
Begnadigt in Anführungsstrichen. Chile ist das einzige Land in Südamerika, in dem die politischen Gefangenen nicht sofort frei kamen. Wir blieben in den Händen der Militärgerichtsbarkeit, obwohl wir Zivilpersonen waren. Wir haben das überhaupt nicht verstanden. Schließlich haben wir ja dazu beigetragen, dass die Demokratie sich durchsetzen konnte. Aber erst vier Jahre später kam die Begnadigung. Und die musste man beantragen und um Entschuldigung bitten. Ich habe mich lange dagegen gewehrt. Ich hatte mich für nichts zu entschuldigen.

Wieso Begnadigung in Anführungsstrichen?
Uns wurde unsere Strafe nicht erlassen, sie wurde nur umgewandelt. Ich musste wählen – um Asyl im Ausland bitten und eine Einreisesperre für Chile von 12 Jahren erhalten oder während der sieben Jahre Strafe, die noch übrig waren, mich jeden Monat bei der Polizei melden. Viele Mitgefangene haben sich selbst exiliert. Für mich kam das nicht in Frage. Ich blieb ohne Rechte und behielt einen Eintrag im Strafregister wie eine gewöhnliche Kriminelle. Damit hat man allerdings keine Chance, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Viele ehemalige politische Gefangene sind auf diese Weise heute immer noch sozial ausgeschlossen.

Wieso wurden die politischen Gefangenen so behandelt?
Die chilenische Regierung schloss einen Pakt mit den Militärs zu deren Bedingungen. Sie wussten, dass zu Zeiten der Diktatur jeder Vorwand genügte, um jemanden ins Gefängnis zu bringen. Und trotzdem ließen sie aus Angst vor den Militärs zu, dass wir alle nur einer nach dem anderen freigelassen wurden. Das war sehr schmerzhaft für uns. Die Situation erscheint mir auch noch heute völlig surreal und verlogen. Diejenigen, die uns eingesperrt und gefoltert haben, leben auf freiem Fuß, arbeiten sogar als Ärzte oder Lehrer. Wir aber sind nach wie vor stigmatisiert.

Wie erlebten Sie diese Stigmatisierung?
Ich fand keine Arbeit, obwohl ich dank eines Stipendiums aus Dänemark studieren konnte. Erst lernte ich Fremdsprachensekretärin, dann wurde ich Lehrerin. Das war sehr schwer für mich, denn als ich ins Gefängnis kam, hatte ich gerade einmal fünf Jahre die Schule besucht. Den größten Teil meiner Bildung erhielt ich von meinen Mitgefangenen. Wir setzten im Gefängnis das Recht auf Prüfungen durch, so dass ich zu einem offiziellen Abschluss kam. Aber dann bekam ich keine Stelle wegen meines Eintrags im Strafregister. Nicht einmal die Universidad Bolivariana mit ihrer Abteilung für Menschenrechte gab mir eine Chance. Zu vier Vorstellungsgesprächen haben sie mich eingeladen. Eine der Angestellten erkannte mich und meinte: Ah, Belinda, Sie waren doch die letzte politische Gefangene. Sie wurden gefoltert, nicht wahr? Und ich habe ganz naiv davon erzählt, denn ich dachte, hier herrscht Vertrauen. Sie haben mich nie wieder angerufen. Das war ein harter Schlag. Danach blieb mir nur eins: mich noch einmal ihren Bedingungen zu beugen und mich zwei weitere Jahre lang jeden Monat bei der Polizei zu melden, damit auch der Eintrag ins Strafregister gelöscht wurde. Jedes Mal, wenn ich dort war, fragte ich mich zähneknirschend, warum ich mir das antat. Aber es war die einzige Chance, die ich hatte. Im Juli letzten Jahres habe ich meine letzte Unterschrift geleistet. Erst jetzt darf ich wieder wählen und muss nicht mehr durch die Hintertür um Arbeit bitten.

Im letzten Jahr wurde ein Bericht über die Folter in Chile veröffentlicht. Haben Sie dort auch ausgesagt?
Ja, aber ich war froh, dass so viele Compañeros und Compañeras dort waren, die meine Geschichte kannten. So musste ich keine Details erzählen. Die Folter habe ich ganz tief in meiner Erinnerung verschlossen. Was sich mir stark eingeprägt hat, war der Moment, in dem ich das Gesicht meines Folterers gesehen habe. Da spürte ich unwahrscheinlichen Hass und gleichzeitig Mitleid. Das sind kranke Seelen, die sie dafür ausbilden. Ich habe mich immer gefragt, was ich tun würde, wenn ich ihm eines Tages auf der Straße begegnen würde. Ich weiß es nicht. Ich habe das Gedicht „Zärtlichkeit“ darüber geschrieben.
Belinda schweigt kurz und zitiert dann:

Deine Strafe wird es sein
mich lächeln zu sehen,
denn Du konntest mir die Zärtlichkeit nicht
entreißen, die, der du Stromstöße versetzt hast.

Was hat die Veröffentlichung des Berichts gebracht?
Viele Leute wussten bis dahin nicht, was in den Gefängnissen wirklich geschehen ist. Sie waren entsetzt. Jetzt aber ist das für immer in der Geschichte festgehalten. Doch auch diese Situation ist wieder ambivalent, denn die Folterer werden ja nicht strafrechtlich verfolgt. 15 Jahre nach Ende der Diktatur unterwirft sich die Regierung immer noch den Bedingungen der Militärs.

Existiert denn eine reale Bedrohung durch einen Putsch?
Ich glaube nicht, dass die Bedingungen für einen Putsch gegeben sind. Aber er wird als Vorwand genutzt, die Menschen ruhig zu halten. In ihrem Programm hatte die Regierung versprochen, die Verfassung von Pinochet zu ändern oder dessen Privatisierungen rückgängig zu machen. Nichts davon wurde in die Tat umgesetzt, aus Angst vor den Militärs. Und so schwiegen die Menschen. Schließlich sind in der Diktatur ja auch Leute verschwunden, die sich nicht politisch engagierten. Die Angst sitzt tief.
Bleibt nach solchen Erfahrungen nicht Wut auf Ihr Land zurück?
Auf mein Land, nein. Aber auf das System, das in Chile herrscht. Unbewusst habe ich mich immer mehr zurückgezogen. Ich will nichts mehr von all dem wissen. Mein Mann sagt: „Du bist so light geworden“. Das tut sehr weh. Aber ich kann nicht mehr anders. Ich habe alles gegeben. Die einzige Hoffnung, die ich noch habe, sind die Jugendlichen. Deshalb wollte ich auch Lehrerin werden. Ich will nicht diese Jugend, die die Diktatur zurückgelassen hat, die nicht spricht, die keine eigene Meinung hat. Ich habe sie ja selbst erlebt, als ich mit ihnen studierte. Niemand hat dort diskutiert oder widersprochen. Ich aber möchte Kinder erziehen, die kritisch sind, die Fragen stellen und Vorschläge machen. Das ist das Einzige, was mir heute noch bleibt.

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